Dont mess with Nerds

ARIIOOL

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Don’t mess with Nerds, sagte mein Alter immer. Nicht, dass er Ahnung von irgendwas gehabt hätte. Er war weder ein Nerd noch jemand, der wusste, wie es ist, so richtig in die Scheiße zu geraten. Ich schon. Ich stecke bis zur Unterkante der Nase drin, und meine Knie werden allmählich weich. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihn fragen, wie er das gemeint hatte, ob er so ein verdammter Hellseher gewesen war. Aber er hat die Biege gemacht, den Löffel abgegeben, seinem Leben ein Ende gesetzt – so nennt man das taktvoll. Vielleicht war es keine schlechte Wahl, wenn ich es mir aus heutiger Sicht anschaute.

Ich hätte ihn fragen sollen. Bei den wenigen Küchentischgesprächen oder im Flur, wenn er sich den Mantel überstreifte und den Schlüssel wie nebenbei in die Schale fallen ließ, bevor er für Monate verschwand. Seine Sätze hatten diese Proll-Lebensweisheit, halb Witz, halb Drohung. Ich hatte sie abgetan wie Gelaber übers Wetter. Jetzt klebten sie an mir wie Kaugummi an der Turnschuhsohle.

In den letzten Wochen wandelte ich sein Motto ab: I messed with Nerds. Der Satz schwebt nun wie ein neonfarbenes Warnschild nur für mich sichtbar über meinem Kopf. Er flimmert, selbst wenn ich die Augen schließe. Dabei fing alles harmlos an. Harmloser als das Verwechseln einer Pillendose oder ein gehauchtes Ja zur falschen Zeit. Runtergebrochen: Ich zuckte mit dem Finger auf die falsche Schaltfläche:

Ich klaute einem chinesischen Gaming-Clan die Assets. Virtuell … dachte ich. In manchen Online-Spielen ist so etwas fast Disziplin. Die werben regelrecht damit: Vertrau niemandem, bau dir ’ne Community, pass auf, wem du dein Vertrauen schenkst – all so’n Scheiß. Ich schlich mich rein: immer zur richtigen Zeit im Voice, ein passendes „gg, bro“, ein „nice pull“, nie ein „lol“ zu viel. Ich plante Raids, pflegte Kalender, hielt die Stimmung hoch. Langsam verwandelte ich mich vom Nachtschattengewächs in die Schaltzentrale der Gilde.

Es dauerte, bis ich die Permissions für die richtig guten Sachen hatte. Dann war die Gildenbank offen: die seltenen Skins, Mats, Schlüsselkarten – alles hübsch sortiert mit Schloss-Icons. Ein Klick – und alles war meins. Die Schlösser führten einen winzigen Ballettreigen auf und öffneten brav ihre Ärmchen. Ich räumte fett ab und machte es sofort publik. Zwei Wochen war ich der Held in den Foren. Haufenweise DMs von großen Accounts, Memes, „OP!“-Rufe unter Clips. Ein Interview im Magazin „Play-ground“. Ich grinste aus einem anonymisierten Profilbild. Das Leben war schön wie eine frisch entstaubte Grafikkarte.

Dann bröckelte alles. Erst ein Flattern auf der Leitung, dann fror sozusagen der Ladebildschirm ein. Mein Zugang zum Game wurde gesperrt. Grund: keiner. Ich schrieb dem Support ... Worte wie „Versehen“, „verzeihlich“, freundlich, aber bestimmt.

Am nächsten Tag war der komplette Account weg! Drei Jahre Arbeit – Erfolge, Listen, Skins, die man um drei Uhr morgens feierte – weg, als hätte jemand die Platte mit einem Magneten geküsst.

Kurz darauf zog der Provider nach: Kündigung wegen angeblichen Vertragsverstoßes. Router-LEDs, die früher beruhigend blinkten, starrten mich tot an. Kein Internet. Kein Telefon. Kein TV. Schlimmer als Stromausfall; da sah man wenigstens Kerzen in Fenstern. Hier war ich allein. Und immer dieses Gefühl, dass jemand an meinem Leben herumklickte. Ich war hundertpro sicher, dass der chinesische Clan dahintersteckt. Nicht, dass ich was gegen Chinesen hätte – die waren für mich einfach nur die Gegenseite, damals ein leichtes Opfer. Jetzt bin ich es.

Mein Briefkasten füllte sich mit Zahlungsaufforderungen, als hätte jemand ein Abo auf Mahnungen abgeschlossen. Alles dabei: ausstehende Monatsgebühr für Pornhub, Premium-Upgrade für einen Dienst, den ich nicht kenne, Mahnungen für Versicherungspolicen gegen Datenklau und Cyberkriminalität – Witzbolde. Irgendwo lachte jemand. Ich hörte es nicht, ich sah nur Zahlen, Fristen, Drohungen in Schriftgröße 16.

Ich versuchte, mich zu wehren. Prepaid-Handy, bar gekauft, SIM eingelegt, dreißig Minuten Hoffnung. Dann war das Datenvolumen weg, als hätte jemand mit einem Strohhalm daran gezogen. Jemand saugt an meinem Leben wie an einer Sinalco an einem lausigen Augustabend. Ich lud nach, wieder dreißig Minuten, wieder weg. Batteriestand 92 Prozent, Privatsphäre null.

Mein Privatleben klappte zusammen wie ein Turm aus Bierdeckeln. Meine Freundin machte Schluss. Sagt man das so, wenn sie die Wohnung verwüstet und ein Fake-Fick-Foto von mir mit einer anderen liegen lässt? Ich hätte das klären können, aber es kam dicker. Es kam wie ein Armageddon aus tausend präzisen Nadelstichen.

Ich irrte weiter auf der Suche nach mir, verließ zögernd die Wohnung, landete in einer Straßensperre. Vor dem Rathaus demonstrierten Mittelständler: keine krawallige Wut, eher das übliche beharrliche Drängen. Bäckerjacken neben Kfz-Overalls, Steuerberatermäntel neben neonfarbenen Westen. „Mehr digitale Sicherheit!“, „Gebt uns mehr Volumen!“ Echt jetzt? Ein Gabelstapler mit Paletten drängte mich zur Seite und sein Motor brummte wie ein gereiztes Tier.

Die Straße führte am Fluss entlang. Hinter der Absperrung stand die Pagode im Park, rot lackiert, die Dächer geschwungen, die bronzenen Glöckchen wie Fixpunkte gemalt. Bei jedem Windstoß klangen sie leise an, mir fielen meine asiatischen Opfer ein. Zwischen Diesel und Espresso hing ein Hauch Räucherwerk in der Luft, herübergetragen von der Pagode. Ein Mönch in orange starrte mich an, als erkenne er in mir das Prinzip der Kausalität.

Ich suchte die Lücke in der Absperrung, wollte nur rüber auf die andere Seite.
„Ausweis, bitte“, sagte ein Polizist, nicht grob, aber auch nicht freundlich. Ich gab ihm den Perso. Er blinzelte, tippte, wartete. Das Funkgerät knackte. Es sagte etwas, das wie mein Nachname klang und gleichzeitig nicht. Er hob die Braue, seine Stimme bekam einen bedauerlichen Unterton: „Laut unserer Datenbank sind Sie tot.“ Die Glöckchen der Pagode antworteten leise.
„Dann bin ich’s wohl“, sagte ich, und es klang, als müsste ich mich selbst davon überzeugen.
„Schon klar“, sagte er, während sein Blick am Display klebte. Irgendwie kannte mich gerade jeder, nur ... ich war es nicht. Mein Name verheddert sich in falschen Profilen, meine Bilder in fremden Timelines, meine Stimme in Voicemails, die ich nie gesprochen habe. Es fühlt sich an wie ein Fehler 403 – aber für Menschen.
„Ne Menge Leute bekommen noch ne Menge Geld von nem Toten“, philosophierte der Polizist und betrachtete mich neugierig.

Sie nahmen mich mit, zur Identitätsklärung, sagten sie. Auf meinen falschen Namen laufen inzwischen Anzeigen: Abo-Betrug, Einkäufe, die ich nie getätigt habe. Untersuchungshaft, bis die Daten gerade gezogen sind, bis irgendwer entscheidet, wer ich bin.

Jetzt sitze ich hier im Knast vor dir und denke nur an meinen Daddy, an das, was er so von sich gab, mit den vielen losen Schrauben in seinem Kopf.
Die Besuchszeit ist gleich vorbei. Kalter Kunststoffstuhl, Schrauben am Boden, Neonlicht, das Gesichter ausspült. Du gibst diesen Zettel weiter, ja? An irgendeine offizielle Stelle, die meinen richtigen Namen noch in ihren Datenbanken findet. Irgendwo muss er doch noch existieren, zwischen lauter Aliasen und angegriffenen Profilen.

Versprochen?
 

Anders Tell

Mitglied
Hallo Ariiool,
das Schreckensbild, welches Du hier entwirfst, bestätigt alle meine Befürchtungen in Bezug auf die digitale Zukunft. Alles wird ständig unpersönlicher und zwischen Apps und QR -Codes kann man selbst zur fiktiven Gestalt werden. Von einer anonymen Macht zermalmt wie in deiner Beschreibung ist um Klassen heftiger. Mit diesen Ängsten bin ich nicht allein
 



 
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