Draußen regnet es

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kurt leven

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Draußen regnet es
Der Himmel hing für ihn voller Geigen. Er hatte sich Hals über Kopf verliebt. Nichts war mehr so wie früher. Morgens wachte er auf, froh, dass ein neuer Tag begann. Seit drei Tagen schon vermeinte er auf einer Wolke zu schweben. Begonnen hatte es beim Mittagessen in der Mensa. Sie saß mit mehreren gleichaltrigen Studentinnen an einem der Nebentische und schien während des Essens sehr betrübt zu sein. Was war es, was ihr zu schaffen machte? Gerade waren die Klausurergebnisse für Mathematik im Internet veröffentlicht worden. Mit einem Passwort konnte man sich einloggen und seine Beurteilung einsehen. War es das? Bereitete ihr das Ergebnis Probleme? Schon oft hatte er sie in den Seminaren beobachtet. Noch nie hatte sie jenen traurigen Anblick gemacht, den er momentan an ihr wahrnahm. Im Gegenteil: Von ihr ging eine Frische aus, sie steckte mit ihrem Lachen an, wirkte dabei ungemein selbstsicher. Zu den angesprochenen Problemen in den Seminaren trug sie regelmäßig mit ihren Beiträgen ganz wesentlich zur Lösung bei. Er hatte sich öfters gewünscht, er hätte ihre Souveränität und könnte sich ebenso selbstverständlich an Probleme heranwagen wie sie das scheinbar mühelos bewältigte.
Nun saß sie da, starrte auf den Teller vor sich und steckte nur ab und zu eine Gabelspitze des Essens in den Mund. Er glaubte sogar eine Träne in ihren Augen wahrzunehmen, die sie nur mit aller Selbstbeherrschung unterdrücken konnte. Sie war ungemein hübsch, hatte lange blonde Haare, einen sinnlichen Mund, der auch ohne Lippenstift mit einem leichten Glanz versehen war. Gerade dieser Mund hatte es ihm angetan. Schon mehrfach hatte er mitbekommen, wie andere Kommilitonen versucht hatten, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Manchmal klappte es, dass ein solches Gespräch sich noch in der Mensa oder der Cafeteria fortsetzte. Dabei machte sie keinesfalls den Eindruck von Überheblichkeit oder grundsätzlicher Ablehnung.
Aber noch nie hatte er sie abends in einer der Studentenkneipen gesehen, die sich reichlich im Univiertel verteilten. Noch nie hatte er sie abends im Theater oder im Kino gesehen. Was ging ihr da alles verloren, hatte er sich manchmal gedacht. Aber vielleicht fuhr sie ja auch nach Hause. Er fragte sich, ob sie wohl einen Freund hatte und wie er aussehen mochte. Er verwarf den Gedanken an einen Freund so schnell, wie er gekommen war. Er wollte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Vielleicht hatte sie Angehörige, die sie mitversorgen musste. Aber wie konnte das sein, dann hätte sie doch auch tagsüber öfters zu Hause sein müssen. Auch diese Idee verwarf er schnell wieder.
Erneut versuchte sie gerade, eine Gabelspitze der Lasagne vor ihr auf dem Teller in den Mund zu schieben, unterließ es dann aber und räumte stattdessen ein Stück Käse an die Seite. Die anderen Mädchen an ihrem Tisch schienen von den Problemen nichts mitzubekommen. Sie lachten und machten über irgendetwas Witze. Als sie ihre Teller zum Kantinenwagen brachten, blieb sie alleine sitzen. Sie, wer war sie? Wie mochte sie heißen? Er konnte sich nicht erinnern, wie sie im Seminar genannt wurde. Er gab ihr verschiedene Namen. Das Spiel mit den Namen lenkte ihn im Moment ab, doch schon wenig später war er wieder ganz in ihrer Nähe. Das war es: Er wollte ganz in ihrer Nähe sein.
Nachdem auch er seinen Teller fortgebracht hatte, zog es ihn fast automatisch zu ihr hin. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Dabei hörte er sich sagen: „Du siehst traurig aus!“ Nicht so etwas wie: „Darf ich mich zu Dir setzen?“ oder ähnliche Sprüche. Er fiel mit der Tür ins Haus, meinte er.

Draußen hatte es zu regnen begonnen, stellte er im Unterbewusstsein fest. Und er saß bei ihr.
Sie hob ihren Blick und schaute ihn an. Er blickte in wunderschöne Augen, die er noch nie so wahrgenommen hatte. Wie schön und traurig sie waren. Sie wollten etwas erzählen, aber er verstand nicht. Er schaute sie fragend an, doch sie widmete sich wieder ihrem Teller.
„Du siehst traurig aus“, wiederholte er. Dieses Mal antwortete sie: „Weißt Du, ich habe eine schlimme Nachricht bekommen. Und deshalb sitze ich hier und kann nicht essen und nicht fortgehen.“
„Möchtest Du mir sagen, was es ist oder ob ich Dir vielleicht helfen kann?“
„Meine Großmutter ist gestorben. Ich habe sie sehr geliebt“, sagte sie leise „und ich bin nicht bei ihr gewesen.“
Er glaubte, sie verstehen zu können. Er sagte nichts. In solchen Augenblicken war jede Art von Einmischung fehl am Platz. Zu sehr war sie mit ihrer Trauer beschäftigt.
Wie sollte er helfen? Was war zu tun?
„Möchtest Du in ein Cafe mitkommen oder möchtest Du spazieren gehen?“ Mehr fiel ihm spontan nicht ein. „Ich würde gerne einen Spaziergang machen“, willigte sie ein, „vielleicht komme ich dann auf andere Gedanken!“
Draußen regnete es stärker.
Beide hatten ihre Anoraks angezogen, die Kapuzen über den Kopf gestülpt und die Schultern angehoben, um dem widerlichen Wetter zu trotzen. Lange Zeit gingen sie nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. „Weißt Du“, begann sie erneut so, als sei er ein alter Bekannter. „Meine Oma hat mir sehr viel gegeben. Meine Eltern sind bei einem Motorradunfall verunglückt. Mein Vater ist gestorben, meine Mutter sitzt im Rollstuhl. Meine Oma war mir Ersatz in Kindheitstagen, war Freundin und Elternersatz gleichermaßen.“ Sie hatte sich bei ihm eingehakt, so als wolle sie mitgenommen werden auf eine lange Reise in die Vergangenheit und die Zukunft gleichermaßen.
Er sagte noch immer nichts, auch weil er fürchtete, mit jedem Wort etwas Falsches zu sagen oder die Stimmung zu zerstören. Den Regen spürte er nicht mehr.
Nach einiger Zeit fuhr sie fort: „Dass ich nicht bei ihr war, als sie starb, macht mich unglaublich traurig. Wenigstens meine Mutter war bei ihr.“ Jetzt liefen ihre Tränen ungehemmt über ihr Gesicht. Er reichte ihr ein Taschentuch, das einzige, was er tun konnte. Sie ließ seinen Arm los, trocknete sich die Augen und drehte sich zu ihm.
Unendlich traurig legte sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, so als ob er gleichzeitig Fels und Wolle wäre.
In diesem Augenblick hatte er sich unendlich in sie verliebt.
Erst drei Tage war es her, doch er vermeinte, dass es Jahre wären. Sie hatte ihn gebeten, bei der Beerdigung dabei zu sein.
 

Isengardt

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Hallo Kurt,

Am Anfang dachte ich, ich würde einer Art Coming of Age Kurzgeschichte beiwohnen, was es bis zu einem gewissen Grad
vielleicht ja auch ist. Die drückende Stimmung wollte beim Lesen einfach nicht abhanden kommen und, das muss ich sagen,
hat mich sehr berührt. Ich konnte mich gut in die zwei Hauptprotagonisten einfühlen und war sehr angetan von der Art wie
behutsam du mit den Worten umgegangen bist, ohne das Auge für die Details zu verlieren.
Für mich eine sehr gute Kurzgeschichte mit einem traurigem Ende, die für einen gleichzeitigen Anfang stehen könnte.
Fand ich sehr bewegend.

Gruß

Isen
 



 
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