Ein Anfang

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Dididombi

Mitglied
Der Schnee lag bereits einige Tage auf der weiten Lichtung, doch keinerlei Spuren von Hufen, Pfoten oder Krallen zeichneten sich im Licht der einsetzenden Dämmerung ab.
Einen vorsichtigen Schritt wagte der Welpe aus dem spärlichen Unterholz, ließ seine teppichverwöhnte Pfote auf der unbekannten Oberfläche verweilen.
Während im Tal sich nur der Regen sammelte, hatten hier oben Woche um Woche dicke Flocken das Land bedeckt und sich vom Wind zu verspielten Formen verteilen lassen.
Zögerlich folgten die Hinterläufe.
Die Mittagssonne hatte die obersten Lagen, vielleicht zu spät gefallen oder durch eine heimtückische Böe von ihresgleichen losgerissen, mit ihren spärlichen Strahlen übertölpelt. Ihrer einzigartigen Formen beraubt, ließ die einsetzende Nacht jene Flocken zu einer dünnen Eisschicht gefrieren. Doch auch auf Eis hatte der wackere Hund noch nie gestanden. Nichts wusste er über seine Zerbrechlichkeit und so gab er ein erschrockenes Jaulen von sich, als er im Übermut seines ersten Erfolges gleich einen freudigen Satz machte, dessen Ende im welpentiefen Weiß seinen bisherigen Erfahrungen Hohn spottete.
Mathilda und ich lachten. Wir saßen auf dem Stamm einer unter der Last ihres Winterkleides umgestürzten Kiefer und beobachteten den inzwischen unzufrieden kläffenden Mischling. Sein zuvor weiches Fell hing stellenweise in triefenden Zotteln von ihm herab, deren zusätzliches Gewicht seinem Spieltrieb wohl Einhalt gebot.
Wir zerbröselten für die Vögel das restliche Russischbrot, mit dem wir ihn seine Transportbox gelockt hatten, bevor wir uns eilig auf den Heimweg begaben. Ganzjährig legten Mathildas Eltern großen Wert darauf, dass ihre Kinder vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause waren.

Ich lehnte die Box an die Stiegentür und ließ mich auf die alte Eichenbank fallen.
Ich schlüpfte aus meinen schweren Winterstiefeln und kickte sie zur Tür. Der Rechte verfehlte sein Ziel deutlich und fegte stattdessen die Laufschuhe meines Bruders vom Garderobenregal. Der Linke saß dafür umso besser. Die Tür schwang zu und ich hörte die Box die Stufen hinunterrattern. Zufrieden richtete ich mich auf und stellte die Stiefel unter die Heizung. Da hörte ich meinen Bruder aus dem Obergeschoss nach mir rufen.
„Bist du zu Hause?“ – das war die Stimme meines Vaters. „Nein“, erwiderte ich, zugleich an meinen Bruder gerichtet, der in diesem Augenblick zu mir herunterkam und mich erwartungsvoll anblickte. „Hast du Lordschaft gesehen?“ Meine Schwester kam hinterher.
„Nein, ich habe eure Lordschaft nicht gesehen“, antwortete ich überdeutlich, als sei es mir unverständlich, wie sie mein erstes „Nein“ nicht als die kategorische Ablehnung an jedwedes mir entgegenbrachte Ansinnen verstanden haben konnte, die es war. Ich lächelte freundlich.
Tränen schossen in die bereits geröteten Augen meines Bruders. Nun kam auch mein Vater herunter. „Lordschaft ist entlaufen“, erklärte er und ließ einen verständigen Blick über seine Lendenfrucht schweifen.
Ich schüttelte vielsagend den Kopf, während ich mich bückte, um die herumliegenden Laufschuhe aufzuheben und in das Regal zurückzustellen. „Der kommt schon schnell wieder. Bei der Kälte lässt er sich doch ein warmes Ofenplätzchen nicht entgehen“, wuschelte ich meinem Bruder tröstend über den Kopf. „Aber du musst eben auch mal besser aufpassen.“
Nun brach ein Schluchzen aus ihm heraus und er drückte sein Gesicht in meinen Pullover. „Und was wenn nicht?“, fragte er stockend. „Der kommt schon wieder“, probierte sich nun meine Schwester in einer neuen Rolle und streckte ihre Hand ebenfalls nach ihm aus. Wütend schlug er diese beiseite und schrie: „Und wenn nicht, dann ist es deine Schuld!“
Sie öffnete ihren Mund zu einer Entgegnung, doch ich bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen.
Empört wendete meine Schwester sich zu unserem Vater, der unschlüssig am Absatz stand und mit den Schultern zuckte. Sie stürmte an ihm vorbei die Treppe hinauf. Das laute Rumms ihrer Zimmertür begrüßte meine Mutter, die soeben von der Arbeit kam und erschrocken ihre Aktentasche fallen ließ.

Das Abendessen fiel ungewöhnlich still aus. Meiner Mutter, der wir das geschehene Unglück in knappen Sätzen erläutert hatten, wusste zu gut um die Brüchigkeit des vom Rührei meines Vaters vermittelten Burgfriedens. Dies war kein Tag, um mit ihrem üblichen „Und wie war es in der Schule?“ ein Gespräch in Gang zu bringen. Zwischen vereinzelten Schluchzern meines Bruders und dem demonstrativen Schmollen meiner Schwester unterhielten sich meine Eltern gedämpft. Der Hof, von dem Lordschaft kam, hätte im nächsten Jahr gewiss wieder Junge. Ob man mit meinem Bruder schon über Marder sprechen könne? Ohnehin sei mein Vater eher ein Katzenmensch. Ich versicherte sie meiner Bewunderung für ihren Mut, zwei so jungen Kindern wie meinen Geschwistern bereits eine solche Verantwortung zugetraut zu haben.
Eine Hand unter das Kinn geklemmt kratzte mein Bruder mit der Gabel lustlos in seiner halbleeren Schüssel, ihren Inhalt doch vor den gierigen Blicken meiner Schwester schützend. Ich langte hinüber und schnappte mir einen zwiebeligen Brocken, den ich nach kurzem Bedenken meiner Schwester weiterreichte. An einem Tag wie heute würde es noch Nachtisch geben.
„Hör mal auf“, rief sie plötzlich aus, „hör mal auf!“ „Womit?“, fragte mein Bruder gedehnt, während er die Gabel besonders fest über das Porzellan schliff. „Mit Doofsein, du Trottel. Nun hör doch auf“, schlagfertigte sie ihm entgegen. „Selber“, überbot er und warf die Gabel erzürnt in ihre Richtung. Mit einem Reflex, zu dem ich mich innerlich beglückwünschte, fischte ich die Gabel aus der Luft und nutzte sie als Taktstock, um den beiden ein energisches fine zu gebieten. Sie gehorchten.
Ich sprang auf und lief zur Terrassentür, von der ich nun ebenfalls einen schwachen Kratzton vernommen hatte. Mit der kalten Dezemberluft fiel ein völlig entkräfteter Welpe ins Haus. Ich hob ihn hoch, ließ seinen dankbaren Blick ein wenig auf mir verweilen und trug ihn schließlich triumphierend ins Esszimmer. Dort erwarteten mich vier freudige und erleichterte Augenpaare sowie, nachdem meine Geschwister mit einer Decke und dem Fressnapf zum Ofen entschwunden waren, ein doppelter Nachtisch.

Seit diesem Tag stibitzte Lordschaft sich nie wieder Russischbrot von meinem Plätzchenteller.
 



 
Oben Unten