Ein durchschnittlicher Tag

lietzensee

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Ein durchschnittlicher Tag​

Ein durchschnittlicher Tag, nicht besonders herausragend, aber auch nicht wirklich schlecht und ohne große Krisen im Büro. Während sie aus der U-Bahn stiegen, erläuterte Harry die Details seiner Einschätzung des heutigen Tages. Nach der Arbeit gingen er und sein Kollege Dieter manchmal essen und obwohl der Kollege etwas maulfaul war, fand Harry das besser, als Döner allein zu verzehren.
Noch einmal erzählte Harry vom Kaffeeautomaten. Der hatte Mokkafontänen verspritzt, gerade als die Büroleiterin sich eine Tasse holen wollte. Sie war wegen eines wichtigen Meetings in Eile gewesen und hatte sich extra eine weiße Bluse angezogen. Eine lustige Geschichte, fand Harry. Sie warteten vor einer roten Ampel. "Ist irgendwas?", fragte er schließlich. Denn Dieter schien ihm heute merkwürdig, noch stiller als sonst, irgendwie in sich gekehrt. Auf dem Bahnsteig hatte er lange einer Frau beim Geigespielen zugeschaut. Ob er Liebeskummer hatte? Machten ihm die Meldungen in der Tagesschau zu schaffen? Über seine Probleme sprach Dieter nicht. Aber Harry kannte sowas. Wenn man Probleme in sich hineinfraß, wurden sie nur noch schlimmer.
"Nein, alles gut", antwortete Dieter. Die Ampel sprang auf Grün. "Heute habe ich Hunger auf Döner."
Die Dämmerung setzte ein und am Himmel stauten sich Wolken. Das Dönerlokal lag gleich beim Amtsgerichtsplatz. Früher, erklärte Harry, weil er sich für Stadtgeschichte interessierte, hatte sich im selben Gebäude die Kneipe Zum Freispruch befunden. Sie traten in das Lokal ein und Harry wunderte sich, wie genau Dieter seine Bestellung aufgab. Jede Soße ließ er sich erklären und für Rot- und Weißkraut wünschte er eine genaue Mischung. Sonst bestellte er Döner meist nur als mit allem außer Zwiebeln. Harry kannte Dieter. Er kannte ihn so gut, dass ihm Abweichungen von seiner Routine auffielen, aber nicht gut genug, um sein Innenleben zu erraten. Musste er sich auf ein Drama gefasst machen? Während die Fladenbrote im Toaster bräunten, fragte Harry noch einmal. "Ist irgendwas passiert?"
Dieter lächelte. Sein Blick war nicht zu deuten. "Nein", antwortete er, "Es ist ja ein normaler Donnerstag." Dann legte er zehn Euro auf den Tresen und sagte: "der Rest ist für Sie."
Die Dönersoße am Amtsgerichtsplatz war schärfer als anderswo und mit mehr Knoblauch. Harry redete kauend drauflos, weil Dieters Schweigen ihm unheimlich wurde. Als sie aus dem Laden traten, schien ihm ihre Bekanntschaft auf einmal oberflächlich.
Vor der Tür schaute Dieter nach oben. Der Himmel hatte seine Farbe gewechselt und die Wolken schimmerten dunkel. Eine einzelne Taube glitt durch die klare Luft über dem Amtsgerichtsplatz. Dieter war direkt vor der Tür stehengeblieben. Zwei Frauen mit Kopftuch trugen ihre Einkäufe um ihn herum.
"Jetzt verrate schon endlich, was los ist!" Harry wurde wütend. An seinem Gaumen brannte die scharfe Soße.
Da lachte Dieter. "Komisch. Es gibt wirklich keinen Grund." Er zuckte mit den Schultern. "Aber irgendwie bin ich heute glücklich!" Der Döner dampfte in seinen Händen. Er biss genussvoll hinein.
 



 
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