Ein Fall zum Frühstück

EG Shadow

Mitglied
*** Ein Fall zum Frühstück ***

Unzählige zuckende Körper wirkten im diffusen Licht wie ein gigantisches Wesen, das verzweifelt mit dem Tod zu kämpfen schien. Die Luft war heiß und hinterließ auf ihrer blanken Haut einen klebrigen Film. Nebelschleier trugen einen fruchtigen Geruch in den Raum und ihre Schatten wurden durch den flimmernden Boden verzerrt, bevor gleißende Lichter sie endgültig zerfetzten.

Jack löste seinen Blick von der Tanzfläche und starrte in das Glas, welches in seinen Fingern rotierte. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Sie würde nicht mehr kommen – so viel war klar. Über vier Stunden hatte er nun an dieser Bar gewartet – vergebens. Enttäuscht kippte er sich den letzten Schluck des Mixgetränkes in den Mund. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Das Zeug war lauwarm kaum genießbar.

Suchend sah er hinter den Tresen und nickte dem Barkeeper zu. „Noch einmal das Gleiche?“, fragte dieser.

Jack hatte die Worte des Jungen nicht verstanden, konnte sie aber deutlich von seinen schmalen Lippen ablesen. Verschiedene Musikstile, die aus den einzelnen Dancefloors eindrangen, vermischten sich hier mit dem Stimmengewirr zahlloser Menschen zu undefinierbaren, fast rauschähnlichen Klangbildern.

Nach einigen Minuten gab Jack mit einem Fingerzeig dem Barmann zu verstehen, dass er zahlen wolle.

Über sein blasses Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sollten nicht mehr fahren“, sagte er und hob seine schmalen Augenbrauen. Verlegen fuhr er mit den Fingern durch die dunkelblonden, mit Unmengen von Gel nach oben gestylten, kurzen Haare. Schnell zählte er die Scheine, die ihm der Gast gegeben hatte und seine Augen verrieten, dass er mit dem Trinkgeld zufrieden war.

„Ist okay Cheffe“, sagte Jack. Er griff nach seiner Jacke, die über der Lehne des Barhockers hing, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche seiner Jeans und drehte sich in Richtung Ausgang. <Kleine Rotznase>, dachte er, <ich wette du bist noch zu jung, um überhaupt ein Auto zu besitzen.>

Die Jacke über seiner Schulter, kämpfte sich Jack mühsam gegen einen nicht endenden Strom von Neuankömmlingen durch den langen Korridor des Clubs nach außen. Immer wieder wurde er von entgegenkommenden, hungrigen Körpern angestoßen oder gegen die Wand gedrängt.

Als sich die Tür des alten Industriegebäudes endlich hinter ihm geschlossen hatte, holte er tief Luft. Die kühle Nacht tat ihm gut und hatte für den Moment seine Enttäuschung vertrieben. Jack ging die provisorisch betonierte Straße in Richtung Parkplatz. Hinter sich vernahm er immer noch das dumpfe Grollen der Musik. Das riesige Backsteingebäude verschluckte die hohen Töne und ließ nur tiefe Bassschläge nach außen dringen.

Seine Finger suchten in der Hosentasche nach dem Schlüssel, als er vor dem Auto stand. Stirnrunzelnd blickte er auf den zierlichen Gegenstand. <Du hast Recht – Kleiner>, sagte er zu sich selbst. Jack warf den Schlüssel nach oben und fing ihn wieder auf, um ihn in seiner Tasche verschwinden zu lassen. <Durch den Park sind es nur 20 Minuten bis nach Hause. Den Wagen kann ich auch morgen noch abholen.> Er zog sich die Jacke über und ging in die Richtung aus der ihm ein frischer, nach gemähtem Rasen, Holz und Wasser duftender Wind entgegen schlug.

Langsam schälten sich die Umrisse knorriger Eichen aus dem Nebel. Der schwache Schein des Mondes tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht und schien jedem Stein, Strauch oder Baum ein Eigenleben zu geben. Je mehr sich Jack der dunklen Silhouette des alten Parks näherte, umso deutlicher konnte er spüren, dass der Sommer noch nicht gewonnen hatte. Es gab noch kühle, immer schattige Stellen, an denen die wärmenden Strahlen der Sonne gescheitert waren. Hinter seinem Rücken verblassten die Laternen des stillgelegten Industriegebietes.

Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke nach oben und vergrub die Hände in den Taschen. Vielleicht hätte er sich einfach ein Taxi nehmen sollen?

Loser Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er vom Schatten der Bäume verschlungen wurde und in den Wald eintauchte. Der gewundene Weg schien kein Ende zu nehmen. Unzählige Male war ihn Jack Connor schon entlang gejoggt. Aber heute Nacht war irgendetwas anders. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er damit ein ungutes Gefühl, das sich in seinen Gedanken breit machte, vertreiben könnte. <Gott, ich müsste doch bald durch sein. Am kleinen Fischteich vorbei – dann sind es nur noch 10 Minuten und die gute alte Zivilisation hat dich wieder>, dachte er.

Und tatsächlich konnte Jack einen Augenblick später die glitzernde Oberfläche des kleinen Sees sehen. Über dem Wasser waberten Dunstschleier. Sie schlichen unaufhaltsam dem Weg entgegen und griffen wie eisige Finger nach ihm. Der leise Schall seiner Schritte war das einzige Geräusch, in der gespenstigen Stille.

Schmerzend verkrampfte sich sein Herz – dieses geheimnisvolle Echo! … Da war doch noch jemand! Schlagartig drehte er sich um und prüfte die Umgebung. Wurde er verfolgt? Jack konnte niemanden sehen. Aber er hatte doch Schritte gehört. <Du bist ein Vollidiot – das nächste Mal trinkst du etwas, das du erträgst.> Der Alkohol schien ihm die Sinne zu vernebelt zu haben. Entschlossen ging er weiter.

„Jack – nimm mich mit“, ungläubig lauschte der Mann. Jemand flüsterte seinen Namen.

Konzentriert beobachtete er ein weiteres Mal das Gelände. Im Zwielicht des Mondes war es unmöglich, etwas zu erkennen. Aber plötzlich schien sich die gesamte Umgebung zu bewegen. Im Licht und Schattenspiel verzerrten sich die rissigen Stämme der mächtigen Eichen zu seltsamen Geschöpfen, die zu tanzen schienen. Verzerrte Gesichter starrten auf ihn herab und die Schatten des Waldes nahmen bedrohliche Ausmaße an.

Jack Conner spürte wie sich seine Kehle langsam zuschnürte. Blankes Entsetzten hatte seinen Körper gepackt. <Nichts wie weg hier>, schoss ihm durch den Kopf.

Er sah in Richtung Straße, deren Geräusche schon ganz leise zu hören waren und begann zu laufen. In seinem Nacken spürte er einen eisigen Atem. <Du träumst … es ist niemand da … reiß dich zusammen. Mann, wie alt bist denn du eigentlich!> Keuchend rannte er aus dem Wald.

Schon erschienen die erleuchteten Fenster der ersten Häuserreihen in der Ferne. Jack konnte bereits die vom Asphalt erhitzte Stadtluft riechen. <Gott sei Dank>, – Er spürte Erleichterung.

„JACK!“ Der heisere Schrei war ganz dicht an seinem Ohr. Im gleichen Augenblick riss es ihm die Beine weg und Sterne explodierten vor seinen Augen.

Die hektischen Geräusche der Stadt fanden langsam ihren Weg zurück in sein Bewusstsein. Zögernd bewegte Jack Connor die Beine. Seine Gelenke schmerzten von der Kälte, die im feuchten Boden lauerte. Was war passiert? War er gestolpert und hatte sich den Kopf angeschlagen? Er musste ohnmächtig gewesen sein. Mit beiden Händen stütze er sich ab. Er hatte das Gefühl, Bleiplatten in den Jackentaschen zu haben. Kopfschüttelnd rieb sich Jack winzige Kieselsteinchen aus seinen Handflächen. Unter der Last seines eigenen Körpers richtete er sich stöhnend auf und warf einen misstrauischen Blick über die Schulter. Der Wald schwieg. „Jack, Jack, Jack“, keuchte er: „Alter, du stolperst über deine eigenen Beine!“ Er schüttelte grinsend seinen Kopf, bevor er den Heimweg fortsetzte.

Müde schleppte sich Jack die letzten Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Auf dem blanken Steinboden des renovierungsbedürftigen Korridors hallten seine Schritte. Er griff in seine Tasche und suchte den Schlüssel. Das Schloss klickte leise und er trat ein. Erleichtert lehnte er sich an die Wand, nachdem er die Türe sorgfältig hinter sich verriegelt hatte. „Was für ein Tag“, murmelte er kopfschüttelnd. Er schleppte sich zum Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. „Morgen früh werde ich sie fragen, wie lange sie mich noch verarschen will“, murmelte er und ließ sich auf das Sofa sinken. Wenige Minuten später schlossen sich seine schwer gewordenen Lider. Jack war nicht mehr in der Lage, die ihn überkommende Müdigkeit abzuwehren.

*** *** ***

„Jim! Jetzt beeil dich, ich habe Hunger“, fordernd sah Ron in Richtung Bad und hörte, wie das Wasser abgestellt wurde. Eine Sekunde später schob sich Jims Fransenkopf durch die nur spaltbreit geöffnete Tür. Seine nassen Haare klebten ihm in Strähnen auf der Stirn und ließen unzählige glitzernde Wassertropfen über sein Gesicht perlen. Ein Tropfen hatte sich an der Nasenspitze festgesetzt und bebte bei jedem Atemzug.

„Alter“, entgegnete Jim, „wenn du nicht den ganzen Morgen das Bad blockiert hättest, wäre ich auch schon fertig.“

Ron blickte nur ungeduldig über seine Schulter.

„Also schrei hier nicht rum, sondern pack schon mal die Sachen ein.“ Nachdem Sam gesprochen hatte verschwand sein Kopf wieder hinter der Tür, um in der nächsten Sekunde noch einmal hervor zu schnellen: „Und schmeiß deine stinkenden Socken nicht wieder zwischen meine frischen Hemden!“

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür ins Schloss. Ron hörte, wie das Wasser wieder aufgedreht wurde. Tief Luft holend murmelte er: „Ich habe keine stinkenden Socken.“ Auf seinem Bett kramte er orientierungslos in den verstreuten Kleidungsstücken herum und warf sie in seine Sporttasche.

Eine halbe Stunde später verließen die Jäger das heruntergekommene Motel. Als Jim die Beifahrertür des nachtschwarzen Ford Mustang öffnete, fragte er beiläufig: „Wo soll es eigentlich hingehen?“

„Zum nächsten Diner der unseren Weg kreuzt – ich habe einen Bärenhunger“, antwortete der Ältere.
Ron hatte die Stirn in Falten gezogen. Die Sonne zeigte sich wieder von ihrer besten Seite und blendete ihn.

Jim zog unbeeindruckt seinen Kopf ein und schwang sich in den verstaubten Wagen. Fast synchron schlossen sich die Türen mit einem dumpfen Schlag. Unentschlossen wippte der Ford Mustang einige Male hin und her bevor er mit quietschenden Reifen den kleinen Parkstreifen des Motels verließ.

*** *** ***

Lustlos und müde schleppte sich Jack, sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckt, vom nahe gelegen Parkplatz zum kleinen Drive-In Restaurant. Er hatte es über das Wochenende kaum geschafft, sein Auto zu holen. Den Rest der Zeit hatte er komplett verschlafen. Zu jedem Schritt musste er sich mühsam überwinden. Er wurde das Gefühl nicht los, unter dem Gewicht seines eigenen Körpers zu ersticken. Die Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen und drohten ihren Dienst zu verweigern. Beschwerlich schob er sich durch die Pendeltür in den Laden.

„He Jacky – wo warst du gestern? Du hattest doch Dienst!“ Lilly`s fröhliche Stimme stach in seinen Ohren.

„Ich war krank“, murmelte Jack. „Wo warst du denn am Freitag? Wir hatten uns doch verabredet?“
Eigentlich interessierte ihn die Antwort der jungen Frau nicht mehr. Er war zu müde, um sich aufzuregen.

„Tut mir leid“, schuldbewusst suchte Lilly nach einer Antwort und neigte den Blick.

Als er sich an ihr vorbei schob um in die Küche zu gelangen, hielt sie ihn an der Schulter zurück. „Der Boss ist ziemlich sauer auf dich.“ Unerwartet nahm sie ihm die Sonnenbrille vom Gesicht. „Oh Mann – du siehst wirklich schrecklich aus“, flüsterte Lilly. Besorgt sah sie Jack an. Seine matten, blutunterlaufenden Augen sagten ihr genug.

„Ich muss mir was eingefangen haben“, erwiderte Jack und nahm ihr die Brille aus der Hand. Das helle Neonlicht tat seinen Augen weh. „Lässt du mich jetzt durch?“

Bereitwillig machte Lilly den Weg frei. Als Jack in der Küche verschwunden war, ging Lilly zielstrebig zum Tisch, an dem soeben neu angekommene Gäste Platz genommen hatten. „Was darf es denn sein?“, ihre fröhliche Art zauberte ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes in der braunen Lederjacke.

„Ich hätte gern einen Cheeseburger und einmal Ham and Egg.“ Verzückt musterte Ron die junge Kellnerin. Sie strich eine goldblonde Strähne, die sich heute Morgen geweigert hatte in ihren Zopf eingeflochten zu werden, aus ihrer Stirn. Als ein Lächeln um ihre Lippen zuckte, schienen blasse Sommersprossen auf ihrer Nase zu hüpfen.

Das Räuspern von der gegenüberliegenden Seite des Tisches schreckte sie auf.

„Entschuldigung?“

Lilly wandte sich an Jim, der nun seine Hand vom Mund nahm, sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen konnte. „Ich hätte gern Eierkuchen mit Ahornsirup und einen Kaffee Latte – Bitte!“, sagte er und versuchte dabei möglichst ernst zu bleiben.

„Zwei Kaffee - Bitte“, Ron säuselte im charmantesten Ton den er treffen konnte. Lilly nickte verlegen und eilte zum Tresen zurück. Dabei wurde sie verfolgt von Rons begeisterten Blicken.

„RON“, flötete Jim mit erhobenen Augenbrauen. Seine Stimme war zwei Oktaven höher als sonst.

*

Die Gerüche und Geräusche der Küche trieben Jack heute in den Wahnsinn. Er stand am Barbecue-Grill und betrachtete angewidert die brutzelnden Hackfleischscheiben. Das spärliche Frühstück, das er heute Morgen zu sich genommen hatte, drängte plötzlich aus ihm heraus. Mit der Linken winkte er den Küchenjungen zu sich und bat ihn, einen Moment auf seine Hamburger aufzupassen. Der Student wischte sich die Hände am Vorbinder trocken. Erfreut über die willkommene Abwechslung nahm er den Platz am Grill ein, während Jack Connor eilig die Küche verließ.

Nach einigen Minuten kam er zurück. Argwöhnisch betrachtete Jeremy den Koch, der leichenblass aus der Toilette kam und überließ ihm wieder den Platz am Grill. Er selbst kehrte murrend zu seiner Arbeit als Tellerwäscher und Kartoffelschäler zurück.

Ein stechender Schmerz fuhr unerwartet durch Jacks Lunge. Er schmeckte salzigen Schaum und hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde sich zu einem engen Schlauch zusammenziehen. Mit einem gurgelnden Schrei rang er nach Luft und versuchte sich abzustützen. Zischend verbrannten seine Handflächen auf den glühenden Gitterrosten des Grills.

Der gellende Schrei hatte Ron und Jim von ihren Sitzen hochgerissen. Im gleichen Moment flogen die Flügel der Pendeltür auseinander. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte Jeremy aus der Küche. Fassungslos klammerte er sich mit einer Hand an den Tresen und versuchte wild gestikulierend, Lilly etwas zu mitzuteilen. Aber blankes Entsetzten ließ keinen einzigen verständlichen Laut über seine Lippen kommen. Unerwartet rannte er zum Ausgang, geriet plötzlich ins Stolpern und taumelte mit rudernden Armen direkt auf Jim zu, der ihn in letzter Sekunde auffangen konnte. Die Wucht des Aufpralls riss den jüngeren Barker fast um. Mit irrem Blick sah der Gestützte Jim an, befreite sich aus seinem Griff und verschwand wortlos aus der Tür. Überrascht blickten ihm die Brüder nach.

Zögernd trat Lilly an die große Pendeltür zur Küche.
„Jack?“, rief sie nach dem Koch. „He, Jacky, ist alles in Ordnung?“ Nur widerwillig drückte sie die Tür auf und warf einen ängstlichen Blick in den weiß gefliesten Raum. Ihr Verstand weigerte sich augenblicklich, die Bilder vor ihren Augen zu akzeptieren. Lautlos glitt ihr der Colabecher aus der Hand. Die Welt verschwamm und ohnmächtig folgte ihr Körper mit einem dumpfen Schlag dem Plastikbecher, der bereits auf dem Boden kreiste. Eiswürfel klirrten über Fliesen und ein beißender Geruch wehte den Jägern aus der Küche entgegen.
 

EG Shadow

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*** Ein Fall zum Frühstück ***

Unzählige zuckende Körper wirkten im diffusen Licht wie ein gigantisches Wesen, das verzweifelt mit dem Tod zu kämpfen schien. Die Luft war heiß und hinterließ auf ihrer blanken Haut einen klebrigen Film. Nebelschleier trugen einen fruchtigen Geruch in den Raum und ihre Schatten wurden durch den flimmernden Boden verzerrt, bevor gleißende Lichter sie endgültig zerfetzten.

Jack löste seinen Blick von der Tanzfläche und starrte in das Glas, welches in seinen Fingern rotierte. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Sie würde nicht mehr kommen – so viel war klar. Über vier Stunden hatte er nun an dieser Bar gewartet – vergebens. Enttäuscht kippte er sich den letzten Schluck des Mixgetränkes in den Mund. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Das Zeug war lauwarm kaum genießbar.

Suchend sah er hinter den Tresen und nickte dem Barkeeper zu. „Noch einmal das Gleiche?“, fragte dieser.

Jack hatte die Worte des Jungen nicht verstanden, konnte sie aber deutlich von seinen schmalen Lippen ablesen. Verschiedene Musikstile, die aus den einzelnen Dancefloors eindrangen, vermischten sich hier mit dem Stimmengewirr zahlloser Menschen zu undefinierbaren, fast rauschähnlichen Klangbildern.

Nach einigen Minuten gab Jack mit einem Fingerzeig dem Barmann zu verstehen, dass er zahlen wolle.

Über sein blasses Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sollten nicht mehr fahren“, sagte er und hob seine schmalen Augenbrauen. Verlegen fuhr er mit den Fingern durch die dunkelblonden, mit Unmengen von Gel nach oben gestylten, kurzen Haare. Schnell zählte er die Scheine, die ihm der Gast gegeben hatte und seine Augen verrieten, dass er mit dem Trinkgeld zufrieden war.

„Ist okay Cheffe“, sagte Jack. Er griff nach seiner Jacke, die über der Lehne des Barhockers hing, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche seiner Jeans und drehte sich in Richtung Ausgang. <Kleine Rotznase>, dachte er, <ich wette du bist noch zu jung, um überhaupt ein Auto zu besitzen.>

Die Jacke über seiner Schulter, kämpfte sich Jack mühsam gegen einen nicht endenden Strom von Neuankömmlingen durch den langen Korridor des Clubs nach außen. Immer wieder wurde er von entgegenkommenden, hungrigen Körpern angestoßen oder gegen die Wand gedrängt.

Als sich die Tür des alten Industriegebäudes endlich hinter ihm geschlossen hatte, holte er tief Luft. Die kühle Nacht tat ihm gut und hatte für den Moment seine Enttäuschung vertrieben. Jack ging die provisorisch betonierte Straße in Richtung Parkplatz. Hinter sich vernahm er immer noch das dumpfe Grollen der Musik. Das riesige Backsteingebäude verschluckte die hohen Töne und ließ nur tiefe Bassschläge nach außen dringen.

Seine Finger suchten in der Hosentasche nach dem Schlüssel, als er vor dem Auto stand. Stirnrunzelnd blickte er auf den zierlichen Gegenstand. <Du hast Recht – Kleiner>, sagte er zu sich selbst. Jack warf den Schlüssel nach oben und fing ihn wieder auf, um ihn in seiner Tasche verschwinden zu lassen. <Durch den Park sind es nur 20 Minuten bis nach Hause. Den Wagen kann ich auch morgen noch abholen.> Er zog sich die Jacke über und ging in die Richtung aus der ihm ein frischer, nach gemähtem Rasen, Holz und Wasser duftender Wind entgegen schlug.

Langsam schälten sich die Umrisse knorriger Eichen aus dem Nebel. Der schwache Schein des Mondes tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht und schien jedem Stein, Strauch oder Baum ein Eigenleben zu geben. Je mehr sich Jack der dunklen Silhouette des alten Parks näherte, umso deutlicher konnte er spüren, dass der Sommer noch nicht gewonnen hatte. Es gab noch kühle, immer schattige Stellen, an denen die wärmenden Strahlen der Sonne gescheitert waren. Hinter seinem Rücken verblassten die Laternen des stillgelegten Industriegebietes.

Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke nach oben und vergrub die Hände in den Taschen. Vielleicht hätte er sich einfach ein Taxi nehmen sollen?

Loser Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er vom Schatten der Bäume verschlungen wurde und in den Wald eintauchte. Der gewundene Weg schien kein Ende zu nehmen. Unzählige Male war ihn Jack Connor schon entlang gejoggt. Aber heute Nacht war irgendetwas anders. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er damit ein ungutes Gefühl, das sich in seinen Gedanken breit machte, vertreiben könnte. <Gott, ich müsste doch bald durch sein. Am kleinen Fischteich vorbei – dann sind es nur noch 10 Minuten und die gute alte Zivilisation hat dich wieder>, dachte er.

Und tatsächlich konnte Jack einen Augenblick später die glitzernde Oberfläche des kleinen Sees sehen. Über dem Wasser waberten Dunstschleier. Sie schlichen unaufhaltsam dem Weg entgegen und griffen wie eisige Finger nach ihm. Der leise Schall seiner Schritte war das einzige Geräusch, in der gespenstigen Stille.

Schmerzend verkrampfte sich sein Herz – dieses geheimnisvolle Echo! … Da war doch noch jemand! Schlagartig drehte er sich um und prüfte die Umgebung. Wurde er verfolgt? Jack konnte niemanden sehen. Aber er hatte doch Schritte gehört. <Du bist ein Vollidiot – das nächste Mal trinkst du etwas, das du erträgst.> Der Alkohol schien ihm die Sinne zu vernebelt zu haben. Entschlossen ging er weiter.

„Jack – nimm mich mit“, ungläubig lauschte der Mann. Jemand flüsterte seinen Namen.

Konzentriert beobachtete er ein weiteres Mal das Gelände. Im Zwielicht des Mondes war es unmöglich, etwas zu erkennen. Aber plötzlich schien sich die gesamte Umgebung zu bewegen. Im Licht und Schattenspiel verzerrten sich die rissigen Stämme der mächtigen Eichen zu seltsamen Geschöpfen, die zu tanzen schienen. Verzerrte Gesichter starrten auf ihn herab und die Schatten des Waldes nahmen bedrohliche Ausmaße an.

Jack Conner spürte wie sich seine Kehle langsam zuschnürte. Blankes Entsetzten hatte seinen Körper gepackt. <Nichts wie weg hier>, schoss ihm durch den Kopf.

Er sah in Richtung Straße, deren Geräusche schon ganz leise zu hören waren und begann zu laufen. In seinem Nacken spürte er einen eisigen Atem. <Du träumst … es ist niemand da … reiß dich zusammen. Mann, wie alt bist denn du eigentlich!> Keuchend rannte er aus dem Wald.

Schon erschienen die erleuchteten Fenster der ersten Häuserreihen in der Ferne. Jack konnte bereits die vom Asphalt erhitzte Stadtluft riechen. <Gott sei Dank>, – Er spürte Erleichterung.

„JACK!“ Der heisere Schrei war ganz dicht an seinem Ohr. Im gleichen Augenblick riss es ihm die Beine weg und Sterne explodierten vor seinen Augen.

Die hektischen Geräusche der Stadt fanden langsam ihren Weg zurück in sein Bewusstsein. Zögernd bewegte Jack Connor die Beine. Seine Gelenke schmerzten von der Kälte, die im feuchten Boden lauerte. Was war passiert? War er gestolpert und hatte sich den Kopf angeschlagen? Er musste ohnmächtig gewesen sein. Mit beiden Händen stütze er sich ab. Er hatte das Gefühl, Bleiplatten in den Jackentaschen zu haben. Kopfschüttelnd rieb sich Jack winzige Kieselsteinchen aus seinen Handflächen. Unter der Last seines eigenen Körpers richtete er sich stöhnend auf und warf einen misstrauischen Blick über die Schulter. Der Wald schwieg. „Jack, Jack, Jack“, keuchte er: „Alter, du stolperst über deine eigenen Beine!“ Er schüttelte grinsend seinen Kopf, bevor er den Heimweg fortsetzte.

Müde schleppte sich Jack die letzten Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Auf dem blanken Steinboden des renovierungsbedürftigen Korridors hallten seine Schritte. Er griff in seine Tasche und suchte den Schlüssel. Das Schloss klickte leise und er trat ein. Erleichtert lehnte er sich an die Wand, nachdem er die Türe sorgfältig hinter sich verriegelt hatte. „Was für ein Tag“, murmelte er kopfschüttelnd. Er schleppte sich zum Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. „Morgen früh werde ich sie fragen, wie lange sie mich noch verarschen will“, murmelte er und ließ sich auf das Sofa sinken. Wenige Minuten später schlossen sich seine schwer gewordenen Lider. Jack war nicht mehr in der Lage, die ihn überkommende Müdigkeit abzuwehren.

*** *** ***

„Jim! Jetzt beeil dich, ich habe Hunger“, fordernd sah Ron in Richtung Bad und hörte, wie das Wasser abgestellt wurde. Eine Sekunde später schob sich Jims Fransenkopf durch die nur spaltbreit geöffnete Tür. Seine nassen Haare klebten ihm in Strähnen auf der Stirn und ließen unzählige glitzernde Wassertropfen über sein Gesicht perlen. Ein Tropfen hatte sich an der Nasenspitze festgesetzt und bebte bei jedem Atemzug.

„Alter“, entgegnete Jim, „wenn du nicht den ganzen Morgen das Bad blockiert hättest, wäre ich auch schon fertig.“

Ron blickte nur ungeduldig über seine Schulter.

„Also schrei hier nicht rum, sondern pack schon mal die Sachen ein.“ Nachdem Jim gesprochen hatte verschwand sein Kopf wieder hinter der Tür, um in der nächsten Sekunde noch einmal hervor zu schnellen: „Und schmeiß deine stinkenden Socken nicht wieder zwischen meine frischen Hemden!“

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür ins Schloss. Ron hörte, wie das Wasser wieder aufgedreht wurde. Tief Luft holend murmelte er: „Ich habe keine stinkenden Socken.“ Auf seinem Bett kramte er orientierungslos in den verstreuten Kleidungsstücken herum und warf sie in seine Sporttasche.

Eine halbe Stunde später verließen die Jäger das heruntergekommene Motel. Als Jim die Beifahrertür des nachtschwarzen Ford Mustang öffnete, fragte er beiläufig: „Wo soll es eigentlich hingehen?“

„Zum nächsten Diner der unseren Weg kreuzt – ich habe einen Bärenhunger“, antwortete der Ältere.
Ron hatte die Stirn in Falten gezogen. Die Sonne zeigte sich wieder von ihrer besten Seite und blendete ihn.

Jim zog unbeeindruckt seinen Kopf ein und schwang sich in den verstaubten Wagen. Fast synchron schlossen sich die Türen mit einem dumpfen Schlag. Unentschlossen wippte der Ford Mustang einige Male hin und her bevor er mit quietschenden Reifen den kleinen Parkstreifen des Motels verließ.

*** *** ***

Lustlos und müde schleppte sich Jack, sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckt, vom nahe gelegen Parkplatz zum kleinen Drive-In Restaurant. Er hatte es über das Wochenende kaum geschafft, sein Auto zu holen. Den Rest der Zeit hatte er komplett verschlafen. Zu jedem Schritt musste er sich mühsam überwinden. Er wurde das Gefühl nicht los, unter dem Gewicht seines eigenen Körpers zu ersticken. Die Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen und drohten ihren Dienst zu verweigern. Beschwerlich schob er sich durch die Pendeltür in den Laden.

„He Jacky – wo warst du gestern? Du hattest doch Dienst!“ Lilly`s fröhliche Stimme stach in seinen Ohren.

„Ich war krank“, murmelte Jack. „Wo warst du denn am Freitag? Wir hatten uns doch verabredet?“
Eigentlich interessierte ihn die Antwort der jungen Frau nicht mehr. Er war zu müde, um sich aufzuregen.

„Tut mir leid“, schuldbewusst suchte Lilly nach einer Antwort und neigte den Blick.

Als er sich an ihr vorbei schob um in die Küche zu gelangen, hielt sie ihn an der Schulter zurück. „Der Boss ist ziemlich sauer auf dich.“ Unerwartet nahm sie ihm die Sonnenbrille vom Gesicht. „Oh Mann – du siehst wirklich schrecklich aus“, flüsterte Lilly. Besorgt sah sie Jack an. Seine matten, blutunterlaufenden Augen sagten ihr genug.

„Ich muss mir was eingefangen haben“, erwiderte Jack und nahm ihr die Brille aus der Hand. Das helle Neonlicht tat seinen Augen weh. „Lässt du mich jetzt durch?“

Bereitwillig machte Lilly den Weg frei. Als Jack in der Küche verschwunden war, ging Lilly zielstrebig zum Tisch, an dem soeben neu angekommene Gäste Platz genommen hatten. „Was darf es denn sein?“, ihre fröhliche Art zauberte ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes in der braunen Lederjacke.

„Ich hätte gern einen Cheeseburger und einmal Ham and Egg.“ Verzückt musterte Ron die junge Kellnerin. Sie strich eine goldblonde Strähne, die sich heute Morgen geweigert hatte in ihren Zopf eingeflochten zu werden, aus ihrer Stirn. Als ein Lächeln um ihre Lippen zuckte, schienen blasse Sommersprossen auf ihrer Nase zu hüpfen.

Das Räuspern von der gegenüberliegenden Seite des Tisches schreckte sie auf.

„Entschuldigung?“

Lilly wandte sich an Jim, der nun seine Hand vom Mund nahm, sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen konnte. „Ich hätte gern Eierkuchen mit Ahornsirup und einen Kaffee Latte – Bitte!“, sagte er und versuchte dabei möglichst ernst zu bleiben.

„Zwei Kaffee - Bitte“, Ron säuselte im charmantesten Ton den er treffen konnte. Lilly nickte verlegen und eilte zum Tresen zurück. Dabei wurde sie verfolgt von Rons begeisterten Blicken.

„RON“, flötete Jim mit erhobenen Augenbrauen. Seine Stimme war zwei Oktaven höher als sonst.

*

Die Gerüche und Geräusche der Küche trieben Jack heute in den Wahnsinn. Er stand am Barbecue-Grill und betrachtete angewidert die brutzelnden Hackfleischscheiben. Das spärliche Frühstück, das er heute Morgen zu sich genommen hatte, drängte plötzlich aus ihm heraus. Mit der Linken winkte er den Küchenjungen zu sich und bat ihn, einen Moment auf seine Hamburger aufzupassen. Der Student wischte sich die Hände am Vorbinder trocken. Erfreut über die willkommene Abwechslung nahm er den Platz am Grill ein, während Jack Connor eilig die Küche verließ.

Nach einigen Minuten kam er zurück. Argwöhnisch betrachtete Jeremy den Koch, der leichenblass aus der Toilette kam und überließ ihm wieder den Platz am Grill. Er selbst kehrte murrend zu seiner Arbeit als Tellerwäscher und Kartoffelschäler zurück.

Ein stechender Schmerz fuhr unerwartet durch Jacks Lunge. Er schmeckte salzigen Schaum und hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde sich zu einem engen Schlauch zusammenziehen. Mit einem gurgelnden Schrei rang er nach Luft und versuchte sich abzustützen. Zischend verbrannten seine Handflächen auf den glühenden Gitterrosten des Grills.

Der gellende Schrei hatte Ron und Jim von ihren Sitzen hochgerissen. Im gleichen Moment flogen die Flügel der Pendeltür auseinander. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte Jeremy aus der Küche. Fassungslos klammerte er sich mit einer Hand an den Tresen und versuchte wild gestikulierend, Lilly etwas zu mitzuteilen. Aber blankes Entsetzten ließ keinen einzigen verständlichen Laut über seine Lippen kommen. Unerwartet rannte er zum Ausgang, geriet plötzlich ins Stolpern und taumelte mit rudernden Armen direkt auf Jim zu, der ihn in letzter Sekunde auffangen konnte. Die Wucht des Aufpralls riss den jüngeren Barker fast um. Mit irrem Blick sah der Gestützte Jim an, befreite sich aus seinem Griff und verschwand wortlos aus der Tür. Überrascht blickten ihm die Brüder nach.

Zögernd trat Lilly an die große Pendeltür zur Küche.
„Jack?“, rief sie nach dem Koch. „He, Jacky, ist alles in Ordnung?“ Nur widerwillig drückte sie die Tür auf und warf einen ängstlichen Blick in den weiß gefliesten Raum. Ihr Verstand weigerte sich augenblicklich, die Bilder vor ihren Augen zu akzeptieren. Lautlos glitt ihr der Colabecher aus der Hand. Die Welt verschwamm und ohnmächtig folgte ihr Körper mit einem dumpfen Schlag dem Plastikbecher, der bereits auf dem Boden kreiste. Eiswürfel klirrten über Fliesen und ein beißender Geruch wehte den Jägern aus der Küche entgegen.
 



 
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