Ein ganz normaler Morgen

jorunn

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Als sich die Sonne über dem östlichen Horizont zeigte, erwachte im arabischen Viertel der Stadt das Leben. Unterstützt von riesigen Lautsprechern riss der Muezzin Gläubige und Ungläubige aus dem Schlaf.
Jonas hatte ohnehin die ganze Nacht nicht geschlafen. Er sprach andächtig sein Morgengebet, rasierte sich in aller Ruhe, packte seine Tasche und stieg die Treppe hinauf. Im grossen Spiegel neben der Haustür sah er kurz sein Bild. Ein junger Mann in Uniform, die Augen wie Kohlen im blassen Gesicht. Er fühlte sich seltsam nackt ohne den Schnurrbart, den er seit dem ersten Flaum sorgsam gepflegt hatte. Als die Tür hinter ihm zuklappte, riefen die Glocken einer christlichen Kirche zur Frühmesse. Die goldenen Kuppel des Felsendomes strahlte in den Strahlen der noch niedrig stehenden Sonne. Eine Ahnung von Sommerhitze lag in der weichen Luft. Noch waren wenige Autos unterwegs, die ersten Händler zogen geräuschvoll die Läden vor ihren Geschäften nach oben. Eine Militärstreife mit schußbereiter Uzi patroullierte die Strasse entlang.
In einem Cafe spülte er Fladenbrot mit heissem, süssen Pfefferminztee hinunter. Der Hass und die Missbilligung der ausnahmslos arabischen Gäste verdarben ihm gründlich den Appetit. Ein Blick auf die billige Armbanduhr. Noch eine halbe Stunde, bis sein Bus kam. Doch an der Haltstelle wartete bereits eine Handvoll Soldaten, blasse, müde Gestalten, ein paar mit offensichtlichem Kater. Die meisten muffelten schweigend vor sich hin, Zigarette im Mundwinkel oder Kaugummi im Mund. Nur zwei Männer unterhielten sich halblaut. Welche Sprache war das? Russisch?
Jonas hockte sich auf den Boden und zog die Beine an. Seine Hände zitterten, im Magen rumorte das Frühstück. Er hatte Angst, eine andere Angst als Freitags, wenn sie zum Ritual Panzer gegen Steinewerfer antraten. Immer gab es Verletzte, oft auch Tote.
Sein ältester Bruder und einer seiner besten Freunde starben an einem Freitag.
Er dachte an Sarah. Eigentlich dachte er immer an Sarah.
"Ich liebe dich.", hatte sie gesagt und ihn zum Abschied geküsst. Sie war spät dran an diesem Morgen, und sie eilte mit wehendem Rock davon. Sie trug die dicke weiße Strickjacke mit dem komplizierten Muster, an der sie den ganzen Winter über gearbeitet hatte.
Er sah sie niemals wieder.
Jonas versuchte sich abzuleken, beobachtete die Autos, die jetzt immer zahlreicher wurden. Als kleiner Junge hatte er von jedem Modell treffsicher Hubraum und PS nennen können, heute war er froh, wenn er noch die Marke erkannte. Die Wagen in Jerusalem waren neuer und gepflegter als die drüben. Die Strasse sah auch besser aus, nicht so löchrig wie die arabischen Holperposten, über die schon Hunderte Panzer gerumpelt waren und die niemals repariert wurden. Im Sommer zog man eine Staubfahne hinter sich her, und wenn es im Winter regnete, füllten sich die Schlaglöcher mit Wasser. Manch einem Ortsfremden war in diesen Strassen Teichen schon die Achse gebrochen.
Doch in den vergangenen beiden Wintern hatte es kaum geregnet.
Auf den Feldern der arabischen Bauern gab es in diesem Jahr wohl nicht viel zu ernten ausser Staub und Steinen. Nur die Olivenbäume bogen sich unter der Last ihrer Früchte, auf die war imemr Verlaß. Vor einigen Wochen hatten sie ein ganzes Feld dieser Bäume mit Panzern niedergewalzt. Die Besitzer standen daneben und weinten und jammerten, als verlören sie Familienmitglieder.
Das Land wurde gebraucht, um noch mehr von diesen hochmodernen, blendend weissen Häuschen zu bauen, die in die archaische Landschaft passten wie die Faust aufs Auge. Sie waren umgeben von herrlichen, grünen Oasen, hier wurden Rasen und Blumenrabatten gepflegt, die Kinder tummelten sich im Schwimmbecken.
Nicht weit entfernt, in den arabischen Dörfern, war das Wasser abgestellt. Die Brunnen seien leer, lautete die offizielle Begründung. Die ohnehin meist bitteramen Leute mussten jeden Tropfen um teures Geld vom Wasserwagen kaufen.
"Der Bus kommt!", sagte einer der Soldaten.
Jonas stand auf. Er wollte nicht in diesen Bus steigen. Er wollte alles hinwerfen und weglaufen, weit weg von diesem Land, irgendwohin, wo er vielleicht doch eine Zukunft haben konnte. Als Junge wollte er immer nach Australien zu den Kängurus. Doch seine Familie war arm, an ein Studium im Ausland überhaupt nicht zu denken, auch wenn Jonas ein sehr gutes Abitur gemacht hatte.
Doch natürlich tat er das, was er musste.
Der Bus war fast voll besetzt mit Soldaten, die nach dem Sabbat wieder hinaus zu ihren Einheiten fuhren. Jonas ließ sich auf einen freien Sitz fallen, der Herzschlag donnerte in seinen Ohren.
Mit einem kräftigen Ruck fuhr der Bus an, fädelte sich in den Morgenverkehr ein. Jonas sah sich um, blickte in die gleichgültigen Gesichter der jungen Männer. Wurde völlig ruhig. Alles was er noch fühlte, war blanker, erbarmungsloser Hass.
Es war soweit. Zeit zu gehen.
Er fasste sich unters Hemd, so als ob er sich kratzen wollte, schloss die Augen.
"Allahu akbar.", murmelte er leise vor sich hin, den Schlachtruf, der schon tausenden von Kriegern vor ihm den Weg geebnet hatte.
Noch während er seinen Gott pries, zündete er die Bombe.
 



 
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