Ein Kind

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ThomasQu

Mitglied
EIN KIND

Ich stand am Tresen, in einer Bar der einfacheren Sorte. Neben mir ein gutgekleideter Typ, der gar nicht hierher zu passen schien.
Wir blickten uns an, prosteten uns zu und kamen ins Gespräch.
Zuerst belanglos, dann wurde es persönlicher. Ich erzählte ihm, wie mir mein Chef vor ein paar Tagen die fristlose Kündigung überreichte.
Bruno, der Typ, zahlte eine Runde nach der anderen und dann kam auch noch seine Schwester dazu. Sie war hinreißend! Lange, schwarze Haare, bronzefarbene Haut …
Wir fanden sofort einen Draht zueinander. Am auffälligsten waren ihre Augen, grün, mit schlitzartigen Pupillen, wie bei Katzen, oder Reptilien.
Tolle Kontaktlinsen, dachte ich mir.
Karina und ich küssten uns und Bruno stand lachend dabei und klatschte Applaus. Sie sagte, sie wolle in hundert Tagen ein Kind von mir! Als Gegenleistung würde sie mein Leben verändern. Ich müsse mir nur einen Beruf aussuchen und ich würde schnell erfolgreich darin sein.
Was für ein seltsamer Handel, und wir besiegelten unsere Übereinkunft.


Im Stadtpark, auf der Erde liegend, kam ich zu mir. Ich raffte mich mühsam auf, übergab mich heftig und taumelte nach Hause. Immer noch stockbesoffen und ich wusste nicht mehr, an welcher Stelle in meiner Erinnerung die Realität endete, und an welcher der Traum begann.

Was sollte ich jetzt ohne Arbeit mit meiner freien Zeit anfangen? Ich schloss mein Kellerabteil auf und suchte meine Gitarre. Oben in der Wohnung stimmte ich die Saiten nach Gehör. Jahrelang hatte ich das Instrument nicht mehr in Händen. Ich versuchte, mich an die verschiedenen Akkorde und Griffe zu erinnern. “C“, “F“, “G“ … das Bluesschema.
Nach einer halben Stunde gelangen mir die Akkordwechsel schon flüssiger und ich begann, Textzeilen aus mir bekannten Bluesstücken mitzusingen.

Wofür ich früher ein Jahr gebraucht hätte, das brachte ich mir selbst innerhalb der nächsten Woche bei. Jeden Nachmittag saß ich nun im Stadtpark und spielte. Die Menschen blieben stehen, hörten zu und warfen Münzen in meinen Gitarrenkoffer. Ich wurde davon nicht reich, aber ich konnte leben.

Das ging so lange gut, bis - ja bis …
Ich war gerade am Zusammenpacken, als eine ältere, korpulente Frau mit einem Trachtenhut vorbeikam und mir einen Zwanzigeuroschein überreichte. Als ich mich für diese Großzügigkeit bedanken wollte, bemerkte ich ihre tiefgrünen Augen mit den schlitzartigen Pupillen. „Du erinnerst dich an unseren Handel? Hundert Tage!“, raunte sie mir zu und ging weiter.
Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder. Ich hatte diesen seltsamen Barbesuch schon fast vergessen, doch jetzt kam alles zurück in mein Bewusstsein. “In hundert Tagen ein Kind“!
Was für eine Schnapsidee, dachte ich mir damals, eine Schwangerschaft, die nur hundert Tage dauern soll? Ohne Sex?

Von nun an spielte ich nicht mehr im Park! Ich zog abends mit meiner Gitarre durch die Kneipen in der Altstadt, spielte drei oder vier Songs, ließ meinen Hut herumgehen und wanderte weiter in die nächste. Einmal glaubte ich auch hier, bei einer Frau im Publikum Schlitzpupillen erkannt zu haben, aber ich war mir nicht sicher.

Nach drei Wochen Kneipentour sprach mich ein Schlagzeuger an. Sie hätten nächste Woche einen Auftritt bei einem kleinen Musikfestival in der Nähe. Sein Gitarrist wäre ihm aber kurzfristig abhandengekommen und ob ich nicht einspringen könne. Wir probten das Repertoire ein und auf einmal war ich Frontmann einer Bluesband. Bass, Schlagzeug, Gitarre.

Es war ein kometenhafter Aufstieg in kurzer Zeit und irgendwie ging mir alles viel zu glatt!
Ich ertappte mich dabei, dass ich mich manchmal nicht traute, anderen Menschen in die Augen zu schauen, aus Angst, wieder Schlitzpupillen zu entdecken. Ich wusste nicht einmal, wann dieser hundertste Tag sein sollte, weil ich mich nicht mehr ganz genau an das Datum dieses Barbesuches erinnern konnte.

Der Gig lief super, das Publikum tanzte bis in die hinteren Reihen und der Konzertveranstalter stellte weitere Auftrittsmöglichkeiten in Aussicht.
Eine Woche später, ich saß nach einem anstrengenden Tag im Übungsraum zuhause beim Abendbrot, klopfte es an meiner Tür. Draußen stand Karina! Die Iris ihrer Augen war blutrot!
Ich erschrak und stand da wie angewurzelt.
Genau heute in einer Woche wäre der hundertste Tag, teilte sie mir mit, dann käme sie wieder und wolle das Kind mitnehmen!
Ich fragte sie, ob sie verrückt geworden sei und woher ich denn ein Kind nehmen solle!
Das wäre eben meine Sache und ich würde schon sehen, wie es mir erginge, wenn ich meinen Teil der Vereinbarung nicht einhalten würde.

Am nächsten Morgen bekam ich einen kleinen Vorgeschmack davon. Ein Dachziegel, der sich gelöst hatte, verfehlte mich so knapp, dass ich dessen Luftzug spürte, als er an mir vorbeiflog und auf dem Bürgersteig in tausend Stücke zerbrach. Die Probe im Übungsraum musste ich schon nach wenigen Minuten abbrechen. Meine Gitarre fühlte sich vollkommen fremd an, als hätte ich noch nie gespielt und später, auf dem Heimweg, hätte mich fast ein Auto überfahren.

Jetzt war mir klar, das Spiel war ernst, todernst! Als ich am Nachmittag bei der Kassiererin im Supermarkt Schlitzpupillen entdeckte, war ich am Ende mit meinen Nerven. Ich meldete mich bei meiner Band ab, blieb zuhause und grübelte verzweifelt nach einem Ausweg aus meiner Situation!

Meine Musikerkarriere? Die wäre mir egal gewesen. Die Angst war es! Diese übermächtige Angst vor Karina und vor ihren Augen, unter denen ich mich so klein und schutzlos, so verletzlich fühlte.
Tagsüber saß ich wie versteinert am Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, nachts tigerte ich ruhelos durch meine Wohnung. Wie es dem Kind bei ihr ergehen würde, das wagte ich mir gar nicht auszumalen.

Am Tag der Übergabe mietete ich mir einen unauffälligen Wagen und schraubte andere Nummernschilder an. Ziellos fuhr ich durch die Stadt, durch Wohngebiete, an Schulen und Kindergärten vorbei, bis ich das passende Opfer erspähte. Ein vierzehnjähriges Mädchen, das auf dem Bürgersteig einen Kinderwagen schob.
Ich setzte meinen Wagen in eine Parklücke und wartete, bis sie auf gleicher Höhe mit mir war. Jetzt stieg ich aus und ging auf sie zu. Überrascht wandte sie sich um und sah mich an.
Mit voller Wucht schlug ich ihr die Faust ins Gesicht, griff in den Kinderwagen und holte den Säugling heraus, der sofort anfing, heftig zu schreien.
Ich legte den kleinen Jungen in den Beifahrerfußraum, breitete locker eine Decke über ihm aus und machte mich auf den Weg nach Hause. Nach wenigen Minuten verstummte er, vermutlich war er durch das Fahren wieder eingeschlafen.
In der Decke eingewickelt trug ich ihn hoch in meine Wohnung und legte ihn auf den Fußboden.

Drei Stunden später klopfte Karina an meine Tür, dieses Mal mit schneeweißen Augen. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich sie sah. Sie folgte mir grußlos in mein Wohnzimmer und ich übergab ihr den weinenden Jungen. Beim Hinausgehen raunte sie mir noch zu, dass sie in hundert Tagen wiederkäme und das nächste Kind abholen würde.
Tränen liefen mir über die Wangen, als ich zum Fenster hinausblickte und schauen wollte, wie Karina das Haus verließ. Doch sie erschien nicht! Als hätte sie sich im Treppenhaus in Luft aufgelöst. Jetzt begann ich, hemmungslos zu schluchzen.

Am nächsten Morgen las ich in der Zeitung, dass die Vierzehnjährige durch meinen Schlag einen Jochbeinbruch erlitten hatte. Bei ihrem anschließenden Sturz sei sie mit dem Kopf hart auf dem Pflaster aufgeschlagen und seither liege sie im Koma. Es gäbe zwar Zeugen, die den Vorfall aus der Entfernung beobachtet hätten, deren Aussagen wären aber nicht übereinstimmend.

Inzwischen probte ich wieder mit meiner Band und mein Spiel hatte sich noch einmal deutlich verbessert. Nach einigen weiteren Auftritten kam ein Produzent auf uns zu und bot uns einen Vertrag an. Die nächsten Wochen verbrachten wir im Studio und spielten Songs für eine CD ein.

Trotz des Erfolges war ich der unglücklichste Mensch auf der Welt, wusste ich doch, dass dieser künstlich herbeigeführt war. Von unheimlichen Mächten protegiert und auf einem schweren Verbrechen beruhend, das ich begangen hatte.
Auf der Bühne und im Übungsraum produzierte ich die unglaublichsten Riffs, kaum stand die Gitarre im Eck, wurde ich von Panik und Albträumen gepackt und geschüttelt. Die wurden umso schlimmer, je näher der “Hundertste Tag“ in Sichtweite kam. Dieses Mal kannte ich den Termin genau.

Selbst, als ich zum ersten Mal einen Song aus unserer CD im Radio hörte, konnte mich das nicht aus meiner Verzweiflung reißen. Mein Leben war nur noch erträglich, wenn ich Gitarre spielte und nicht einmal ich konnte vierundzwanzig Stunden am Tag spielen.

Irgendwann rief mich mein Produzent an und erklärte, dass er uns bei einem großen Open-Air-Event untergebracht hätte, das in drei Wochen stattfinden sollte. Wir würden dann vor vielen tausend Leuten spielen. Ich nahm das mit Gleichmut hin. Es war mir inzwischen egal, ob ich vor fünfzig oder tausend Menschen spielte. Außerdem, zwei Tage vorher war der “Hundertste Tag“, der meine Gedanken ungleich mehr beschäftigte. Beschäftigte? Dominierte!

Ich lenkte mich ab durch Überstunden im Proberaum und spielte in der kurzen Zeit mein zweites Album ein. Nur meine beiden Mitspieler mussten ihren Part noch auf das Band bringen.
Drei Monate hatte ich nichts von Karina gehört, keine schlitzförmigen Pupillen gesehen und dennoch … Mich packte das Grauen! Vor ihr, vor mir selbst und vor dem, was ich zu tun gedachte.

Die Leute in der Stadt waren nach meinem ersten Kindsraub vorsichtig geworden. Ein Täter war noch nicht gefasst und könnte jederzeit wieder zuschlagen. Somit versuchte ich mein Glück in der Peripherie und fuhr durch einige Dörfer, die sich im Umkreis befanden.
In einer ruhigen Seitenstraße bemerkte ich einen etwa vierjährigen Jungen, der alleine im Garten spielte, nahe am Zaun. Ich bremste und fuhr rechts ran. Den musste ich im Auto womöglich ruhigstellen, aber warum sollte das nicht gelingen? Ich stieg aus und ging auf ihn zu. Als er mich erblickte, wandte er sich ab und lief ins Haus.

Später sah ich dann auf dem Radweg neben einer schmalen Landstraße eine Frau, mit einem viel kleineren Kind in einem Sitz vor ihrer Lenkstange.
Ich gab Gas, bog nach einem Kilometer rechts ab in einen Feldweg, stieg aus und wartete. Als die Radfahrerin nahe genug war, stellte ich mich ihr in den Weg.
Sie bremste heftig, schrie mich an, ob ich denn noch alle Tassen im Schrank hätte und brachte ihr Fahrrad knapp vor mir zum Stehen.
Ich ging den letzten Schritt auf sie zu, klemmte das Vorderrad zwischen meine Knie, nahm das Messer aus meiner Tasche und stach auf sie ein!
Einmal - zweimal - dreimal … ich weiß nicht mehr, wie oft.
Erst krümmte sie sich, dann sank sie blutüberströmt und wimmernd seitlich zu Boden. Ich löste den Haltegurt, hob das Kind aus dem Sitz und wandte mich um in Richtung meines Wagens. Das Fahrrad fiel scheppernd auf ihren Körper.
Ich legte das Kind in den Kofferraum, packte die Schwerverletzte an den Armen und zog sie mitsamt dem Fahrrad ein Stück in den Wald hinein.

Zur erwarteten Zeit klopfte Karina an meine Tür und nahm das Kind auf den Arm, das jetzt verweinte Augen hatte. Ihre Pupillenschlitze waren höchstens einen Millimeter schmal.
Bis zum nächsten Mal, in hundert Tagen, sagte sie nur.
Auf den Blick aus dem Fenster verzichtete ich. Ich saß einfach nur da, regungslos, starrte die Wand an und ließ das Ticken der Uhr über mich ergehen.

Ja, was soll ich noch sagen, ich spielte das Konzert meines Lebens und die Fans gingen tierisch ab. Dabei war ich nicht mal bei der Sache, alles ging von selbst. Ich spielte wie ferngesteuert!
Nach dem Auftritt erklärte ich meinen Begleitmusikern, dass ich aufhören wolle und dass sie das neue Album noch fertigstellen könnten, wenn sie Lust dazu hätten.

Noch am gleichen Tag stellte ich mich der Polizei!

Nun sitze ich hier in der Geschlossenen, zugeknallt mit Medikamenten! Gleich kommen zwei kräftige Pfleger, die werden mir die Arme fixieren und mich in ein Arztzimmer führen. Man will mich einem Psychologen aus England vorstellen, der extra angereist ist. Auch dem muss ich dann meine Geschichte erzählen.
Mal schauen, ob Karina mich hier besucht, oder ob der Doktor schlitzförmige Pupillen hat.
 
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