Ein letzter Abschied

Es schien ein kleines Loch in ihr empfindsames Herz zu reißen, als er ihr von den neuesten Geschehnissen berichtete. Es war ein seltsames Gefühl, noch einmal hier zu stehen. Vor dieser vertrauten Person, an diesem vertrauten Ort. Ein letztes Mal. Sie lächelte, doch man musste bei ihr stets unterscheiden zwischen dem echten und dem gespielten Lächeln. Meistens, das war die traurige Erkenntnis, handelte es sich um das gespielte Lächeln. Etwa wenn man sie fragte, wie der Tag war. Die Schule. Oder wie es Zuhause mit den Eltern lief.

„Du musst wirklich gehen?“ fragte sie, als könnte sie mit dieser Frage noch irgendetwas ändern. Etwas ändern an einer Tatsache, für die er nichts konnte. Es war von Anfang an klar, dass sie – seine Eltern und er – eines Tages wieder umziehen würden. Der Beruf des Vaters ließ es nicht anders zu. Nur waren es hier ungewöhnlich viele Jahre gewesen und daher die naive, kindliche Hoffnung gewachsen, die Heimat gefunden zu haben. Und die Liebe. In den wenigen Lebensjahren, die sie beide damals hatten. Sie mochten den Begriff nicht ganz verstanden, seine Bedeutung nicht wirklich realisiert haben. Aber sie empfanden es sehr wohl als Liebe. Auf ihre Weise.

Als sie das erste Mal vor ihm stand war sie eine Fremde. Ein Eindringling an seinem Lieblingsort. Einem maroden alten Spielplatz außerhalb des Dorfes. Viel gab es nicht mehr. Ein verrostetes Klettergerüst, eine von Jugendlichen zerstörte Tischtennisplatte und die Überbleibsel einer Schaukel, von deren Benutzung strikt abzuraten war. Aber der Ort war einsam, weit ab von allen anderen. Umgeben von Bäumen, die den Blick auf die nahen Häuser verdeckten. Der perfekte Ort für einen Jungen, der allein sein wollte. Nach der Schule, den Beleidigungen und Schlägen. Als sie ihn eines Mittags beiseite zogen und selbst dann noch auf ihn einschlugen und traten, als er bereits am Boden lag. Blaue Flecken, blutige Nase, Platzwunden. Der Idiot war am Ende war immer er. Denn was sollte man tun, in diesem kleinen Ort. Als Hinzugezogener? Die Lehrer der winzigen Schule waren mit den Eltern eben jener Schläger seit Kindertagen befreundet. Wer also der Schuldige war und angefangen hatte – Die Antwort stand schon lange vorher klar. Wie beim Schauprozess in einer Diktatur. Wieso er es nie Zuhause sagte, blieb wohl eines dieser Dinge, die nur ein Jugendlicher Kopf verstand.

Als er eines Tages nach der Schule an seinem einsamen Ort war und entdeckte, dass er eben NICHT einsam sein würde, stieg zuerst Wut in ihm auf. Wer war dieses Mädchen, dass sich erdreistete, ausgerechnet HIER zu sitzen? Er wollte sie anschnauzen, sie zurechtweisen und fortschicken, als hätte er dieses Stück Land für sich gepachtet. Doch als er es tun wollte blickte sie ihn an, lächelte und ließ all die Wut in seinem Halse stecken bleiben. Sie trug schwarze Klamotten, durch die ihre weiße Haut noch bleicher wirkte, als sie es ohnehin schon war. Beinahe zerbrechlich, so zierlich und schlank. Ihre blonden Haare waren leicht gelockt und mit einer Schleife verziert, als würde gleich auf eine besondere Festivität gehen. Er würde lernen, dass sie eigentlich immer so aussah, gerne aus der Reihe fiel. Ihr Lächeln hatte etwas offenes, etwas unvoreingenommenes. Anders als die wertenden und beinahe abfälligen Blicke, die man auf dem Schulhof im Dorf erhaschen konnte. Sie durchbohrten dich beinahe. Und fällten in ihrem Kopf ein Urteil, noch bevor sie dich überhaupt kannten. Ein Urteil so eisern, dass keine spätere Tat von dir es je verändern könnte. Doch nicht bei ihr.

„Ja, ich muss“ antwortete er knapp und versehentlich sehr abweisend wirkend. Sie nickte, gab einen lauten Seufzer von sich und blickte ihn an. Ihre Augen hatte er stets als „Blau wie das schönste Meer“ beschrieben. Schön waren sie, ja. Aber unsagbar traurig. Immer. Ihre Maske der Fröhlichkeit war perfekt, nur ihren Blick konnte sie nie ganz verschleiern. Fast jeden konnte sie damit zum Narren halten. Das fröhliche, aufgeweckte Kind. Es existierte nicht. Es war nur eine Rolle. Perfekt gespielt von einem zerbrechlichen Gemüt. Er selbst erkannte es vermutlich nur, weil sie es zuließ. Es vielleicht sogar wollte, dass irgendjemand sie durchschaute. Sie hatten sich kennengelernt, Parallelen gezogen. Bei ihr eine andere Schule, doch dieselben Sorgen. Nur hatte er im Gegensatz zu ihr zumindest eine liebende Familie. Sie stand allein, was vermutlich der Grund für ihre Reife war. Sie war es meistens, die ihm Ratschläge gab. Wie er das Leben bestreiten sollte. Er war für sie in dieser Hinsicht keine große Hilfe. Beide gleicher Jahrgang, aber doch so weit auseinander.

Sie lächelte, doch ihre Augen wurden langsam glasig. Sie nahm seine Hände, presste sie an sich.

„Du wirst mich doch besuchen, nicht wahr?“ sprach sie fast schon flüsternd. Er nickte. Mit dem Auto war die Strecke zwischen hier und dem neuen Wohnort in einer Stunde zu schaffen.

„Ja, natürlich!“

Sie seufzte, als hätte sie nur auf diesen Satz gewartet. Ihr Kummer schien ein wenig gemildert, seiner kein bisschen. Er hatte nie einen Mensch wie sie kennengelernt. Und würde es wohl auch nie. Innerlich zerbrach er, während er in ihr hübsches Gesicht blickte. Nur wollte diesmal ER derjenige sein, der stärker blieb. Es hätte ihr nur noch mehr das Herz zerbrochen, welches ohnehin von Narben übersäht war. Er blickte sie an. Dünn war sie geworden, die letzten Wochen. Und irgendwie stiller. Weg war es, das redselige und offenherzige Mädchen der Anfangszeit. Sie war in sich gekehrt, nachdenklich und manchmal wie abwesend. Sprach seltener von Zuhause, dafür umso öfter über ihn und seine Sorgen. Wie zur Ablenkung. Doch es ging ihr gut, den Umständen entsprechend. Behauptete sie. Aber dieselbe Lüge hatte er ja selber jeden Tag allen Menschen entgegnet, die ihn nach seinem Befinden fragten. Und sie beherrschte dieses Spiel ja sowieso meisterhaft.

Sie seufzte noch einmal, ehe sie an ihren Hals griff und eine Kette mit einem kleinen Herzanhänger abnahm, den sie gerne trug. Sie nahm seine Hand, öffnete sie und legte das Schmuckstück in die Handfläche.

„Damit du an mich denkst. Und ich immer bei dir bin!“ sprach sie lächelnd. Da war sie wieder, die Person von früher. Dasselbe Lächeln wie beim ersten Treffen. Die strahlenden Augen, die liebevolle Art. Für einen kurzen Moment. Ein Aufflackern, ehe ihr Ausdruck wieder zerfiel wie eine Halluzination.

„Ich liebe dich!“ entgegnete er mit bebender Stimme, ohne wirklich diese Aussage definieren zu können. Er wollte es einfach nur sagen. Wenn nicht ihr, wem dann? Sie nickte, ehe sie ihn in ihre Arme schloss.

„Ich weiß, kleiner Trottel!“

Er lachte. Sein Spitzname bei ihr, seit er doch einmal die marode Schaukel auf dem Spielplatz benutzt hatte. Trotz ihres Protestes. Vermutlich wollte er „cool“ sein, etwas in der Art. Stattdessen jedoch flog er nach ein paar Sekunden mitsamt dem Sitz aus der Verankerung und landete in der nächstbesten Hecke. Sie versicherte ihm, wie sehr sie sich in diesem Moment um ihn sorgte. Auch wenn sie in Wahrheit schallend lachte.

„Ich dich auch. Bis bald!“ waren die Abschiedsworte des Mädchen, dem er so viel zu verdanken hatte. Gespräche, Trost, Inspiration. Ihre Gedichte, die sie so gerne und schon so meisterhaft schrieb.
Sie wusste wohl, dass sie krank war. Aber wie bei all ihren Problemen, Sorgen und Rückschlägen in ihrem Leben wollte sie wohl auch diese Sache mit sich alleine klären. Und stattdessen stark sein. So gut und so lange es ging. Im Jahr darauf war sie fort, für immer. Noch bevor er sein versprechen halten, sie besuchen konnte. Er erfuhr es aus einer kleinen, lieblosen Anzeige in der Zeitung. So schnell ein Mensch in ein anderes Leben treten kann, so sehr er es verändern und bestimmen kann, so zerbrechlich ist auch alles.

Es gibt Menschen, die diese Welt ein klein wenig schöner machen. Selbst dann, wenn ihre Zeit im Leben nur kurz währte. Man muss nur genau hinsehen. Manchmal sind es nichts als Erinnerungen. Worte. Liebe. Was auch immer das sein mag.
Oder eine Kette mit einem kleinen Herzanhänger.
 



 
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