Ein letztes Mal

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JonaLupin

Mitglied
Mein Schwiegervater schaut mich niemals an. Seit einem Jahr steht er jeden Freitagvormittag vor meiner Tür und schafft es dabei mir nie in die Augen zu sehen. In seiner großen Hand eine Plastiktüte – in der Tüte jede Woche das Gleiche. Eine schwere Tupperdose voll mit Cholent, der fettige, wunderbare Eintopf der europäischen Juden. Er stellt die Tüte vor meine Füße anstatt sie mir in die Hand zu drücken, um mich ja niemals zu berühren. Ein kurzes, unbestimmtes Nicken, Blick auf einen unbestimmten Ort hinter meiner Schulter gerichtet. Er murmelt „Shabbath Shalom" und geht mit seinen langen hageren Beinen zum Fahrstuhl. Er fragt mich nie, wie es mir geht. Er erkundigt sich nie, im Vorfeld, ob ich zu Hause sein werde, ob ich seinen Sohn genauso sehr vermisse, wie er es tut. Er kommt und verschwindet wie ein magisches Fabelwesen. Nur eben eins mit einer Tüte voll mit weichgekochtem Huhn, Rind und Kartoffeln.

Mit Cholent hat alles angefangen. Er wollte mich nicht kennenlernen, ich war noch nicht einmal in seinem Haus willkommen. Zwei Jahre lang war seine Hoffnung, ich würde einfach wieder verschwinden, so wie die anderen Launen seines Sohnes. Irgendwo in der grauen Masse dieser Stadt könnte ich wieder untergehen, zu einem der vielen Menschen werden, die ihn nicht zu interessieren haben.

David ging jeden Freitagvormittag zu seinen Eltern, in der Mittagspause von seiner Arbeit. Jede Woche, ohne Ausnahme. Und einmal, brachte er mir etwas Cholent mit, aus dem riesigen Topf, der in der Küche seiner Eltern über den ganzen Shabbath brodelt. Der den Geruch in jede Ecke der kleinen Wohnung treibt. Ich verliebte mich in das dickflüssige braune Essen, spießte auf meine Gabel riesige Portionen gemeinsam mit einer sehr sauren eingelegten Gurke auf. Ich trug David auf, seinem Vater danke zu sagen. Davids braune Augen schauten mich zögernd an aber er nickte. Die Woche drauf bekam ich meine erste Tupperdose, nur für mich allein. Zum Teilen mit David nach Bedarf, so zumindest mein Verständnis.

Von dieser Woche an gab mein Schwiegervater seinem Sohn jede Woche die vollgefüllte Tupperdose für mich ihn die Hand, wortlos. Jahre später, als sich David endlich durchsetzte und seine Eltern nachgaben, bedankte ich mich persönlich für all die Freitagsessen. Sein Vater nickte unbestimmt, so als wäre es nur eine vage Erinnerung. Seine Frau lächelte mich warm an. Hannah, meine Schwiegermama. Meine wundervolle, warme Zweitmama. Die sich zwar ihrem Mann gebeugt hatte und mich mied in den ersten Jahren. Ein Treffen ebenfalls verweigerte. Aber mich dann beim ersten Mal in die Arme nahm. Mir in die Augen schaute und mich sofort ins Wohnzimmer mitnahm, zu ihrer Tochter, zu ihrer Schwester und mir Komplimente zu meinem Kleid machte. So als wären wir schon immer zusammen gewesen. Die in den Jahren danach manchmal meine Hand in die ihre nahm und mir sagte, wie glücklich ihr Sohn mit mir sei. Das er mich so anschaut, wie ihr Mann ein geliebtes Buch anschmachtet und dann lachte.

Die Hannah, die mich auf der Beerdigung von David anschrie, Gott habe ihr ihren Sohn genommen, als Strafe für mich. Die sich nicht beruhigen ließ und noch schluchzend auf mich zeigte als sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa und antwortete nicht. Mein Schwiegervater legte seinen Arm um seine Frau und führte sie aus dem Raum, das einzige Mal, dass ich eine Berührung zwischen den beiden sah. Er sagte kein Wort.

Eine Woche später stand er mit dem Cholent vor meiner Tür.

Und heute ist wieder Freitag. David ist ein Jahr tot in dieser Woche. Ich tigere durch unser Wohnzimmer und warte auf sein bestimmtes Klopfen. Ich könnte dieses Klopfen mittlerweile aus tausend Rhytmen erkennen. Ich frage mich heute zum ersten Mal, warum er eigentlich vor der Tür stehen bleibt, nur um dann doch nicht mit mir zu reden. Warum er nicht einfach die billige Discounter Tüte abstellt und geht.

Endlich kommt das Klopfen. Groß, hager, gerade, eiskalte blaue Augen, seine schwarze Kippa auf seinem weißen Haar steht er da.

„Hi". Sage ich. Er nickt und will die Tüte abstellen.

„Kannst Du hereinkommen?" frage ich ihn. Er schaut mich an, überrascht und nicht begeistert. Aber er nickt, eher ein kurzes Zucken, und folgt mir in die Wohnung. Die Tür lässt er auf, so wie es sich gehört. Er schaut sich um, so als wäre er nie hier gewesen. Dabei kam er regelmäßig mit seinem Werkzeugkasten, um David mit seinen zwei linken Händen davon abzuhalten, irgendetwas „zu reparieren". Selbst als ich in seinem Haus noch nicht willkommen war, kam er zu uns, um den Geschirrspüler wieder auf Vordermann zu bringen.

Er nimmt ein Foto von uns in die Hand. David und ich, Eis essend, eine Giraffe hinter uns, die lassiv in die Kamera schaut. Er stellt es vorsichtig ab aber macht danach kurz eine Faust, so als müsse er sich zwingen, das Foto nicht gegen die Wand zu schmeißen. Ich warte, auch wenn ich nicht weiß auf was.

„Menachem?" frage ich. Er dreht sich in meine Richtung und ich atme tief ein.

„Ich ziehe weg. Dies ist meine letzte Woche hier". Ich ziehe in eine neue Wohnung, in der nicht alles nach ihm riecht. In gehe in eine Stadt, in der es keine „unser Lieblingscafe, unser Kino, unsere Rummach-Parkbank" gibt.

„Wo ziehst Du hin?" Seine Stimme ist ruhig und tief und verrät keine Emotionen.

„Zurück nach Hause". Er nickt, so als sei es selbst verständlich. Er dreht sich um, will zum Ausgang.

„Er fehlt mir". Sage ich. Er bleibt stehen, aber er dreht sich nicht um. Er steht in der Mitte des Raums, regungslos.

„Er fehlt mir jeden Tag ein bisschen mehr. Jeder sagt es wird leichter, aber das wird es nicht. Nicht ein bisschen" Ich merke, wie sich Tränen bilden, ich verschließe meine Arme vor der Brust. „Ich muss hier weg" sage ich hinterher, so als müsste ich mich rechtfertigen, so als sei ich wütend.

Er bewegt sich immer noch nicht, ich sehe sein Profil im Spiegel.

„Es war nicht meine Schuld, Menachem." Er schließt seine Augen. „Es war ein Unfall." Ich will nicht schluchzen, nicht vor ihm weinen.

Ich bin mir nicht sicher, ob er seinen Kopf senkt oder ob er nickt. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, ohne zu wissen warum.

„Kannst Du ihr sagen, dass es mit leidtut? Das ich wünschte ihr Sohn, euer Sohn, wäre hier?" Er reagiert nicht. Ich schluchze.

„Menachem." Flehe ich ihn an obwohl ich nicht weiß, wonach ich bitte. „Menachem." Ich gehe um ihn rum, stelle mich direkt vor ihn. Ich schluchze. „Bitte, Menachem". Sein Gesicht leicht zur Seite geneigt, seine Augen fast geschlossen. Und dann sehe ich es. Seine Tränen, die seine Nasenspitze runtertropfen. Für einen verrückten Moment, für eine Sekunde, will ich sie wegwischen, das Unmögliche tun. Meine Schultern senken sich, ich schluchze lauter.

Und dann geschieht es. Langsam so als müsste er sich mit all seiner Macht dazu zwingen. Er hebt seine Hände an, sie sind ganz ruhig. Er schaut mich immer noch nicht an aber seine Hände kommen immer näher, bis sie nur ein paar Millimeter vor meinem Gesicht stehen bleiben. Ich kann ihre Wärme fast spüren und erstarre. Langsam fängt er an zu murmeln: „Baruch ata adonaj elohenu melech ha'olam", sein Oberkörper wippt langsam vor und zurück, nur seine Hände halten ganz still. Er murmelt das Gebet langsam vor sich hin. Dann abrupt, ohne auch nur ein einziges weiteres Wort, zieht er seine Hände zurück, so als habe er sich verbrannt. Er geht an mir vorbei, zur Tür, lässt mich stehen in der Mitte vom Raum. An der Tür bleibt er stehen, so als wollte er noch etwas sagen. Er lehnt sich an den Türrahmen, als wäre sein Gewicht plötzlich zu schwer.

„Menachem?".

Er richtet sich auf und dreht sich nicht mehr um.
 
Zuletzt bearbeitet:

lietzensee

Mitglied
Hallo JonaLupin,
herzlichen Glückwunsch zu deiner ersten Geschichte hier. Der Text ließt sich sehr gut. Das liegt sicher daran, dass er so gut geschrieben ist. Ich mag, dass du den kulturellen Kontext nicht umständlich erklärst und die Szenen einfach wirken lässt.

als sich David endlich durchsetzte und seine Eltern einbrachen
Über diese Formulierung bin ich etwas gestolpert. "Nachgeben" wäre hier vielleicht verständlicher als "einbrechen."

Viele Grüße
lietzensee
 

JonaLupin

Mitglied
Liebe @lietzensee, vielen Dank für die Bewertung. Es ist meine allererste Geschichte, die ich je veröffentlich habe - ich war etwas nervös. Daher freut mich Ihr Feedback besonders :) Ihre Anmerkung habe ich gleich eingebaut. Ihnen einen schönen Abend!
 



 
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