Ein Missverständnis

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Das Reclam-Bändchen mit den vielen dünnen Seiten, die genug Lesewiderstand für einen ganzen Urlaub boten, wurde ihm langweilig. Aber das war nicht das Problem. Was ihn bedrückte, war etwas ganz anderes. Das musste sich doch aus der Welt schaffen lassen – zumal es wirklich nur ein Missverständnis war!

Den klapprigen Mietwagen hatten sie vorhin abgegeben und saßen jetzt in einem ebenso heruntergekommen, doch erstaunlich leeren Zug, der langsam zum nächsten Provinznest ratterte. Dort umsteigen und die lange Fahrt zur Hauptstadt, zum Flughafen und dann nach Hause.

Nunja, ihre Beziehung war vielleicht auch schon ein wenig heruntergekommen. Der Alltag, was will man da schon erwarten, selbst im Urlaub. Es war jedoch alles ganz prima gewesen, das Herumfahren, das Spontane, entscheiden ob hier- oder dorthin, ob bleiben oder weiterfahren. Und dann war etwas sehr Merkwürdiges geschehen, etwas, das ihn völlig überraschte. Je weiter sie ins Landesinnere vorstießen, je pittoresker, aber auch schmutziger und trostloser die Käffer erschienen, durch die sie reisten, je primitiver die Quartiere waren, in denen sie nächtigten, desto stärker und wilder – anders kann man es gar nicht ausdrücken – war sie geworden. Es schien, als hätte sie, die zuhause so viel putzte und oft wegwischte, was er noch gar nicht sah, etwas hinter sich gelassen. Wie in dieser Absteige, wo man lieber nicht so genau hingucken mochte, was das für Spuren auf den fadenscheinigen Tüchern des durchgelegenen Bettes waren, wo sie sich an ihn geklammert, sich gewälzt und geschrien hatte, als gelte es ihr Leben. Da war er war ein glücklicher Mann gewesen.

Dann kam der Umschlag. Es war eine Eigenheit von ihr, die ihn schon immer genervt hatte. Wenn sie irgendwo gemeinsam aufbrachen, sei es nach einem Restaurantbesuch oder nach einer Veranstaltung, selbst nach dem Durchqueren der Haustür, die auf Geheiß des Vermieters immer sorgfältig abzuschließen war – sie wartete nicht, sondern ging einfach davon. Und er musste hinterher. Sie hatte da keine Einsicht. Sie tat sogar, als verstünde sie nicht einmal das Problem. Und irgendwann hatte er gedacht: Egal, es gibt schlimmere Macken. Als sie nun in irgend so einem Städtchen von verstaubter, verfallener Schönheit anhielten, um über den Markt zu schlendern und irgendwo einen Kaffee zu trinken, war sie ausgestiegen und wieder mal einfach davon gegangen, ohne sich überhaupt umzuschauen, während er noch mit den klemmenden Autoschlössern kämpfte, umringt von einer Horde aufdringlicher, schmutziger und hübscher Kinder. Er musste ihr nachlaufen, um sie einzuholen , fand sie kaum wieder in der Menschenmenge.

„Mensch!“, rief er wütend, „wenn wir uns hier nicht mehr finden, musst du am Ende alleine nach Hause fahren!“. Sie blieb abrupt stehen, starrte ihn an: „Was soll das denn, willst du mir drohen?“ Jetzt war er überrascht. „Wieso drohen – hat doch damit überhaupt nichts zu tun! Ich meine nur: wir haben keinen Treffpunkt ausgemacht, nichts, und du rennst einfach auf und davon!“

Seitdem war die Stimmung auf dem Nullpunkt. Kein Sex mehr, und nur das Nötigste geredet. Er ließ das Reclam-Bändchen sinken. „Hör mal“, sagte er, „nichts lag mir ferner, als dir irgendwie zu drohen oder dich auch nur zu kränken. Natürlich hätte ich dich gesucht, dort im Gewühl, und wäre nicht einfach davon gefahren.“ - da fiel ihm ein, dass sie es ja war, die immer davon lief, aber er verkniff sich jede Bemerkung darüber und sagte nur: „Und das kann man ja auch unter Partnern erwarten. Besonders im fremden Land.“ „Quatsch,“ sagte sie, „du kannst mir hinterher vieles erzählen. Schließlich hast du mich angemacht und bedroht und nicht umgekehrt.“ „Das ist jetzt aber wirklich außerordentlich kränkend, dass du mir solche Absichten unterstellst …“ Und so weiter und so fort, es ging nicht, es funktionierte nicht. Er nahm sein Buch und setzte sich ans andere Ende des Waggons.

Während er sich in seinen Klassik-Schmöker versenkte, füllte sich der Zug. Schnell war es Zeit zum Umsteigen. Es erschien kaum möglich, sich gegen die herandrängenden Menschen zum alten Platz zurück zu kämpfen. Man würde sich auf dem Bahnsteig treffen, sie würde seinen Rucksack mitnehmen, sie hatten ja nur leichtes Gepäck.

In dem Gewühl sah er sie zunächst nicht. Später auch nicht. Musste sie jetzt links oder rechts von ihm stehen? Die Menschen verliefen sich. Der der Zug fuhr ab. Er stand allein auf dem Bahnsteig. Da ging ihm auf, dass er zu früh ausgestiegen war.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Binsenbrecher,
ein sehr schöne Geschichte. Die Pointe ist gut, aber vor allem ist der ganze Text sehr schön erzählt. Da macht das Lesen Spaß.

Viele Grüße
lietzensee
 

Matula

Mitglied
Eine anmutige Geschichte über Verlassenwerden und Verlorengehen !
Was mir ein bisschen fehlt, ist ein Erklärungsansatz für die Mutation der putzwütigen Hausfrau zur hemmungslosen Liebhaberin unter ausreichend verwahrlosten Wohnverhältnissen.

Schöne Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Binsenbrecher,

wirklich sehr sehr gut! Da kann ich mich lietzensee nur anschließen!
Das sind so die umeinander mäandernden Paare mit Problemen von Nähe und Distanz, und wie es die unerlöste Seele so einrichtet, sucht sich der Ängstliche genau so einen Partner, der die Angst bedient. Eigentlich sind sie sich fremd, sprechen nicht die gleiche Sprache, sehen und erleben nicht das Gleiche. Das war nicht nur ein Missverständnis, es war grundlegend nicht vorhandenes Verständnis.
Mit wenigen Worten ein Roman.

Liebe Grüße
Petra
 
Vielen Dank für Eure freundlichen und anerkennenden Worte sowie die Sternchen-Bewertungen. (In Abwandlung: Da macht Schreiben Spaß!)

@ Matula. Zu Deinem Wunsch nach einem "Erklärungsansatz ..." möchte ich anmerken, dass jemand, der ein wenig zwanghaft ist, durchaus kräftig in die, sagen wir mal andere Richtung, auszuschlagen kann, wenn er durch äußere Umstände nicht mehr in der Lage ist, seine Zwänge zu bedienen, wenn sein Panzer sozusagen durchlöchert wird. Könnte man in den Text einbauen, muss man aber nicht. (Wenn es schlimm wird, nennt man's Kontrollverlust, positiv kann es auch eine Befreiung sein, aber unser Pärchen findet ja einen Weg, den Deckel wieder draufzuschrauben)

Liebe Grüße
Binsenbrecher
 



 
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