Ein schlechter Sohn

„Aber diesmal – diesmal wirst du wohl bleiben?“ Er wollte es nicht wieder um ihre Mundwinkel zucken sehen. Stattdessen versuchte er, seiner Großmutter in die Augen zu blicken. Es misslang, wie sonst auch. Ihre Brillengläser waren dafür einfach zu dick, und ohne Brille sah sie nur blind in die Welt. Ihre Sorge um ihn war echt, ihre Treuherzigkeit gespielt und ihr Mut zusammengekratzt.
„Ben, du musst dir immer sagen, du hast es selbst so gewollt. Und du kannst es hier auch gut haben, das glaube ich.“ - „Ja, bestimmt. Deshalb bin ich doch hier.“
Sein Vater hatte das letzte Wort. „Einmal musst du bei einer Sache bleiben. Mein Lieber, die Welt ist nun mal nicht ideal. Und wenn es nach mir gegangen wäre – du weißt schon … Ich kann dir jetzt nur noch eines sagen: Pass dich an!“
Darauf war nichts zu erwidern. Der Schulmeister stand ihm schlecht. Ben wusste, sein Vater hatte einmal Lehrer werden wollen, vor dem Krieg, aber er war schon an der Aufnahmeprüfung für das Seminar gescheitert.
Der Alte griff nach der leeren Kiste, in der sie heute Morgen seine Sachen gebracht hatten. Dann verließ er das Zimmer ohne weitere Ermahnungen. Die Großmutter wandte sich in der Tür noch einmal um: „Und schreib jeden Tag einen Brief, hörst du?“
Gott sei dank, sie waren endlich weg. Aber er sah ihnen doch durch das Fenster nach, wie sie von der Villa fortgingen, die langen Treppen durch den Garten hinunter zum Tor. Jetzt lagen dreihundert Kilometer auf der Autobahn vor ihnen, und heute am Ostermontag war der Verkehr sehr dicht. Die beiden reisten sonst nie miteinander – so weit war es also gekommen, seinetwegen. Sie mieden sich sonst, wo sie konnten, und vielleicht hasste der Vater seine Schwiegermutter sogar - in diesem Fall war er doch eines tieferen Gefühles fähig.
Die Mutter hatte dieses Mal nicht mitkommen wollen. Sie habe genug von diesen Umzügen, sie ertrage es nicht mehr. Sie wusste sehr wenig von ihm und litt dafür umso mehr an ihm. Warum nur hatte er keine Geschwister? Als Bub hatte er sich lange einen Bruder gewünscht, und zwar einen älteren. Unmöglich, so etwas, leider.

Einige Wochen später besuchte Ben erstmals nach dem Umzug wieder seine Leute daheim. Er fühlte sich dort jetzt fremder als in Stuttgart. Wenn sie mit ihm über seine Angelegenheiten sprechen wollten, dann kam er sich selbst auch fremd vor. Sie legten Gewicht nur auf die für ihn nebensächlichsten Dinge, und was ihm selbst bedeutend erschien, konnte er ihnen nicht mitteilen.
„Ein neuer Kollege wird vielleicht einmal mit hierherkommen“, sagte er. Sein Name sei Ulf. Da gab er nun doch etwas preis.
„Oh, ich habe es ja gewusst“, sagte die Großmutter, „dort wirst du dich einleben. In der Fremde ist ein treuer Freund Gold wert. Halte ihn dir warm.“

An jenem Sonntag im Juni regnete es einmal nicht. Schon um neun sah er vom Fenster aus seine Eltern den Garten heraufkommen. Zu Hause war also das Vieh früher als sonst versorgt worden. Wie langsam sie die Stufen nahmen, so lange Treppen kannten sie daheim nicht. Und sie brachten die Großmutter heute nicht mit … Der Vater sah sich verkniffen und zugleich befriedigt im Zimmer um, wie erleichtert darüber, dass hier in diesen zwei Monaten alles unverändert geblieben war, und wenigstens für die Möbel traf das auch zu. Er trug diesmal seinen dunklen Anzug, ein seltener Anblick.
„Und – gefällt es dir noch?“ fragte die Mutter, zweifelnd, besorgt, wie sie das immer war. Offenbar war sie gestern beim Friseur gewesen, das schon dünner werdende braune Haar frisch getönt und dauergewellt. Sie sah sich zum ersten Mal in diesem Zimmer um. Es gab so wenig zu betrachten, sie blickte ihm wieder ins Gesicht. Und dann kam er, ihr Lieblingssatz, er war unvermeidlich: „Und sonst – ist noch alles in Ordnung?“ Wie oft schon gehört, und er kannte die tiefere Bedeutung: Losgerissen bist du von der mütterlich nährenden Erde der Heimat, es kann nicht gutgehen. Ben fühlte den alten, vertrauten Hass in sich aufsteigen. Warum nur waren sie gekommen? Er ging mit ihnen zum Fenster, um die Aussicht zu erläutern. Sie blieben stumm.
Sein Vater zwang sich zu Ironie und künstlicher Munterkeit: „Und - wie sieht nun dein Festprogramm für diesen großen Tag aus?“ Ben sagte, er brauche heute ungefähr zwei Stunden für sich, er habe Heimarbeit aus dem Amt mitgenommen. Er verschwieg, dass er sie ursprünglich erst nach ihrer Abfahrt hatte erledigen wollen. Der Blick seines Vaters wurde geringschätzig: Amt und Arbeit, sollte das heißen, dass ich nicht lache …
Sie einigten sich darauf, dass die beiden schon einmal ohne ihn die Stadt besichtigen könnten. Dann würden sie ihn zum Mittagessen abholen. Sie mussten natürlich mit dem Auto fahren, er gab ihnen seinen Stadtplan mit. Als er allein war, empfand er das alte Schuldgefühl wieder, ein schlechter Sohn zu sein, einer, der seine Eltern kaum ertrug. War es - unnatürlich? Umso leichter fiel ihm die Arbeit.
Sie waren wieder im Zimmer, hatten die Vermieterin im Garten getroffen. Seine Mutter sagte: „Eine ordentliche Frau.“ Das war weniger ein Lob als ein Vorschuss auf Vertrauen. Sein Vater schimpfte auf den patentgefalteten Stadtplan, es war ihm nicht gelungen, ihn nach Gebrauch zusammenzulegen. Ben brachte es in Ordnung. Auf der Fahrt ins Zentrum mäkelte die Mutter an den Tunneleinfahrten, den Stützmauern herum: So viel Beton, das gefalle ihr nun einmal nicht. Ben wurde heftig und wies sie zurecht: Die Stadt sei doch besonders grün, reich an Gärten und Parkanlagen.
Er suchte etwas Billiges, wo er mit ihnen essen gehen konnte, ohne dass es viel kostete. Das Schnellrestaurant an der Hauptstraße war zum Glück heute geöffnet. Wie unsicher die beiden in allem waren: bei der Auswahl der Gerichte, beim Ansteuern eines Tisches … Sie waren viele Jahre in keinem Restaurant mehr gewesen und führten ihm jetzt vor, was niedrige Abstammung ist. Er kam sich hässlich vor, hässlich in seinen Gedanken, in seinen Gefühlen.
Danach gingen sie spazieren, die Fronten der Kaufhäuser entlang, durch den zentralen Park. Seine Mutter hatte für nichts Augen, sie machte stattdessen viele Vorschläge, wie er sich auf seinem Zimmer besser einrichten könne. Er sah, dass sein Vater inzwischen aufgetaut war. Der Alte beteiligte sich nicht am Gespräch, dafür beobachtete er die Passanten, die Fahrzeuge. War sein Vater der Klügere von beiden? Ohne ihn zu lieben oder ihn auch nur ein wenig zu schätzen, fühlte er sich ihm manchmal ähnlich. Er wollte nicht darüber nachdenken.
Als sie wegfuhren, nahmen sie ihn ein Stück im Auto mit hinaus in die Wälder. Er ging erleichtert allein eine Stunde spazieren und nahm den Bus zurück in die Stadt.

Spät am Nachmittag bog Ulf von der Asphaltstraße in den schmalen Feldweg ein. „Fahr vorsichtig“, bat Ben. „Es gibt Schlaglöcher, richtig große Kuhlen voll Wasser und auch ganz bucklige Stellen.“
Ulf fuhr sehr langsam weiter. „Ich hoffe nur, es kommt uns keiner entgegen.“ – „Kommt so gut wie nie vor.“ Ulf sah die hohen Robinien über ihnen zusammenwachsen, das Gestrüpp sich von den Wegrändern herandrängen. Ein Zweig streifte den Wagen, wurde mitgezogen und schlug dann zurück gegen die Lackierung. Ulf zuckte ein wenig zusammen. Dann fuhren sie hinaus auf die kleine Lichtung mit den Gärten und mitten darin das weiße Haus vor der grünen Kante. „Mensch, Benny, richtige Felsen!“ – „War früher ein Steinbruch, jetzt ist fast alles zugewachsen.“
Ben sah das Gesicht seiner Großmutter, das sich im Dachgeschoss gegen das Giebelfenster presste. Seine Mutter wartete nicht ab, dass sie klingelten. Als der Wagen auf dem holprigen Grasplatz hinter dem Haus zum Stillstand kam, erschien sie schon lächelnd in der Haustür. Wie auf Kommando, dachte Ben. Während sie auf das Haus zugingen, hörte man den Unimog herantuckern. Sein Vater hielt neben dem fremden Auto und sprang rasch ab, noch flink für sein Alter. Die Wagentür war im Sommer ausgehängt.
Ben stellte den Freund in der Diele vor, wo sie eine Weile zusammenstanden. Er bekam nicht heraus, wie seine Eltern auf Ulf wirkten, und ebenso blieb es für ihn offen, welchen Eindruck er auf sie machte. Die Gesichter der Alten waren freundliche Masken. Ulf erschien gelassen, unbefangen, alles an ihm drückte gute Erziehung und wohlwollende Neutralität aus. Bens Eltern waren zeremoniös, noch mehr als sonst, wenn er selten einmal einen Freund mitgebracht hatte. Sie sagten, dass sie sich freuten, dass er sich als ihr Gast wohlfühlen möge. Dass sie hoffentlich gutes Wetter hätten. Und ob sie eine gute Fahrt hinter sich hätten – dies war schon die persönlichste ihrer Fragen. Der Vater musste gleich wieder an seine Arbeit. Die Mutter zeigte Ulf den vorbereiteten Schlafplatz auf der Couch im Wohnzimmer. Sie wollten jetzt keinen Kaffee trinken? Die Mutter zog sich in die Küche zurück, um einen Kuchen zu backen. Besser, wenn sie morgen noch einen mehr anzubieten hätte.
Sie gingen nach oben, klopften an die Tür und betraten auf das Herein seines Großvaters das verräucherte Zimmer. Erblickten den Achtzigjährigen in der Haltung von Franklin Delano Roosevelt in seinem roten Plüschsessel inmitten der Qualmwolken, die in kurzen heftigen Stößen aus der Pfeife entlassen wurden. Ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, noch unter ihnen anwesend und doch schon fremd, auf seine Weise ein Unberührbarer. Er hatte gerade Zeitung gelesen. „Und jetzt fliegen sie bald zum Mond, verrückte Menschheit … Ja, ihr kommt also von Stuttgart, hab ich gehört. Bin da nie gewesen und sonst früher doch viel herumgekommen … Wien, Prag … Paris, Berlin … Und Dresden, ja, Dresden, dort war es am besten. Vor dem ersten Krieg, bis dieser verdammte Krieg kam …“ Davor war er jahrelang als Handwerksbursche durch halb Europa gezogen. Mit Bens Vater, seinem Schwiegersohn, sprach er so gut wie nie, nur das Allernotwendigste, solange Ben sich erinnern konnte.
Jetzt kam die Großmutter und glich mit ihrem Gefühlsüberschwang das Defizit an persönlicher Zuwendung seitens der anderen mehr als aus. Die kleine alte Frau stand vor seinem großen Freund, nahm dessen beide Hände in ihre. Sie wird sie ihm doch nicht küssen wollen ... Es zuckte in ihrem Gesicht, um diese Andeutung eines Damenschnurrbartes herum. Und dass eine so mürbe Altfrauenstimme noch solche Höhen erreichen kann. „Wie froh ich bin! Sie können sich bestimmt nicht vorstellen, wie dankbar ich dafür bin, dass Sie sich so um unseren Ben kümmern. Er hat uns so viel von Ihnen erzählt, ständig hat er Ihren Namen im Mund gehabt …“ – „Oma, also …“ Es war gar nicht so gewesen. – „Er ist jetzt sooo weit weg von uns. Sie müssen ja alle fort heutzutage, aber er ist sooo weit, wir können sooo wenig für ihn tun … Aber nun hat er Sie, nun ist es auch so gut. Wollt ihr zwei nicht Kaffee trinken, mit dem Opa und mir?“
„Oma, wir wollen uns Bewegung machen, nach der langen Fahrt. Wir gehen gleich an die frische Luft.“ Das war auch nötig, in der dicken Nebelsuppe hier oben erstickte man beinahe. Als sie die Treppe hinuntergingen, grinsten sich die zwei jungen Männer an.
Es gab noch eine Großmutter, sie lebte in der Nähe in einer Baracke und galt als nicht vorzeigbar. Ben vermied es, mit Ulf in die Nähe ihrer Behausung zu geraten, als sie draußen umherstreiften. Er ging mit ihm auf die Höhe hinauf, von der man eine begrenzte Aussicht hatte. Für Weitblicke war ihr Hügelland zu stark gegliedert.
Die Mutter deckte den Abendbrottisch nur für sie beide im Wohnzimmer. Sie selbst aß später mit dem Vater in der Küche. Ben und Ulf frühstückten tags darauf auch allein. Nur beim Mittagessen am Sonntag hatten sie die Gesellschaft der Eltern. Die Mutter fragte dabei wie üblich: „Kann man es essen?“, obwohl sie auch diesmal davon überzeugt war, es sei ihr gelungen. Der Vater schwieg fast die ganze Mahlzeit über. Ben fand, es war wieder sein bedeutsames Schweigen, nur blieb die Bedeutung auch diesmal unklar.
Wenn sie allein aßen, erschien die Mutter wie eine Dienerin im Zimmer. Sie erkundigte sich, ob sie dieses oder jenes essen wollten, was zum Trinken erwünscht sei, ob es genug und ob es recht gewesen sei. Sie stellte nie andere Fragen, hatte an seinem Gast, wie es schien, kein persönliches Interesse. Es war auch früher so gewesen, diesmal war es Ben peinlich. Und zumal er wusste, dass sie in Wahrheit sehr neugierig war. Sie fragte ihn nach solchen Besuchen genau nach Familie und bisherigem Werdegang aus. Warum also jetzt wieder dieses distanziert servile Verhalten, beinahe wie im Orient? Er begriff es erst bei diesem Besuch: Dahinter stand ihre Furcht, etwas Falsches zu sagen, sich und ihm mit einer unangebrachten Bemerkung zu schaden. Sie nahm ihre Rolle zu ernst, sie übertrieb es damit und verschwand vollkommen dahinter. Sie würde nie aus erster Hand etwas wirklich Wichtiges über seine Freunde erfahren.
„Ihr habt hier kein Fernsehen“, stellte Ulf am ersten Abend nach dem Essen fest. – „Nein, nur meine Großeltern.“ Und ihr Gerät war so laut eingestellt, dass es zum ständigen Verdruss seiner Eltern bis in die Diele herunter dröhnte.
Sie gingen für eine Weile hinüber in Bens Zimmer und sprachen über die nächsten Tage, welche Ausflüge sie von hier aus unternehmen könnten. Auf einmal stand der Freund auf und ging zum Bücherregal. Ben hatte die folgende Szene vorausgesehen, er hätte bei seinem letzten Besuch hier das gewisse Buch aus der Reihe entfernen können, er hatte es mit Absicht nicht getan. Und richtig, Ulf zog schon nach kurzem das Taschenbuch mit den schwarzen Großbuchstaben auf gelbem Rücken heraus und nahm es an sich: „Ah, Homosexualität … Das ist interessant?“
„Ja, aber teilweise schwer verständlich. Vielleicht solltest du dazu lieber etwas von Freud lesen. Da, lies die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie …“ Er drückte sie ihm schon in die Hand.
„Nein, nein, nicht hier. Aber du kannst es mir am Dienstag mitgeben, ausleihen, meine ich.“ Tatsächlich nahmen sie neben einem Zelt aus Bens Schultagen auch den Band Freud mit.

Zwei Monate später und Ulf war schon Geschichte, die Erinnerung an ihre Zusammenstöße so gut wie entsorgt. Ben war im Urlaub zum ersten Mal in Berlin gewesen und dann noch zu den Eltern gefahren. Er blieb fünf Tage bei ihnen und ging dort im Kopf nur an der Spree herum. Was ihn umgab, sah er wie eine unbekannte, wenig reizvolle Gegend aus dem Flugzeug heraus an. Er sprach kaum noch mit seinen Leuten und versuchte fortwährend Strategien für die nähere Zukunft zu entwickeln. Er wird halt in Stuttgart bleiben müssen, vorläufig. Gleichzeitig plante er bereits für den Herbst die nächste Reise nach Berlin.

Als die Entscheidung schon gefallen war und er einmal abends in der Villa ankam, lag ein Zettel seiner Vermieterin auf der Treppe. Sein Vater hatte angerufen und ihn zu sprechen verlangt. Das Amt hatte einen Brief an die Eltern geschrieben und sie darüber aufgeklärt, dass ihr Herr Sohn sich selbst aus dem Dienst entlassen hatte. Der Alte wollte übermorgen kommen und ihn sprechen. Ben solle ihn auf seinem Zimmer erwarten.
Ben rief gleich zu Hause an. Er wird an diesem Tag nach Berlin fliegen und sich Arbeit und Unterkunft suchen. - Nein, du wirst auf dem Zimmer warten! – Werde ich nicht! - Sie schrieen sich an wie neulich auf dem Amt Ben und der Amtsleiter. Aus dem Machtwort wurde ein ohnmächtiges. Ben war schon ausgebrochen, nicht mehr einzufangen. Der Alte begriff es, er war nicht dumm. Er ließ ihn noch mit der Mutter zanken. Sie erreichte nichts, keine Zusage für irgendeine Rücksicht oder Vorsicht. Sie hatte nur wie so oft das Schlusswort in solchen Debatten, elegische Tragödin, als die sie sich sah. Den Wortlaut vergaß Ben sogleich.
Fort, nur fort. Eine Wunde und ein Hautfetzen. Man hat sich gefürchtet, ihn abzureißen. Dann ein Ruck und während man reißt, kommt mit ein wenig Schmerz überraschend die Lust. Er hatte sich als Schüler einmal bei einem Freund beklagt, es gebe keine Basis für Gespräche zwischen ihm und seinen Eltern. Und der Freund hatte aufmunternd festgestellt: Was beklagst du dich, wo keine Basis ist, da braucht man keine.

Auf dem Rückweg von Berlin nahm er wieder den Umweg über ***. Seine Eltern wirkten schon schicksalsergeben. Er sah sie geradezu vor sich altern. Er war ein schlechter Sohn mit einem schlechten Gewissen. Sie machten es ihm leicht, bis auf diese skeptischen Blicke, und nahmen seinen Entschluss jetzt ohne Einwände hin. Da ging einer seinen Weg und sie blieben zurück am Wegrand.
Ben spürte erstmals seit langem dieses scheußliche Gefühl in sich aufsteigen, das seine Kindertage manchmal vergiftet hatte. Das Bad am Sonntagmorgen noch im alten Haus der Großeltern … Er badete in einer Blechwanne, die für ihn in der Waschküche aufgestellt wurde. Die Waschküche lag im Keller und erhielt etwas Licht vom Garten her. Es war schummerig und trotzdem sah er Kellerasseln über den zersprungenen Zementboden kriechen. An der Wand stand eine unförmige Waschmaschine aus der Vorkriegszeit, die schon lange nicht mehr benutzt wurde. Ben kratzte mit den Fingernägeln alte Salbe vom Hals ab und betrachtete sein Geschlecht. Da überkam ihn jenes Gefühl, das stärkste, das er als Kind kennenlernte. Es war eine Mischung aus Überdruss, Ekel und Langeweile und es richtete sich, vergleichbar jähem Sodbrennen, gegen ihn selbst. Er empfand die eigene Existenz als etwas vollkommen Nichtiges, Wertloses. Für ihn würde es nie Freude oder Sinn geben, immer nur diese alles umfassende Unlust. Er verspürte dann langsam Brechreiz aufsteigen, ohne jemals tatsächlich kotzen zu können, und zugleich heftigen Durst. Diese Krisen dauerten zwei, drei Minuten und mit ihnen verschwand auch der Durst. Sie waren ebenso plötzlich und heftig wie epileptische Anfälle und wie diese hinterließen sie ein Gefühl von Erschöpfung und Leere.
Er war inzwischen daran gewöhnt, sich zu beherrschen. Sein Gesicht verriet schon lange nichts mehr von diesen Gefühlen.

Er musterte seine gesamte Habe und teilte sie in drei Haufen. Der erste war unverzichtbar, diese Sachen würde er einpacken und im Flugzeug mitnehmen. Der nächste enthielt allerlei Überflüssiges und sollte von seinen Eltern bald abgeholt werden. Außerdem gab es Dinge, von denen er sich unbedingt für immer trennen wollte: verbrauchte Wäsche zum Beispiel, Zeitungsausschnitte und kleine, erst hier gekaufte Gegenstände, die sich als nutzlos herausgestellt hatten. Er warf auch den Aschenbecher aus Blech dazu, nur für Gäste angeschafft: alles für die Mülltonne.
Es sah auf dem Fußboden wie nach einem Schiffbruch aus. Oder wie vor einem eingestürzten Haus, aus dem man noch einiges gerettet hat. Es war ein Zusammenbruch, es gab nichts zu beschönigen. Die Dinge vertraten die Hoffnungen seiner Jugend, die Erwartungen, in denen er sich getäuscht sah, nein, sich selbst getäuscht hatte. Wird Zeit, Ben, sagte er sich, dass du erwachsen wirst.
Seine Eltern kamen sonntags, um ihren Teil einzupacken. Sie brachten die Großmutter auch diesmal nicht mit. „Es ist nicht recht, dass es so gekommen ist, es ist nicht in Ordnung“, sagte die Mutter mit merklicher Bitterkeit.
„Die Diskussion können wir uns heute sparen. Jetzt heißt es: nach vorne sehen.“ Der Alte zeigte mitten im Zusammenbruch endlich einmal Format, fügte aber hinzu: „Nur die Sache mit diesem Berlin, die ist mir nicht geheuer.“
„Und das Zelt, das brauchst du in Berlin natürlich auch nicht. Da gibt es nur Stein, in so einer großen Stadt … Habt ihr es wenigstens mal aufgestellt, du und Ulf?“
„Das Zelt? Nein, Mama, haben wir nicht. Ich brauch es nicht mehr. Es kann weg. Ihr könnt es verschenken, falls es einer haben will.“
Seine Mutter sagte, das werde sie nicht tun. Sie werde es aufheben, vielleicht würden ja mal Enkel da sein. Dann verluden sie alles und er fuhr mit ihnen zum Flughafen, um sein Gepäck für den Abflug einzuschließen. Die beiden setzten ihn an einer Straßenbahnhaltestelle ab und steuerten für ihre Heimfahrt die Autobahn an. Stuttgart würde sie nie wieder sehen.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten