Ein Tag ohne TV oder Der Niedergang eines Mannes

Yossarian

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Das Entsetzen stand Paul noch immer ins Gesicht geschrieben, als er sich einer schrecklichen Wahrheit bewusst zu werden begann: Durch den heutigen Tag würde er sich ohne Fernseher quälen müssen.
Sein geliebter Partner für alle Fälle war kaputt und
er am Boden zerstört, denn dieses schreckliche Ereignis ereignete sich ausgerechnet an seinem freien Tag. Ausdruckslos starrte er auf die schweigende schwarze Bildröhre. In diesem Moment lief der Nachmittagstalk voller hässlicher Mädchen mit zu kleiner oder großer Brust, fetten Hausfrauen mit Diätproblemen, die sich rundum glücklich fühlten und Machos mit hinterwäldlerischen, frauenfeindlichen Meinungen, die nur zur Sendung gekommen waren um sich von feministischen, neunmalklugen Zicken ausbuhen zu lassen.
Täglich lachte und fieberte Paul mit diesen Menschen, schimpfte über ihre Dummheit und empörte sich über die sinnfreien Gespräche.
Nicht heute, dachte Paul verdrießt und seufzte voller lethargischer Deprimiertheit. Während die Stunden dahinschlichen, redete er sich ständig ein, dass die Themen doch ohnehin immer die gleichen seien, doch gegen das Gefühl der Leere wollten ihm diese Gedanken nicht helfen. Die Fernbedienung ruhte in seiner Hand,
immer wieder drückte er wie von Sinnen auf den Zahlen herum, oder versuchte den Kasten manuell zum Flimmern zu bringen. Es half nichts und seine innere Unruhe wuchs beständig, als er daran dachte,
dass inzwischen die Zeit der sagenhaft lustigen amerikanischen Lachshows begonnen hatte.
Wie gern hätte er seinen Beitrag zum Gelächter im Hintergrund der Shows gegeben. Er liebte diese Lachhilfen, dann brauchte er nicht selber darüber nachdenken, welcher Spruch genau eigentlich lustig gemeint war,
denn das herauszufinden, war bei den ständig gleichen konservativ-prüden, ungemein platten Dialogen keine Leichtigkeit.
Die Nervosität war nun entgültig in ihm ausgebrochen,
wie ein gefangener Löwe rannte er vor dem TV-Gerät auf und ab, dachte mit Sorge daran, dass seine Seifenoper schon zur Hälfe gelaufen war.
Nun würde er nie erfahren, ob Nick wirklich das Krankenbett von Manuela manipuliert hatte, wodurch dieses bei einem vorgetäuschten Unfall die Treppe hinuntergerollt war.
Wer hätte auch ahnen können, dass Nick, in den ja Frida unglücklich verliebt war,
seine Homosexualität endlich erkannt hatte und sich ungestört an den Freund von Manuela heranmachen wollte.
Es verzehrte Paul regelrecht, dass er die nun kommenden Ereignisse verpasst hatte.
Viel schlimmer war jedoch die Tatsache, dass ihm auch die Nachrichten entgehen würden, in denen ja glücklicherweise nicht von Politik, Sport und Wirtschaft berichtet wurde, was schließlich ohnehin Niemanden interessierte,
sondern von Popstars, gequälten Hundebabys und
den neuesten Modetrends.
Paul stieß einen schmachvollen Schmerzesschrei aus,
schlug unaufhörlich mit dem Kopf gegen die Wand und krümmte sich leidend auf dem Teppichboden.
Big Brother hatte angefangen.
Er konnte die Bewohner, welche für ihn schon gute Freunde geworden waren, geradezu vor Augen sehen.
Wie sie in dem kleinen Mehrfamilienhaus herumtollten, stritten, hochphilosophische und im höchsten Maße tiefsinnige Gespräche führten und sich aufgrund teilweise recht dramatischer und ergreifender Probleme die Seele aus dem Leib weinten.
Er vermisste sie schrecklich und es zerriss ihm das Herz sie ungesehen vorüberziehen lassen zu müssen.
Doch mehr als sich in schmerzverzehrten Krämpfen am Boden zu wälzen konnte er nicht tun.
Sein nächster Rückschlag manifestierte sich in seiner wöchentlichen Arztserie, in der die Doktoren Kaffeeklatsch am Operationstisch hielten und alle ein wirklich gutes Herz hatten. Was Paul ziemlich realistisch fand, denn auch er hatte die Erfahrung gemacht, das Ärzte grundsätzlich niemals Arrogant oder Eingebildet sind und sich besonders um mittellose Bettler scheren.
Ein weiterer Rückschlag stellte ein wirklich weiterbildendes Magazin dar.
Darin ging es zumeist um verkrüppelte Menschen,
die zu wundervoll trauriger Musik ihre Sorgen klagten.
Jedoch auch um bedrohliche Krankheiten,
die bevorzugt entweder lebensgefährlich waren oder zumindest den Genitalbereich betrafen.
Manchmal zeigte man auch einfach nur Ratten und anderes Ungeziefer, um die Zeit zwischen den Werbepausen zu füllen. Paul hatte inzwischen sämtliche Fingernägel abgekaut,
auch die meisten Haare lagen bereits verstreut im Raum und Zigaretten hatte er ohnehin keine mehr.
Er telefonierte mit Freunden und Bekannten,
mit dem Vorwand sie besuchen zu wollen,
wurde aber aufgrund der späten Stunde abgewiesen und
so musste Paul seine schlimmste Niederlage erleiden.
TV Total hatte begonnen.
In dieser Sendung beleidigte und verarschte ein Mann mit seltsamer Quäkstimme dumme Leute,
zeigte lange Latten und pralle Titten.
Manchmal auch krachende Gliedmaßen,
aufgeschnittene Genitalien und
andere sehr lustige Leckereien.
Dieser Moderator war deshalb so beliebt, weil er vor Niemanden Rücksicht nahm, selten etwas neues zu bieten hatte und dieses dann unzählige Male wiederholte.
Als schließlich die Zeit der stilsicheren, ideenreichen und dialogschweren Van Damme Dramen angebrochen hatte,
wimmerte Paul längst nur noch wehmütig wie ein geschlagener Hund vor sich hin, seine Umwelt nahm er längst nicht mehr war. In den letzten Atemzügen lag er jedoch erst, als ihm auch die erotisch angehauchten Tragikkomödien mit ihren theaterreifen Darstellern entgangen waren,
die durch ihre klugen und unvorhersehbaren Handlungsstränge gezielt auf den Intellekt des Zuschauers zielten und
ihn gespannt auf die Lösung der Konflikte in körperbetonten Duellen warten ließ.
Als zur nächtlichen Stunde die Wiederholungen der Nachmittagtalks begannen,
war Paul längst durch das Fehlen wichtiger Grundnahrungsstoffe gestorben.

by Yossarian
 

Tanshee

Mitglied
Hi, Yossarian!

schwungvoll geschrieben (kein TV-Fan?! Oder eben gerade!?),
nur eine kleine Bitte: bei dem Absatz "Nicht heute, dachte Paul verdrießt" - wenn Du da noch "verdrossen" draus machen könntest -
dann paßt's hundertprozentig!

Liebe Grüße,
Tanshee
 



 
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