Ein Zukunftsszenario

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Der Schulbus ist gerammelt voll, wie immer um halb acht morgens. Manche Schüler machen im Bus noch schnell ihre Hausaufgaben. An der Haltestelle Wintergarten lässt der Busfahrer die wartenden Fahrgäste nicht einsteigen: „Tut mir leid, der Bus ist voll. Ich kann keinen mehr reinlassen. Sie müssen mit dem nächsten fahren." Murrend fügen sich die Leute.

Mein Handy blinkt auf. Meine Freundin schreibt mir, dass sie und ihr Mann ihren Urlaub in Italien last minute gebucht haben. In vier Tagen soll es losgehen.
„Ich freue mich so! Auch wenn Italien zu dieser Jahreszeit bestimmt voll von Touristen ist."
„Das glaube ich auch", schreibe ich zurück und wünsche ihr viel Spaß.

Auf dem kurzen Weg, den ich von der Bushaltestelle zu meinem Arbeitsplatz zu Fuß zurücklegen muss, schnappe ich ein paar Gesprächsfetzen auf.
„Was glaubst du, wer das Spiel am Samstag gewinnt?"
„Ganz klar, die Bayern! Da fällt mir ein, ich muss ja heute Mittag meine Fußballwette abgeben. Gut, dass du mich dran erinnert hast! Stell dir vor, Stefan sitzt live mit seiner Freundin im Stadion! Hat sich tatsächlich Karten geleistet, weil sie unbedingt hin wollte! Vielleicht sind sie sogar im Bild zu sehen und winken in die Kamera."
„Da werde ich am Samstag auf die Zuschauer aufpassen, wenn ich die Bundesliga im Fernsehen anschaue. Ich bin auf die EM gespannt. Wen Jogi wohl aufstellt?"

Ich freue mich auch auf die EM, allein schon auf die Eröffnungsfeier, eine Riesenveranstaltung mit vielen Menschen, Musik und Tanz. Schaue ich mir immer gerne im Fernsehen an.

Auf meiner Arbeitsstelle haben wir für eine Kollegin, die einen runden Geburtstag feiert, eine Überraschung vorbereitet. Um 10.00 Uhr erscheinen wir alle vor ihrem Arbeitsplatz und singen „Happy birthday". Einer nach dem anderen fällt ihr um den Hals und schüttelt ihr kräftig die Hand. „Herzlichen Glückwunsch!" Man sieht, wie sie sich freut.

Ich wache aus diesem schönen Traum auf. Ja, das könnte das Zukunftsszenario sein. Nach Corona.
 
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Tja, formal gut gelungen. Inhaltlich bin ich mir, was die Zukunft angeht, nicht ganz so sicher. Wird alles wieder so, wie es vorher war? Es ist denkbar, dass Wirtschaft, Gesellschaft und Politik so durcheinandergewirbelt werden, dass sich mittelfristig vieles ändert.

Gestern hörte ich in meiner Umgebung mit Erstaunen von folgenden konkreten Reiseplänen: jetzt Flug in die Karibik und von dort mit Kreuzfahrtschiff nach Europa. Die Reise wurde vom Veranstalter inzwischen abgesagt.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Tja, formal gut gelungen. Inhaltlich bin ich mir, was die Zukunft angeht, nicht ganz so sicher. Wird alles wieder so, wie es vorher war? Es ist denkbar, dass Wirtschaft, Gesellschaft und Politik so durcheinandergewirbelt werden, dass sich mittelfristig vieles ändert
Lieber Arno,

danke für deinen Kommentar, die Bewertung und das Lob.
Ja, ob wirklich alles wieder ganz genauso wird wie vorher? Das frage ich mich auch. Nicht unwahrscheinlich, dass sich vieles ändert (z. B. diese Föderalismus-Geschichte, deretwegen es ewig gedauert hat, bis mal eine Entscheidung über Fußballspiele mit oder ohne Zuschauer und Schulschließungen flächendeckend getroffen wurde).

Gestern sah ich eine alte Folge einer deutschen Serie und mir fielen die ganzen Selbstverständlichkeiten auf, die momentan keine Selbstverständlichkeiten mehr sind: Hände schütteln, Feiern, Urlaub.....

LG SilberneDelfine
 
Liebe Delfine, inzwischen weiß ich, warum mir dein Text auf Anhieb eingeleuchtet hat, obwohl ich doch sonst ein Erzskeptiker bin und vielleicht auf die Heile-Welt-Vision allergisch reagieren müsste - was du als Traum beschrieben hast, wird tatsächlich so geträumt, wenn man sich sehr bedrückt fühlt. Irgendetwas muss doch dran sein an Freuds Theorie vom Traum als Wunscherfüllung. Nie ist die Welt heiler als nachts im Traum, wenn sie einem beim Zubettgehen wie ein einziges unlösbares Problem vorkommt.

Vorhin knapp einstündiger Spaziergang in der Nähe, wegen Gesundheit. Bei meiner Friseurin Zettel an der Tür: Diesen Sonnabend geschlossen. Bei der Wohnungsbaugenossenschaft, in der ich Mitglied bin, noch ein frischer Zettel: Für den Publikumsverkehr bis zunächst 31.3. geschlossen.

Was die zeitliche Perspektive angeht, ein Fund aus dem Tagesspiegel, Interview mit dem Leiter des Gesundheitsamtes Treptow-Köpenick: "Ich war gestern in der brasilianischen Botschaft, im letzten Konzert, das dort gegeben wurde. Da war es schon ziemlich leer, und ohne dass dort ein Hinweisschild gestanden hätte, haben sich alle Paare und Grüppchen auseinandergesetzt. Die Botschaft unterbricht übrigens ihre Veranstaltungen für ein ganzes Jahr, die sehen es also realistisch." Realistisch, sagt der Mann.

LG Arno Abendschön
 
Lieber Arno,

obwohl ich doch sonst ein Erzskeptiker bin und vielleicht auf die Heile-Welt-Vision allergisch reagieren müsste - was du als Traum beschrieben hast, wird tatsächlich so geträumt, wenn man sich sehr bedrückt fühlt.
Ich hatte beim Schreiben eine Art "Anti-Dystopie"-Geschichte im Sinn. Normalerweise wäre ja alles, was im Text beschrieben wird, nicht im geringsten erwähnenswert. Normalerweise - aber in Coronavirus-Zeiten ist nichts mehr normal.

Die Botschaft unterbricht übrigens ihre Veranstaltungen für ein ganzes Jahr, die sehen es also realistisch." Realistisch, sagt der Mann.

Das klingt wahrhaftig gruselig......

LG SilberneDelfine
 
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