Eine Impression mit dem Titel "Kontrast" (aus dem Alltag eines psychisch Kranken)

Passt der Titel zur Geschichte?

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neurosurgery

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„Angst und Geld habe ich nicht“, dachte er, „und Geduld schon gar keine.“ Dann überquerte er den Fussgängerstreifen der Hauptstrasse ohne nach links oder rechts zu sehen. Der schwarze Wagen, der deswegen eine Vollbremsung einleiten musste, kam halbwegs auf dem gelben Fussgängerstreifen zu stehen. Dem Autofahrer war anzusehen, dass er nicht wusste, ob er sich nun aufregen oder schämen müsse. Er hingegen kannte das schon. Routiniert schenkte er dem Wagenlenker ein herzhaftes Lächeln, um sich dann darum zu kümmern, seine Boombox auf den Gehsteig der anderen Seite der Strasse zu hieven. Während er die schwere Kiste anhob, sang er eine Zeile des Liedes seiner Playlist mit. Ein Lied, auch wenn es kein besonderes war, war jetzt interessanter, als die Tatsache, dass er gerade beinahe überfahren wurde. Er verwunderte sich wie immer über seine eigene Gelassenheit, zuckte etwas mit den Schultern und ging weiter zu seinem Minivan. Er öffnete als erstes den Kofferraum und legte seine Boombox behutsam hinein. Dann drückte er den Knopf, auf dem „Super Bass“ geschrieben stand und freute sich darüber, wie das ganze Gehäuse des Wagens zu vibrieren begann.

Er setzte sich auf den Fahrersitz, zündete sich eine Zigarette an, während er sein Smartphone in die dafür vorgesehene Halterung legte und tippte, während er bereits losfuhr, einhändig eine Adresse in das Navigationsprogramm ein.

38 Minuten später parkierte er seinen Wagen auf dem Parkplatz einer Privatklinik. Es gäbe keine festen Parkplätze hier, hiess es in der Broschüre, die er in der Nacht zuvor per E-Mail erhalten hatte. „Bin auch schon mit Schlimmerem davon gekommen…“, dachte er und parkierte seinen Minivan auf einem Parkplatz für Angestellte. Er zog seine Maske an und begab sich über einen Kiesplatz mit einigen Platanen zum Gebäude, das in goldenem Schriftzug mit „Empfang“ angeschrieben war. Er grüsste die Empfangsdame, die einen grau karierten Blazer trug und stellte sich vor.

„Auf Grund von Corona müssen Sie sich noch einer Untersuchung unterziehen. Bitte begeben Sie sich zum Untersuchungszimmer.“, informierte ihn die Empfangsdame freundlich. Sie beschrieb ihm den Weg zum Corona-Untersuchungswartesaal peinlich genau, etwas befremdlich, zu klar und deutlich – „So als ob sie viel Zeit hätte?“, fragte er sich. Nach der Platane hielt er sich also links und ging die Treppe hoch zu dem beschriebenen Holzgebäude. Er öffnete die Tür und spähte in den leeren Wartesaal. Da war nur ein Stuhl, über dem ein Schild hing, auf welchem stand, dass sich hier nur eine Person aufhalten dürfe. Also schloss er die Tür wieder, ohne in den Raum hineinzugehen und rauchte eine Zigarette. Dann kam sie auch schon, die Corona-Untersuchungsdelegierte. Sie hatte blondes, kurzes Haar und trug eine Maske. „Die sehen alle gleich aus, hier“, dachte er und begrüsste die Frau mit einem Lächeln. „Rauchen Sie ruhig fertig.“, sagte sie mit etwas zu selbstverständlich wirkender, verständnisvoller Stimme. „Wieso sind hier alle Menschen so nett?“, dachte er und zündete wie selbstverständlich seine zweite Zigarette an. „Es ist kein Verbrechen, krank zu sein.“, sagte die Frau, als hätte sie seine Gedanken erkannt.

Im Untersuchungssaal, der eigentlich nur eine Gemeinschaftküche war, in die man einen Tisch und Stühle gestellt hatte, wurde er gebeten, sich zu setzen.

„Haben Sie Corona-Symptome?“
„Ich habe Raucherhusten.“
„Andere Symptome oder Erkrankungen der Atemwege?
„Nein.“

Auch der Rest des Interviews lässt sich in kurz etwa so zusammenfassen:

„Sind Sie todkrank?“ – „Nein.“
 



 
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