Eine Reise nach Llanydloes

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Bo-ehd

Mitglied
Während die Wartenden auf dem Bahnsteig ein ums andere Mal voller Ungeduld auf die Bahnhofsuhr starrten, als hofften sie, dass der Zug dadurch pünktlicher einfahren würde, gewann ein Junge von etwa fünfzehn Jahren die Aufmerksamkeit der Reisenden. Er klebte gerade ein Plakat an die Fassade des Bahnhofsgebäudes, das eine Sensation für die ländliche Gegend hier in den Waliser Bergen ankündigte: Die berühmte Sängerin Sabrina Lindhurst lud zu einem Opernabend am 15. Oktober 1928 in die Stadthalle von Tywin. Das war die Ortschaft, aus der der Zug kam, der die Wartenden nach Llanydloes mitnehmen sollte.

Als die betagte Dampflok endlich zum Stehen kam und die Reisenden sich in die Waggons drängten, war bereits abzusehen, dass ihre Zahl groß genug war, um die vier Waggons bis auf den letzten Platz zu füllen. Noch bevor alle einen Sitzplatz gefunden hatten, setzte sich das Stahlross wieder in Bewegung.

Im Abteil Nr. 6 für Nichtraucher hatten acht Personen Platz genommen. Auf der Bank links, von der Türseite aus gesehen, ein etwa vierzigjähriger Mann mit Halbglatze, Nickelbrille und einem Jackett, das an den Ärmeln und Ellenbogen abgewetzte Stellen aufwies, was in diesem Kohlerevier nicht ungewöhnlich war.

Rechts neben ihm hatte sich eine junge Frau gesetzt, deren Figur sofort die Blicke der Männer auf sich zog. Sie hatte auffallend große Brüste und trug eine Bluse, die einen großzügigen Blick auf ihr Dekolletee gestattete. Zudem war ihr Rock ein wenig zu kurz geraten. Er brachte ein Paar schlanker Beine zum Vorschein, die sie fest aneinanderpresste.

Rechts von ihr eine weitere Dame. Sie mochte um die fünfzig Jahre alt sein und ließ den Eindruck aufkommen, als sei sie eine Beamtenwitwe. Ihre Haare waren hochgesteckt, und das war schon das Auffälligste an ihr. Keine Ausstrahlung, saubere, intakte Kleidung, gepflegte Hände, die auf der Seite zu ihrer Sitznachbarin eine Lederhandtasche umklammerten.

Den Fensterplatz hatte sich ein junger Mann gesichert, der ein kariertes Jackett und ebensolche Knickerbockerhosen trug. Er hockte wie ein Häufchen Elend da und begann sofort, kaum dass alle ihr Gepäck in den Netzen über ihnen verstaut hatten, ein Buch aufzuschlagen und zu lesen. Er blickte hin und wieder auf, vertiefte sich aber sofort wieder in seine Lektüre.



Auf der gegenüberliegenden Bank hatten es sich ebenfalls zwei Frauen und zwei Männer bequem gemacht, soweit die hart gepolsterten und mit Kunstleder bezogenen Bänke ein komfortables Sitzen überhaupt erlaubten. Am Fenster, gegenüber dem Buchleser, saß ein etwas besser gekleideter älterer Herr mit grauem Schnurrbart, der anteillos geradeaus starrte und offensichtlich froh war, dass unter den Reisenden keine Konversation in Gang gekommen war, der er zuhören musste. Er vermittelte den Eindruck, als sei er aus gutem Hause, aber verarmt, denn sonst wäre er wohl in einer besseren Klasse unterwegs.

Rechts neben ihm eine etwa dreißig Jahre alte hübsche Frau, die ständig versuchte, den Titel des Buches zu lesen, das der Mann gegenüber in der Hand hielt. Aber dessen Finger überdeckten den Großteil der Titelzeile. So interessiert, wie sie tat, hätte sie eine Lehrerin sein können.

Rechts von ihr hatte ein Mann mittleren Alters Platz genommen, der ärmlich gekleidet war und sehr unternehmungslustig aussah. Er buhlte um die Blicke der Großbusigen gegenüber, hatte aber allein schon wegen seiner kohlegefärbten Hände mit den schwarzen Fingernägeln wohl keine Chance.

Ganz rechts, an der Tür, saß eine attraktive Vierzigerin, die sauber gekleidet war und mit ihrer roten Jacke alle Augen auf sich zog. Sie hatte lange schwarze Haare, die sie offen trug. An ihren Handgelenken und Fingern prangte Schmuck. Gewiss kein teurer, mehr symbolischer Art. Auf ihrem Schoß stand eine lederne Tasche, über die sie beide Arme gelegt hatte. Ihre ganze Körperhaltung ließ erkennen, dass sich in dieser Tasche etwas Wertvolles oder Wichtiges befunden haben musste, das unversehrt an seinen Bestimmungsort verbracht werden musste.



Es kommt nicht oft vor, dass in dieser Gegend kein einziges Wölkchen den Himmel über den Bergen trübt. Doch an diesem Septembertag fuhr der Zug unter königlichem Blau, und die tiefstehende Sonne flutete die Abteile mit einem blendenden Licht wie selten. Die Passagiere, die es wagten, durch eines der von Rauch und Nebel getrübten Scheiben zu schauen, entdeckten in der festgebackenen, lichtdurchschienenen Schmutzschicht bisweilen die schillernsten Farben.

Auf fast halber Strecke nach Llanydloes fuhr der Zug an den Ufern eines kleinen Sees mit kohlrabenschwarzem Wasser entlang. Bergbauregion halt. Regenwasser wurde zum Auswaschen verwendet oder hatte seit Jahren mit jedem Guss ganze Staublandschaften von den Förderflächen des Tagebaus gespült. Hinter dem See, bei Kilometer 42, musste der Zug einen Berg durchqueren. Der Tunnel war zweieinhalb Meilen lang und von den Fahrgästen gefürchtet, weil ständig Rauch in das Innere der Waggons drang, der sich auch durch Öffnen der Fenster danach nur sehr langsam verflüchtigte. Mit mäßiger Geschwindigkeit – es ging immer noch leicht bergauf – fuhr der Zug in den Tunnel. In den Abteilen wurde es schlagartig stockdunkel. In diesem Augenblick begann ein nicht enden wollendes Klagen, Jammern, Empören, Verbitten und Hilferufen der anwesenden Frauen:

„He, was machen Sie denn da?“

„Was tun Sie da? Warum müssen Sie jetzt an Ihr Gepäck?“

„Sie stehen auf meinem Fuß!“

„Autsch! Sind Sie verrückt geworden?!“

„Hände weg, Sie Ferkel!“

„Ich darf doch bitten!“

„Lassen Sie die Tasche los, Sie Grobian!“

„Meine Brüste gehen Sie gar nichts an, Sie Unverschämter!“

„Zwischen den Äußerungen größter Empörung war plötzlich ein kurzes Händeklatschen zu vernehmen, als hätte jemand applaudiert.

Lassen Sie doch meine Tasche los, verdammt nochmal.“

„Finger weg da! Sie sind ein richtiges Schwein! Ich werde die Polizei rufen.“

„Hilfe! Mir ist ein Koffer auf den Kopf gefallen.“

„Ich weiß, wer Sie sind! Ich werde Sie anzeigen!“

„Nun hören Sie doch auf, Sie Lüstling!“

„Kann denn mal jemand Licht anmachen? Mit einem Streichholz vielleicht?“

„Was kichern Sie denn so blöd. Ich hab keine Lust, mich begrapschen zu lassen. Nun hören Sie doch auf.“

„Ihr Kerle seid eklig!“

„Da wühlt einer über mir im Gepäck! Wir werden bestohlen!“

„Vater im Himmel, brich doch diesen Unholden die Knochen, verdammt nochmal!“

„Alles Schweine, die Männer. Es gibt keine Gentlemen mehr auf dieser Welt!“

„Wenn ich nach Hause komme … das glaubt mir wieder kein Mensch.“

„Wie lange dauert denn der Tunnel noch?“

„Nehmen Sie doch endlich Ihre Pfoten weg, Sie Mistkerl!“

„Sie Trampel, Sie zerquetschen mir die Füße!“



Bei Kilometer 44 nahm das Martyrium ein Ende. Für zwei, drei Sekunden konnte man hellgrauen, fast weißen Rauch an den Fenstern vorbeieilen sehen, dann kehrte das Licht zurück, tauchte die Abteile in einen grellen Schein, den niemand wahrzunehmen imstande war. Wie von tausend Sonnen bestrahlt, saßen die Reisenden reglos auf ihren Plätzen und blinzelten und warteten, teils mit zusammengekniffenen Augen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Die Passagiere auf der linken wie auf der rechten Bank saßen da, als sei nichts geschehen. Ihre Köpfe waren rot oder irgendwie erhitzt. Die der Frauen wohl, weil die Aufdringlichkeiten und Belästigungen unerträglich waren und die Angst gewichen war, weil alle Taschen und das Reisegepäck unversehrt und vollzählig waren. Die Männer, weil sie wohl froh waren, dass ihr Treiben in der völligen Dunkelheit anonym geblieben war. Wer konnte schon wem etwas zuordnen?



Der Mann mit dem Buch erhob sich, legte seinen Lesestoff so auf seinen Sitz, dass sein Gegenüber und die Dame neben ihm endlich den Titel lesen konnten. Er ließ seinen Blick noch einmal kurz über die Mitreisenden gleiten: den Nickelbrillenträger, die Vollbusige und die vermeintliche Beamtenwitwe auf der Bank, auf der auch er gesessen hatte, und gegenüber der Ältere mit dem Schnauzer, die an seinem Buch Interessierte, den Kumpel und die Frau in der roten Jacke. Dann verließ er das Abteil und ging linker Hand den Gang entlang zur Dienstkabine des Schaffners.

„Und, Officer? Haben Sie sich jetzt selbst davon überzeugen können, was hier bei der Fahrt durch den Tunnel geschieht?“, fragte der Schaffner.

„Habe ich, in der Tat. Um ehrlich zu sein: Ich habe es vorher nicht glauben wollen.“

„Das kommt hier jede Woche vor, manchmal sogar drei oder vier Mal. Die Leute beschweren sich, ich leite die Vorfälle weiter, aber es passiert nichts. Haben Sie wenigstens einen verhaften können?“

„Wie sollte ich? Ich habe nichts gesehen, es war ja stockdunkel. Die Frauen wissen ja selber nicht, wer an ihnen herumgegrapscht hat. Wie soll ich denn da einem vor Gericht etwas nachweisen? Die lachen mich doch aus!“

„Und? Was sollen wir nun tun?“

„Trennen Sie Männlein und Weiblein“, scherzte der Officer.

„Das wäre ein Rückschritt in Victorianische Zeiten.“

„Hatte ich auch nicht ernst gemeint. Aber Spaß beiseite: Sorgen Sie dafür, dass während der Tunnelfahrt in jedem Abteil ein Licht brennt. Keine Kerze, die man ausblasen kann, elektrisches meine ich. Dann sind Sie schlagartig alle Sorgen los.“

„Ich werde Ihren Vorschlag weiterleiten. Ach, was ist eigentlich mit Ihrer Wange los? Sieht nach allen fünf Fingern einer Hand aus. Gab es Handgreiflichkeiten?“



*

Am 30. April 1938, also knapp zehn Jahre später, hat die London and North Eastern Railway (LNER) begonnen, auch die alten Züge, wie sie auf den wenig befahrenen Strecken in den Walisischen Bergen eingesetzt waren, mit einer Notbeleuchtung auszurüsten.
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo Bo-ehd,

...nett! Die Briten sind ja eine absolute Kulturnation, die Überspitzung ist hier sehr gut gelungen. Witzig, spritzig und geografisch auf Nebengleisen, für viele ein bestimmt bislang unbekanntes Terrain. -
Enjoyed it! Mit Gruß, Klaus
 

Bo-ehd

Mitglied
Danke, Klaus, für Meinung und Punkte. Diese Bahnfahrt hat tatsächlich stattgefunden, aber erst in den Siebzigern und ohne all die Nebengeräusche. Die Mitfahrenden haben aber zu dieser Story eingeladen, so dass ich sie erfinden musste. Eine Bahnfahrt, die ist lustig...
Gruß
Bo-ehd
 
Hallo Bo-ehd,
deine Geschichte habe ich sehr gerne gelesen. Ich habe dabei gehofft, die extrem britische Zurückhaltung würde siegen: "No explaining, no complaining", besonders im Dunkeln. So aber könnte das Ereignis überall stattgefunden haben, außer vielleicht in Deutschland. Da wäre bereits beim ersten Übergriff die Notbremse gezogen worden. Die befand sich jedoch vermutlich links neben dem Mann mit Halbglatze, von dem aus gesehen sich alles andere rechts abspielte. Gut erzählt. Gruß Horst
 



 
Oben Unten