Einsatz

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Lusija

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Einsatz

Es ist sieben Uhr morgens. Ich rubble mir mit dem Handtuch das letzte Wasser aus den kurzen nassen Haaren und steige schwerfällig in meine Jeans. Der letzte Einsatz sitzt mir noch in den Knochen. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, nach dieser Nacht so einfach in Alltagskleidung zu steigen. Als ob man in ein völlig anderes Leben einsteigt nur durch das Wechseln der Kleidung. Feuerfeste Jacke, Stiefel mit Stahlkappen, Helm auf der einen Seite, Jeans und T-Shirt auf der anderen Seite. Auf der Wache und draußen. Ob man sich da jemals dran gewöhnen wird? Ich überlege, welchen der älteren Kollegen ich in einem ruhigen Moment mal beiseite nehmen kann, um nachzufragen. „Du, kommst du dir auch manchmal komisch vor, nach einer Schicht einfach so weiter zu machen, als wäre nichts passiert? Als hätte man nicht gerade erst Menschen gesehen, die alles verloren haben, weil ein unachtsamer Moment ein Feuer ausgelöst hat? Als wäre das Auto auf der Autobahn nicht zerquetscht unter dem LKW gelegen? Zugegeben, unsere Einsätze sind nicht immer so dramatisch. Gestern früh hatten wir einen ziemlich lustigen Einsatz mit Reh im gepflegten Rosengarten. Hat sich nicht so ganz vertragen, die Mischung Rosen und Reh. Als wir das Tier im angrenzenden Wald wieder freigelassen haben, sprang es mit wilden Bocksprüngen davon. Das hatte ich zuvor auch noch nie gesehen. Bilder, die man nie vergisst. Leider sind bockige Rehe nicht das Einzige, was mir von dieser Schicht in Erinnerung bleiben wird.
Müde laufe ich durch den Flur Richtung Besprechungsraum. Kollegen der neuen Schicht, die mir entgegen kommen, nicken mir freundlich zu, erwarten aber keine große Reaktion. Sie kennen die Einsätze der letzten Nacht, wissen, wie erschöpft wir alle sein müssen. Vielleicht fragt sich der eine oder andere auch, was ihn heute so alles erwartet. Weiß man in unserem Job nie so genau im Voraus. Eigentlich mag ich das ganz gerne. Ständig Neues, immer auf neue Situationen einstellen, keine Langeweile….
Vor der Tür des Besprechungsraumes bleibe ich stehen, die Türklinke schon in der Hand. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich schon über den gestrigen Einsatz sprechen möchte, sprechen kann. Es war einfach zu knapp. Hinter mir räuspert sich jemand. Ich drehe mich um und sehe meinen Kollegen Danny. Er mustert mich wissend und greift um mich herum an die Türe, öffnet sie und schiebt mich mit sanftem Druck in den Raum. „Glaub mir, es ist besser, das gleich zu besprechen.“ Er muss es ja wissen, schließlich ist er schon länger dabei als ich. Also lasse ich mich von ihm zu einem Stuhl begleiten und nehme darauf Platz. Wie der Morgenkreis in der Grundschule, schießt es mir durch den Kopf und unwillkürlich muss ich lächeln bei dem Gedanken, wie gestandene Feuerwehrmänner ein Guten-Morgen-liebe-Sonne-Lied schmettern. Tom betritt den Raum. Er ist unser Zugführer und wird die Nachbesprechung übernehmen. Ernst schaut er in die Runde, sortiert seine Papiere und dann geht’s los.
„Ich weiß, ihr seid alle müde und wollt vermutlich nur noch nach Hause und ins Bett. Darum machen wir’s kurz. Die Einsätze der letzten Schicht. Um sieben Uhr dreißig Einsatz des KEF, Reh im Garten,… ich schweife ab. Toms Stimme verschwimmt mit den Geräuschen im Hintergrund. Papier raschelt, es räuspert sich jemand, eine Kaffeetasse wird auf den Tisch gestellt. Ich sehe das Reh vor mir, wie es im langen Sätzen im Wald verschwindet. Das Bild des Rehs wird schlagartig überlagert von dem eines weißen Sprinters, der auf der Seite liegt, total zerbeult, Löschschaum tropft von den Seiten und fließt ins Fahrzeuginnere…
„… der letzte Einsatz der Schicht“ sagt Tom gerade, als Danny mich anstupst. „Schläfst du?“, fragt er grinsend. Ich schüttle ein wenig beschämt den Kopf. „Quatsch, natürlich nicht“, antworte ich ein wenig hastig. Tom schaut zu uns herüber. Schnell setzen wir beide eine professionelle Miene auf und tun so, als ob wir konzentriert zuhören. Ich bin sicher, Tom hat uns durchschaut. Er ist ein Profi, seit Jahren dabei. Er sagt aber nichts.
„Auch für uns erfahrene Kollegen war der Einsatz auf der Landstraße 29 sehr ungewöhnlich. Vorne weg, es gibt noch keine Neuigkeiten die verunfallte Person betreffend. Sobald ich was weiß, gebe ich euch Bescheid. Da der Einsatz so ungewöhnlich war, würde ich gerne ein wenig von der üblichen Routine abweichen. Ich möchte, dass jeder von euch erzählt, was ihm in Erinnerung geblieben ist, wie er den Einsatz erlebt hat. Danny, kannst du anfangen, du warst als Erster an der Einsatzstelle.“
Danny setzt sich aufrecht hin. Er fährt sich durch die kurzen schwarzen Haare und denkt kurz nach. „Max und ich sind mit dem KEF als Erste an der Einsatzstelle angekommen. Wir waren gerade auf dem Rückweg von einem anderen Einsatz, als wir alarmiert wurden. An der Einsatzstelle lag ein Sprinter auf der Seite, halb um einen Baum gewickelt. Ein PKW stand quer auf der Fahrbahn, die Polizei war schon vor Ort mit drei Einsatzwagen. Das hat mich kurz stutzig gemacht, wir sind dann aber gleich die Lage erkunden gegangen.“


Während Danny weiter erzählt von dem Mann, der den PKW gefahren hat, Kategorie grün, dem Fahrer des Sprinters, grün und dem Beifahrer, gelb, dem Rauch, der aus der Motorhaube drang, sehe ich wieder den weißen Sprinter vor mir. Den Löschschaum, der aus meinem Rohr in hohem Bogen auf den Transporter trifft, durch die zerbrochene Fensterscheibe läuft. Die Fahrerkabine fast schon geflutet, der Schaum verschwindet durch die kleine Scheibe an der Laderaumwand im hinteren Teil des Sprinters.
„… wussten wir alle vorher nicht. Gemeldet waren drei verletzte Personen, keiner mehr im Fahrzeug eingeklemmt. Hilfestellung bei Fahrzeugbrand und auslaufendem Betriebsmittel war die Alarmierung“, ergänzt Tom gerade. Ich versuche, mich zu konzentrieren aber das gelingt mir nur schwer. Der weiße Sprinter und die Berge von Löschschaum lenken mich ab. Der Schaum, mit dem ich beinahe einen Menschen getötet hätte. Mich schaudert. Plötzlich wird mir die Stille im Raum bewusst. Ich schaue auf und sehe, dass alle Augen auf mich gerichtet sind. Mist, was habe ich verpasst? Tom nickt mir aufmunternd zu. „Leg los. Du bist als nächstes dran.“ Womit? Kurz bin ich irritiert, dann fällt es mir wieder ein. Einsatzbesprechung. Ich bin dran. Ich räuspere mich und hole tief Luft. Womit soll ich bloß anfangen? „Fang mit dem Anfang an“, schlägt Danny mit einem Grinsen im Gesicht vor. Haha, wie kann er nur jetzt schon wieder Witze machen? Zugegeben, er war nicht derjenige, der fast eine junge Frau getötet hat. Vielleicht tatsächlich getötet hat. Ich fürchte mich vor dem Anruf aus dem Krankenhaus.
„Der Sprinter lag auf der Seite, die hinter Tür zum Laderaum war völlig eingedrückt, man konnte nicht ins Innere sehen. Der Wagen lag so an einen Baum gedrückt, dass die Räder sich auf der anderen Seite fast wieder berührten. Aus der Motorhaube, die leicht offen stand, kam etwas Rauch, Öl lief auf die Straße. Danny hat zusammen mit den Kollegen vom LF1 gleich angefangen, Bindemittel auf das Öl zu streuen und ich hatte den Auftrag, die Batterie abzuklemmen. Dabei fiel mir die starke Hitzeentwicklung im Motorraum auf. Das habe ich gemeldet und nach Rücksprache mit dem Fahrer und Beifahrer des Sprinters, dass sich niemand mehr im Fahrzeug befunden hatte, sollte ich den Wagen mit Löschschaum eindecken, um einen Brandausbruch zu verhindern.“ Ich schlucke. Ich weiß, was jetzt als nächstes kommt. Tom nickt mir zu. „Ich habe dir den Auftrag dazu gegeben, das weißt du?“ fragt er. Ich nicke. Klar weiß ich das. Aber ich habe das Rohr gehalten, ich habe das Fahrzeug geflutet. Mit der Frau im Laderaum.
„Kurz nachdem wir begonnen haben, den Sprinter mit Löschschaum zu fluten, kam ein Beamter der Polizei angerannt und rief mir zu, da wäre vermutlich noch eine Person im Sprinter“, fährt Tom fort. Um ich bin wieder an der Einsatzstelle, mittendrin. Ich bemerke gar nicht, wie ich weiterspreche, erzähle. Zunächst stockend, dann immer schneller.
„Ich habe Tom über Funk rufen gehört, ich solle sofort den Schaum abstellen. Ich habe erst mal nachgefragt, weil mir das so komisch vorkam. Sofort abstellen, vermutlich Person im Sprinter, hast du mich angebrüllt. Ich habe den Sprinter ungläubig gemustert. Wo soll da jemand drin sein, schoss es mir durch den Kopf. Das Fahrerhaus ist leer. Zwei leere Sitzplätze, Fahrer und Beifahrer werden gerade im Rettungswagen untersucht. Der Löschschaum bedeckt die Sitze, das Lenkrad, fließt durch das kleine Fenster in den Laderaum… Der Laderaum! Ich lasse das Rohr fallen und renne auf den Transporter zu. „Danny, ist der Wagen gegen Bewegung gesichert? schreie ich, während ich schon halb im Führerhaus stecke. Erst Eigenschutz, ich weiß. Aber die Vorstellung, dass da jemand im Löschschaum steckt, den ich da verteilt habe, ist grauenvoll. Löschschaum erstickt Feuer, weil er keinen Sauerstoff durchlässt. Auch nicht für Menschen, die drunter liegen. Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken. Danny. „Langsam“, mahnt er. Ich nicke, bin mir nicht sicher, ob er das sehen kann. Mein Oberkörper steckt schon im Sprinter, ich bin durch die Frontscheibe geklettert. Das Fensterchen zum Laderaum ist gerade groß genug, um sich durchzuquetschen. „Ich schaue nach“ rufe ich ihm zu. An mein Funkgerät komme ich nicht, es hängt am Gürtel und der ist noch außerhalb des Laderaums, zusammen mit meinen Beinen. Zum Glück habe ich daran gedacht, die Taschenlampe in die Hand zu nehmen, bevor ich mich durchs Fenster quetsche, es ist stockdunkel im hinteren Teil des Wagens. Mühsam versuche ich, mich zu orientieren. Vielleicht hätte ich erst einmal mit der Kamera reinleuchten sollen. Keine Ahnung, warum ich so kopflos gehandelt habe. Ich sehe Kisten und Kartons, durcheinander gefallen, teilweise geöffnet, durch den Unfall ist ein heilloses Chaos entstanden. Der Boden, das war mal die Seite des Wagens, schießt es mir durch den Kopf, ist mit Löschschaum bedeckt, bestimmt 15 cm hoch. Wo soll denn hier jemand sein? Ich will mich schon rückwärts wieder aus dem Fenster schieben, da sehe ich den Schuh. Ein Frauenschuh, blauer Turnschuh mit silbernen Sternen. Glitzer. Ein grün-gelb-rot geringelter Socken, ein Hosenbein. Jeans. Ich schiebe mich mühsam ganz durch die Öffnung. „Hier liegt jemand, ich erkunde“, funke ich. Dann taste ich mich am Bein entlang nach oben. Der Lichtkegel der Taschenlampe erhellt eine Szenerie, die ich nicht verstehe. Eine junge Frau liegt auf dem Boden, halb mit Kisten bedeckt, die Hände über dem Kopf erhoben, von dem nur noch die Nasenspitze aus dem Löschschaum ragt. Ich muss mich zwingen, die Beine und Arme zu bewegen. Vorsichtig, um nicht noch mehr Kisten ins Rutschen zu bringen, krabble ich in Richtung des Kopfes. Ich versuche, ihn über den Schaum zu halten und dabei den Nacken zu stabilisieren. Warum sind die Hände so weit oben? Ich versuche, sie an den Körper zu legen und stelle fest, es geht nicht. Danny schiebt mir einen Stiffneck durch die Öffnung. Dann streckt er seinen Kopf hinterher. „Lage?“
Ich lege der Frau den Nackenschutz an. „Bewusstlose Person, Atmung flach, Puls rast. Danny, ich glaube, die ist hier angekettet, ich bekomme die Arme nicht frei.“ Ich kann mich noch ganz genau dran erinnern, wie Danny erstaunt die Augenbrauen hochgezogen hat. Das konnte man trotz des Helms und der Maske erkennen. „Brauchst du Werkzeug?“ Ich schiebe vorsichtig ein Bein unter den Oberkörper der Frau, um ihr Gesicht noch ein wenig weiter vom Löschschaum zu entfernen. Ich kann hier nicht weg, sage ich. Sobald ich sie loslasse, versinkt sie im Schaum. „Alles klar, bleib so. Wir kümmern uns.“ Danny verschwindet wieder. Dann höre ich Toms Stimme über Funk. „Wir versuchen, den Transporter von außen aufzuschneiden, um die verletzte Person zu bergen. Beste Ansatzstelle ist das Dach. Verletzte Person befindet sich im hinteren Teil des Transporters. Wir versuchen, so weit wie möglich vorne zu schneiden. Wie sieht es mit der Ladung aus? Entzündliche Materialien?“ Ich lasse meine Taschenlampe über die Ladung wandern. „Sieht nach Papierkisten und Kartonage aus. Inhalt unklar“, melde ich. Die Frau in meinem Schoß stöhnt. Ich habe schon Menschen mit einem Schock gesehen. Aber noch nie hat jemand der Beschreibung im Lehrbuch so sehr entsprochen. Ich wusste nicht, dass jemand so kreidebleich werden kann. Vorsicht versuche ich, die Arme frei zu bekommen. Als ich den Löschschaum ein bisschen zur Seite schiebe, sehe ich Handschellen an den Handgelenken. Sie fesseln die Frau an einen Ring in der Sprinterwand. Danny reicht mir den Universalschlüssel der Polizei durch das kleine Fenster. Es ist zu eng hier hinten, er kann nicht rein und mir helfen. Mühsam fummle ich mit dem Schlüssel herum. Wenn ich näher ran könnte, wäre es einfacher. Aber ich kann meinen Platz halb unter der Frau nicht verlassen, sonst versinkt sie im Schaum. Endlich sind die Hände frei. Jetzt kann ich versuchen, uns beide in eine bequemere Lage zu bringen. Für die Frau am Besten wäre flach auf dem Boden, wer weiß, welche Verletzungen sie durch den Unfall davongetragen hat. Ich mustere das bleiche Gesicht und entdecke Prellmarken. Oder ob sie davor schon welche hatte, wundere ich mich. Flatternd öffnen sich die Augen der jungen Frau. Sie stöhnt leise und versucht, sich zu orientieren. Als sie mich bemerkt, fängt sie an, sich zu bewegen. Ihr Atem wird hektischer, als sie versucht, mich wegzuschieben. „Sie sollten sich nicht so viel bewegen, Hilfe ist unterwegs. Sie hatten einen Unfall“ versuche ich, sie zu beruhigen. Das hilft nicht viel. Die Panik in ihren Augen ist riesengroß. Sie tut mir so furchtbar leid. Was ihr wohl passiert ist? Offensichtlich erkennt sie nicht, dass ich ihr nur helfen möchte. Eine unbekannte Stimme dringt durch das Fenster. „Können Sie mir einen kurzen Abriss geben, wie es der Patientin geht?“ Das muss der angeforderte Notarzt sein. Er schiebt sich mit dem Oberkörper durch die Öffnung, weiter geht es nicht, zu eng. Draußen höre ich meine Kollegen schneiden und fräsen. „Sie darf sich nicht bewegen“, höre ich den Arzt sagen. „Versuchen Sie, sie still zu halten.“ Leichter gesagt als getan. Ich murmle der Frau beruhigende Worte zu. Was genau, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe ihr von dem Reh erzählt. Langsam werden ihre Bewegungen weniger hektisch, ihr Blick ein wenig klarer. „Feuerwehr?“ fragt sie dann plötzlich mit krächzender Stimme. Ungläubig, hoffnungsvoll. Ich nicke und lächle sie an. Tut mir leid, dass ich Sie fast in Löschschaum ertränkt habe. Das kann man in so einer Situation wohl schlecht sagen, oder? Also erzähle ich weiter vom Reh, von den Kollegen, die draußen alles unternehmen, sie so schnell wie möglich hier raus zu bekommen. Die Frau schließt die Augen wieder. Ihr Oberkörper ist immer noch zum größten Teil vom Schaum bedeckt, sie atmet so flach, dass ich kurz befürchte, ich halte eine Leiche im Arm. Aber die Ader an ihrem Hals pulsiert noch, wenn auch nur schwach erkennbar im Lichte der Taschenlampe. Ich streiche ihr die Haare aus der Stirn, halte sie fest und erzähle ihr von der Katze auf dem Birnbaum. Lauter Geschichten von glücklichen Tierrettungen. Was soll ich auch sonst tun? Der Notarzt wollte einen Zugang legen, aber wegen des Schaums kann man nichts machen. Er ist einfach überall.
Da knackt es direkt über uns laut und es fällt plötzlich Licht ins Dunkel. Noch nie war ich so froh, die Gesichter meiner Kollegen zu sehen. Die Öffnung wird immer breiter und ich höre, wie beratschlagt wird, welche Art der Rettung wohl die Beste wäre. Spineboard, besser KED,… Ich beobachte das Gesicht der Frau. Ob sie noch etwas von all dem mitbekommt. Ich hoffe für sie, dass sie sich hinterher an nichts erinnern kann. Die Vorstellung, in einem Sprinter an die Wand gefesselt einen Unfall zu haben und dann beinahe im Löschschaum zu ertrinken, ist so verrückt und so entsetzlich, dass ich wirklich hoffe, sie hält das alles für einen schlechten Traum. Die Hände der Frau sind zu Fäusten geballt, die Knöchel treten weiß hervor. Hat sie Schmerzen? Vermutlich schon. Sie zittert am ganzen Körper. Stöhnt immer wieder leise. Ich kann leider nicht sehr viel machen, höre ich mich flüstern. PAKT, höre ich meinen Ausbilder sagen. Präsenz zeigen, Abschirmen, Kommunikation, Teilnahme… das geht immer. Also mache ich, was ich schon die letzte Viertelstunde getan habe. Händchen halten, Geschichten erzählen, Schaum wegschieben…
Eine Kiste nach der anderen wird um uns herum weggeräumt. Der Schaum fließt endlich ab, als die Öffnung groß genug ist. Ich bleibe, wo ich bin, halte die Frau fest und erzähle. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob sie etwas davon hört.
Irgendwann schiebt mich jemand mit sanftem Druck zur Seite. Die Frau verschwindet durch die Öffnung nach draußen. Welches Rettungssystem haben meine Kollegen verwendet? Ich habe nicht aufgepasst. Ich habe Geschichten erzählt. Von Rehen und Katzen. Vielleicht von Feuerwehrleuten mit Löschschaum.
Es ist still um mich herum. Ich blinzle, habe ein Gefühl, als ob ich aus einem langen Traum aufgewacht bin. Ich bin nicht mehr im Sprinter, ich sitze auf einem Stuhl im Besprechungsraum. Tom nickt mir zu. „Danke für deine Sicht des Einsatzes“, sagt er. Danny klopft mir auf die Schulter. „Gut gemacht.“ Ich bin verwirrt. „Ich habe den Sprinter mit Schaum geflutet“ höre ich mich sagen. „Ich habe Geschichten erzählt.“ Tom nickt. „Du warst da, das zählt.“ Er räuspert sich. „Einen Kritikpunkt habe ich.“ Jetzt kommt es. „Der Schaum war zum damaligen Zeitpunk die einzig richtige Wahl.“ Toms Stimme wird härter. „Aber das nächste Mal will ich, dass du mit den Kollegen Rücksprache hälst, bevor du in ein Unfallauto kletterst, ist das klar?“ Ich nicke. Werde ich jetzt nicht für das Beinahe-Ertränken der Frau gerügt? Langsam dringen Toms Worte und die der anderen Kollegen zu mir durch, die nun ebenfalls ihre Sicht des Einsatzes zu Protokoll geben.
Ein Handy klingelt. Tom verlässt den Raum. Kurze Zeit später kommt er zurück, die Polizei. Der Fahrer hat gestanden. Er und der Beifahrern hatten einen Getränkemarkt überfallen, die Kasse gestohlen. Die Frau war eine Kundin, zur falschen Zeit am falschen Ort. Als Zeugin musste sie verschwinden. Die beiden Männer haben sie Hals über Kopf mitgenommen. Auf einer Raststätte hat eine Familie Geräusche aus dem Sprinter gehört und die Polizei gerufen. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd kam es zu dem Unfall. Der Fahrer hatte zunächst angegeben, die Frau unterwegs freigelassen zu haben. Der Beifahrer hat kurz darauf ein Geständnis abgelegt. Knapp drei Zentimeter Schaum an der Katastrophe vorbei.

Vier Wochen später bekommen wir auf der Wache eine große Kiste mit einem Kuchen von einer örtlichen Bäckerei. Dazu eine Postkarte aus einer Reha-Klinik im Schwarzwald. Vorne auf der Karte ein Reh. Hinten nur ein Wort: Danke.
 
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Sehr spannende Geschichte, angemessen atemlos erzählt, und offensichtlich mit dem nötigen Insider-Wissen, um einen Feuerwehr-Einsatz realistisch darzustellen. Und schöne Pointe, dass das, was am meisten geholfen hat, das Erzählen von Geschichten war. Ein paar kleine Schnitzer sind mir aufgefallen:
„Fang mit dem Anfang an“, grinst Danny.
Worte kann man nicht grinsen
Nicht nur der Rechtschreibfehler, für so eine originelle Geschichte fällt dir bestimmt auch eine originellere Überschrift ein
klein schreiben
doppel f
Taschenlampen eröffnen nichts
Oder davor schon hatte, wundere ich mich
wahrscheinlich: ob sie die davor schon hatte
Die Frau war eine Kunde,
Kundin
vor der Katastrophe vorbei.
an der Katastrophe vorbei
 

Lusija

Mitglied
Danke für die Rückmeldung! Ich werd den Text überarbeiten. Dass mir die Schreibfehler nicht aufgefallen sind...:rolleyes:
 



 
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