ELfen und Zwerge

DER SEE



Darsteller:
Julia: (entspricht ca. 17 MJ) Elfe, makellos, schüchtern, eher kühl wirkend nach außen, Außenseiterposition
Raik: (entspricht ca. 19 MJ) Zwerg, hübsch, wenig schüchtern
Julias Eltern: Nela (entspricht ca. 56 MJ), Tuomas (gestorben)
Osmek: Nelas Freund, egoistisch, herrschend
Raiks Eltern: tot
Melok (entspricht ca. 17MJ) Zwerg, Gimez (entspricht ca.18 MJ) Zwerg, sind Brüder von Raik





„Julia, wo steckst du denn schon wieder? Dieses verzogene Gör! Julia!“ Osmek war erbost. „Red doch nicht immer so über sie, sie ist doch noch fast ein Kind...“flüsterte Nela eingeschüchtert. „Deshalb ja! Treibt sich den ganzen Tag sonstwo herum, anstatt uns hier mal zu helfen. . Sie wird schon sehen, was sie davon hat! Nela, ist das Essen angerichtet? Wo bleibt mein Met?“ „Sofort, Osmek, sofort!“ Nela beeilte sich, das Essen zuzubereiten.

Julia indessen saß im tief Wald auf ihrem Lieblingsbaum und beobachtete ein Rudel Wölfe, das in der Mittagssonne döste. Sie war gerne hier. Hier hatte sie Zeit, über alles nachzudenken oder einfach mal abzuschalten.
Die Sonne stand hoch und es war sehr warm. Julia saß dort in ihren Lieblingssachen, einem schwarzen Rock und einem engen, ebenfalls schwarzem Shirt, dass leicht durchsichtig war. Schuhe trug sie fast nie, sie liebte es, das weiche Moos unter ihren Füßen zu spüren.
Julia war gern alleine. Viel Trubel um sie herum hatte bis jetzt nur Pech gebracht.
Ihr Vater war früh gestorben und Freunde hatte sie nie gehabt.
Doch ihre Mutter Nela hatte Angst, alleine zu sein und so kam sie mit Osmek zusammen. Alleine dieser Name verursachte bei Julia ein Ekelgefühl und eine unangenehme Gänsehaut.
Nein, sie wollte jetzt nicht daran denken...
Eine Träne kullerte über ihre Wange.

Am späten Nachmittag machte sie sich auf den Weg nach Hause. Das Wolfsrudel war bereits zur Jagd aufgebrochen. Geschickt kletterte sie den alten Baum hinunter. Ihr war jeder Ast vertraut.
Schon von weitem hörte sie das Brüllen Osmeks und das eingeschüchterte Wimmern ihrer Mutter. Sie hatte Angst. Angst vor ihm.
„Hallo, ich bin wieder da.“ ,rief sie so freundlich wie eben möglich in die kleine Wohnstube. Doch bevor sie nach oben gehen konnte, hörte sie die schweren Schritte Osmeks. „Warte, ich glaube, wir haben da noch etwas zu besprechen...“ Noch bevor Julia wußte, was sie sagen oder tun sollte, holte er aus.
Sie fiel auf den Boden.
Sie sah ihre Mutter am Türpfosten stehen. Dicke Tränen rannen über ihre abgemagerten Wangen. Sie schluchzte leise.
„Hilf morgen gefälligst deiner Mutter! Siehst du nicht, wieviel Arbeit sie hat?“ brüllte er sie an.
Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen.
Plötzlich wurde seine Stimme seltsam sanft und er hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Komm her, mein Liebes, du weißt, dass ich es nicht so meine, sieh mal, ich gehe den ganzen Tag arbeiten und abends möchte ich auch gerne mal ausspannen. Verstehst du das nicht?“ Er drückte sie so fest an sich, dass es ihr weh tat. Doch sie unterdrückte einen Schrei. Sie wußte, das würde ihn rasend machen.
Über die Schulter hinweg sah sie ihrer Mutter direkt in die Augen. Doch sie wich aus und ging, um ihm noch ein Met aus dem Keller zu holen.
„Nun schlaf schön, mein Liebes!“ Er drückte ihr einen dicken, sabbernden Kuß auf den Mund. Angewidert zog sie zurück und lief so schnell sie konnte die Treppe in ihr Zimmer hinauf.
Hinter sich hörte sie nur noch das schallende Lachen Osmeks.

Lange konnte sie nicht einschlafen. Sie dachte an ihre Mutter, sie dachte an IHN. Voller Ekel zog sie die Bettdecke höher. Ihr letzter Gedanke gehörte dem Wolfsrudel, bevor sie einschlief.
Es war ein unruhiger Schlaf, mit wirren Träumen, in denen sie Schreie hörte und manchmal wachte sie auf und erkannte voller Schrecken, dass dies die Schreie ihrer Mutter waren, die meist wie nach einem dumpfen Aufprall erstarben.



Am nächsten Morgen wurde sie früh von ihrer Mutter geweckt. Sie war bleich und sah aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Auf die Frage Julias hin, wie es ihr ginge blockte sie nur ab und sagte bloß, dass sie schlecht geschlafen hätte.
„Kannst du bitte Beeren sammeln gehen? Ich wollte heute abend gerne Waldbeerenkompott kochen, aber unsere Vorräte sind fast zu Ende.“
Julia stimmte zu und freute sich, ihrer Mutter einen Gefallen tun zu können. Freundlich bejahte sie Nela’s Frage und erzählte noch, dass die Wölfe Junge bekommen hatten, doch sie antwortete nur trocken, dass das ja schön sei, drehte sich um und verließ schweigend das Zimmer.

Julia nahm sich ihren schwarzen Beutel und bürstete sich durch ihr fast knielanges Haar. Sie sah aus dem Fenster und sah, dass es heute wohl wieder heiß werden würde. Sie schlüpfte in ihre Kleider und verließ das Haus.
Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter am Fenster. „Kommm nicht wieder so spät“, rief sie und verschwand wieder im Inneren.

Sie lief Richtung des Flußes, um vor dem Beerensammeln baden zu gehen. Am Fluß angekommen legte sie ihren Beutel ab und ließ ihre Kleider in das Moos sinken. Als ihr Fuß das Wasser berührte, bekam sie eine Gänsehaut am ganzen Körper. Das Wasser war klar und kalt. Sie ging tiefer hinein.

Etwa zur gleichen Zeit machte sich Raik, Melok und Gimez auf den Weg, um jagen zu gehen. Melok und Gimez hatten ihre Äxte dabei, während Raik seinen Langbogen bevorzugte. Oft wurde er deshalb ausgelacht, doch das machte ihm recht wenig.
Auf der großen Waldlichtung sahen die drei Zwerge 2 Rehböcke stehen. Sie ästen am frischen Gras. Raik hob den Finger an den Mund, um den anderen zu signalisieren, leise zu sein, und spannte seinen Bogen. In diesem Augenblick stürmten Gimez und Melok jedoch los und mit einem gewaltigen Kampfgebrüll und hoch erhobenen Äxten stürmten sie auf die jungen Böcke zu. Diese sprangen jedoch geschickt mit ein paar Sprüngen in das Unterholz, so dass die beiden nicht hinterherkamen. „Ihr verdammten Dummköpfe!“ schrie Raik, „ich hätte ihn sicher getroffen! Oh mann, was seid ihr doch für Idioten..“ Doch die beiden lachten nur und machten sich auf den Weg in das Dickicht. „Nun gut, jagt ihr auf eure Weise, ich gehe alleine! Mal sehen, wer mehr Erfolg hat...“ Wütend über die anderen stampfte er in die andere Richtung, zum Fluß.

Eine Mutter mit ihrem Rehkitz sprang ihm über den Weg. Beiden würde er nichts tun, er wußte, dass keiner von den beiden ohne den anderen überleben konnte. Also schlich er weiter. Plötzlich blieb er stehen; er hörte eine leise Melodie. Noch nie in seinem Leben hatte er solch eine schöne Stimme gehört. Langsam folge er ihr.
Die Melodie vermischte sich mit dem Rauschen des nahegelegenen Flusses. Durch einen Strauch konnte er Bewegungen wahrnehmen. Vorsichtig bog er ein paar Äste zur Seite...

Was er dort sah, verschlug ihm die Sprache. Sie war eine Elfe, das war zweifelsohne klar. Ihre schlanke, zierliche Gestalt und die leicht spitzen Ohren wiesen unmißverständlich darauf hin. Ungewöhnlich waren ihre pechschwarzen Haare. Trotzdem war er sich ihrer sicher. Er konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Sie war so hübsch, so makellos. Sie stand bis zur Hüfte im Wasser, und ihre Haare schwammen in der leichten Strömung. Ihre Bewegungen waren so schön, so fließend. Niemals zuvor hatte er etwas schöneres zu Gesicht bekommen. Er hatte schon Elfen gesehen, natürlich , aber niemals etwas so Perfektes. Als er sie so beobachtete, wurde er traurig und Zweifel stiegen in ihm auf. Sie war eine Elfe... und er, er war nuneinmal ein Zwerg. Das durfte nicht sein, niemals würde er sie berühren, oder begehren dürfen. Er wandte sich von ihr ab und setzte sich mit dem Rücken zu dem Busch gewandt ins Gras.



Langsam watete sie aus dem Wasser heraus und legte sich ans Ufer, um zu trocknen. Die Sonne kitzelte sie in der Nase und sie mußte niesen. Sie lächelte. Nach einiger Zeit schlüpfte sie in ihre Kleider und machte sich auf den Weg zur Waldlichtung, wo die meisten Beeren wuchsen.
Auf dem Weg dorthin sah sie eine Rehmutter mit ihrem Kitz. Sie sah kurz auf, äste dann aber weiter. Julia freute sich über diesen Anblick der Ruhe und ging weiter. Sie lächelte.

Plötzlich hörte sie ein Knacken im Unterholz, das sie nicht zuordnen konnte. Kurz darauf hörte sie ein fürchterliches Gebrüll und zwei Zwerge kamen mit erhobenen Äxten auf sie zugestürmt. Sie erschrak, lief aber nicht weg.
„Hey, Elfchen, was tust du hier? Warum verjagst du unsere Beute?“ keifte Melok sie an. „Ja, warum bleibst du nicht da, wo du hingehörst?“ grummelte Gimez böse. Julia blieb ganz ruhig. „Das ist nicht euer Recht, eine Rehmutter mit ihrem Kitz zu jagen. Ihr verstoßt gegen das Gesetz.“ „Pah, vielleicht gegen euer lächerliches Elfengesetz! Warum sollten wir darauf oder auf dich Rücksicht nehmen?“ Gimez wurde immer wütender. „Ich..ich verlange keine Rücksicht auf mich, nur, laßt die Rehe in Frieden...“ „Hast du gehört, was ES gesagt hat, Melok? ES sagte, es verlangt keine Rücksicht! Okay, Elfilein, wie du wünschst!“ Wie auf Kommando stürmten sie los und rempelten Julia dabei so grob an, das sie zu Boden fiel. Als sie sich umsah, war nichts mehr von den beiden zu sehen, nur noch ihr Geschrei hörte man meilenweit.

Gerade als sie aufstehen wollte, sah sie abermals einen Zwerg angerannt kommen. Als er sie sah, wurde er jedoch langsamer und ging langsam auf sie zu. Julia bekam etwas Angst, denn dieser Zwerg sah noch muskolöser als die anderen aus. Doch als er näher kam, sah sie, dass er nicht so grimmig dreinschaute und faßte neuen Mut. Als er vor ihr stand, reichte er ihr wortlos seine Hand. Verärgert ignorierte sie diese und stand alleine auf. „Ich bin Raik...ich..“ “Es ist mir vollkommen egal, wer du bist, oder wie du heißt!“ Julia war sehr verärgert. „Ich habe für heute ehrlich genug von euch Zwergen! Ich nehme an, diese zwei Rüpel gehören zu dir?“ „Ich..ja, das sind meine Brüder, Melok und Gimez... ich habe gesehen, was passiert ist... es.. es tut mir leid!“ „Es..es tut dir leid? Glaubst du, das interessiert mich auch nur ein bißchen? Deine Gefühle sind mir vollkommen egal, ich denke eher an das Rehkitz, das nun jämmerlich verhungern muß, weil seine Mutter von zwei verrückt gewordenen Zwergen getötet wurde...“

Einen Augenblick lang sahen sie sich sprachlos an. Raik war fasziniert von der Eleganz, der Anmut der Elfe, gleichzeitig war er überrascht, wieviel Kraft in diesem Geschöpf steckte. Julia war wütend, doch als sich ihre Blicke trafen, veränderte sich etwas in ihr. Der Ärger war so gut wie vergessen, sie war nur noch darauf bedacht, ihn sich genauer anzusehen. Er war wirklich sehr muskulös. Er hatte lange, dunkelbraune Haare, die hinten bis über die Schulterblätter reichten. Seine Augen waren dunkelbraun und scheinbar unendlich tief. Irgendwie ging ihr dieser Blick direkt ins Herz. Sie erschrak vor sich selber, drehte sich urplötzlich um und rannte tief in den Wald. Raik rief noch ein „Warte doch!“ hinter ihr her, doch Julia war nirgends mehr zu sehen.

Lange Zeit saß sie auf ihrem Baum. Sie sah die Wolfsmütter, die ihre Neugeborenen säugten und sie lieb umsorgten. Sehnsüchtig dachte sie an ihre Mutter. Sie hatte niemals so viel Zuwendung bekommen, und solange Osmek leben würde, erhoffte sie sich auch keinerlei Besserung – im Gegenteil. Die Wölfe wurden unruhig. Ein paar Männchen kamen zurück, sie hatten Beute geschlagen. Es war ein junges Kitz.



Raik war die Lust am Jagen für heute vergangen. Er ging zurück zum Fluß und fing vier kleine Fische. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Er war nachdenklich. Diese Elfe ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wußte nicht einmal ihren Namen... Würde er sie jemals wiedersehen?
Zu Hause machte er Feuer und nahm die Fische aus. Kurze Zeit später hörte er das Grölen seiner Brüder immer näher kommen.

Julia war eingeschlafen. Auf dem Baum konnte sie schlafen, ohne von schlechten Gefühlen oder Gedanken geplagt zu werden. Nie hatte sie hier einen Alptraum gehabt.
Sie träumte. Sie träumte von einem Leben ohne Osmek, sogar von einem Leben ohne ihrer Mutter. Ein Leben, in dem sie ganz alleine war. Keine Sorgen, keine Schmerzen mehr. Der Wald würde ihr einziger Freund sein. Doch auf einmal kam eine Gestalt auf sie zu. Diese Gestalt war ohne Gesicht. Sie kam auf Julia zu und schloß sie wortlos in seine Arme. Soviel Geborgenheit hatte Julia niemals erfahren, sie wollte, dass dieses Gefühl niemals endete. Doch gerade in diesem Moment schreckte sie hoch. Die Sonne stand schon tief. Als sie vom Baum herabstieg, dachte sie an ihre Mutter – und die Beeren...

In der Zwergenhütte herrschte ausgelassene Stimmung. Melok und Gimez hatten das Erlegen des Rehs mit ein paar Flaschen Met gefeiert und sprangen nun liedersingend über die Tische. Raik hingegen hatte nichts von dem Reh gegessen. Er lag auf seiner Matte und dachte an SIE. Er wußte, dass er sie nicht lieben durfte, doch er wußte auch nicht, gegen seine Gefühle anzukämpfen. Ein lautes Klopfen an seiner Tür riß ihn aus seinen Gedanken. „Du Miesmacher, willst du den ganzen Abend da drin bleiben? Komm und trink doch einen mit!“
„Ja, Melok, gleich..“ Die Tür wurde aufgerissen. „Ich kann das gar nicht mit ansehen! Raik, großer Bruder, so kenn ich dich ja gar nicht! Was ist los?“ „Melok..ich..“ Raik verstummte. Er konnte mit niemandem darüber reden. Selbst mit seinem Bruder nicht. Seid dem Tod ihrer Eltern waren die drei Brüder auf sich selber angewiesen und das hatte sie eng zusammengeschweißt. Doch Raik hatte als Ältester quasi die Vaterposition eingenommen und fühlte sich verpflichtet, seinen Brüdern gegenüber keine Schwäche zu zeigen. Mit dem Geständnis, er hätte sich in eine Elfe verliebt, wäre das mehr als Schwäche zu zeigen. Sie würden ihn verbannen und er wußte, dass sie ihn brauchten. Auch brauchte er sie. Ein Leben ohne die beiden konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „...ich...Wo ist der Met? Lass uns feiern!“ „Das ist der Raik, den ich kenne! Prost!“



Julia hatte schnell noch ein paar Beeren gepflückt, doch die Sonne stand schon so tief, dass die Bäume lange Schatten warfen. Als sie zu Hause ankam war ihre Mutter vor dem Haus, Wäsche von der Leine holen. Sie sagte nichts, sah sie bloß traurig an. Julia dachte, im Abendlicht einen großen Schatten unter ihrem linken Auge erkennen zu können, doch als sie es näher betrachten wollte, drehte sich Nela schnell weg.
Also ging sie ins Haus. Osmek saß betrunken in der Wohnstube und fluchte leise vor sich hin. Sie stahl sich unbemerkt an ihm vorbei in die Küche. Sie sah in die Regale und fand nicht mehr als ein paar Gewürze. Sie überlegte angestrengt und dann viel ihr doch noch ein Gericht ein, welches man aus diesen Zutaten zaubern könnte: Balesch, ein sättigendes Mahl bestehend aus Brot und einem Gemisch aus Beeren und einigen Kräutern. Schnell bereitete sie dies zu und brachte es zu Osmek in die Stube. Doch der beachtete sie kaum. „Ich - - habe Essen für dich gemacht.“ Er sah kurz auf, verfiel dann wieder in sein eintöniges Murmeln. „Du - - du möchtest wohl nichts, hmm?“ Wieder sah er auf, sah sie seltsam an, sprang unverhofft auf und stürzte auf sie zu. Julia ließ vor Schreck die Schüssel fallen, war aber unfähig, sich zu bewegen. Osmek packte sie am Arm. „Sogar unfähig, eine Schüssel zu halten, was?! Mal sehen, wozu man dich überhaupt gebrauchen kann..“ Julia erstarrte regelrecht. Osmek lachte hämisch. Sabber lief ihm aus seinem Mundwinkel. „Na, Liebes, zeig mir, wozu du nicht unfähig bist!“ Dann schubste er Julia auf den Boden und war über ihr. Julia roch seinen Atem. Er war heiß und stank erbärmlich. Mit seiner riesigen Hand packte er ihren Arm, holte sich den anderen dazu und hielt beide mit einer Hand fest. Noch immer lachte er.
Julia fühlte sich noch nie so hilflos. Sie merkte seine Hand auf ihrem Körper. Sie war hart und Julia sah keine Möglichkeit, zu entkommen. Doch als seine Hand tiefer wanderte und sich ihrem Schritt näherte, schrie sie. Sie schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Osmek war so verdutzt darüber, das er einen Moment lang von ihr abließ. Diesen Moment nutzte sie aus und stieß ihm mit voller Wucht mit ihrem Knie in seine Weichteile. Er schrie auf, und rollte von ihr runter. Sie sah sein Gesicht. Es war schmerzverzerrt. Es widerte sie an. Ohne auch nur noch eine Sekunde zu zögern, lief sie aus dem Haus. Sie lief einfach an ihrer Mutter vorbei, die ins Haus gekommen war, um zu sehen, was das für ein Schrei war. Sie wollte auch ihr nicht mehr in die Augen gucken.
Also rannte sie, ohne sich auch nur noch einmal umzuschauen.


Die 3Mann Party war in vollem Gange. Melok und Gimez hüpften und sprangen noch immer singend und gröhlend über die Tische, während Raik einen Krug Met nach dem anderen leerte. Der Mond war inzwischen aufgegangen. In der Ferne schrie eine Eule. Melok und Gimez konnten nicht mehr. Mehrere Stunden hintereinander waren sie herumgetanzt. Nun half einer dem anderen vom Tisch herunter, was recht lustig aussah, da sie sich eher gegenseitig runterrissen. Am Ende lagen sie beide schnarchend halb neben, halb unter dem Tisch. Raik schüttelte den Kopf. Er fing an, zu lachen. Nach einer Weile schnappte er sich abermals einen vollen Krug und verließ damit das Haus. Er brauchte Luft.

Julia rannte und rannte. Ein paarmal sah sie sich um, ob ihr auch wirklich niemand folgte. Sie lief zu ihrem Baum. Den kannte niemand. Auch würden keine Fährtenleser helfen, denn sie mußte vorher durch den kleinen Bach, kurz hinter der Lichtung. Niemand würde sie finden, denn niemand sollte sie finden. Die Wölfe bemerkten sie, als sie näher kam, doch sie guckten nur träge; sie hatten sich schon an ihre Anwesenheit gewöhnt.
Nun saß sie auf ihrem Baum. Sie wollte weinen, doch sie konnte es nicht. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Es war alles so unwirklich. Nun saß sie also da und beobachtete die Wolfsmännchen, die die Nacht über Wache hielten.

Raik torkelte ohne Ziel durch den nächtlichen Wald. Er hatte Kopfschmerzen. Soviel getrunken hatte er lange nicht mehr. Er war nun schon sehr lange unterwegs. Er fror, denn er hatte sich in dem kleinen Bach nasse Füße geholt. Die Nacht war klar und hell, und der Mond schien voll. Er ging weiter und weiter. Doch bald wurde er müder und müder. Er konnte nicht mehr. So setzte er sich mit dem Rücken an den nächsten Baum und schlief sofort ein.

Er erwachte durch ein tiefes Knurren. Als er sie Augen öffnete, sah er einen riesigen Wolf mit gefletschten Zähnen, direkt vor sich stehen. Sofort war er hellwach. Doch er wagte nicht, sich zu bewegen. Vorsichtig schaute er nach links und rechts. Immer mehr Augenpaare reihten sich um ihn. Er war verloren, dessen war er sich ganz sicher.

Julia merkte, wie die Wölfe plötzlich unruhig wurden. Die Männchen hatten die Nase hoch in den Wind gehalten, immer wieder kurz aufbellend, die schlafenden Tiere erwachten nach und nach. Alle liefen in eine Richtung. Julia bekam Angst, denn sie dachte an Osmek. War er ihr doch gefolgt? Das war unmöglich. Ihre Mutter hätte die Entfernung unmöglich geschafft, vor allem nicht in diesem Tempo. Wer also war es dann? Ein Tier? Sie wurde neugierig und kletterte geschickt vom Baum. Sie war nicht sicher, wie die Wölfe auf sie reagieren würden, doch was hatte sie schon zu verlieren? Sie folgte den Wölfen in geringem Abstand. Diese beachteten sie ohnehin kaum. Also lief sie inmitten der Wölfe zu dem mysteriösen Eindringling.

Der Mond schien hell und so konnte sie schon von weitem erkennen, dass es kein Tier war, das die Wölfe beunruhigte. Sie sah die Angst in seinen Augen, in denen sich das Mondbild spiegelte. Und dann erkannte sie ihn. Sie konnte sich nicht irren. Sie war komplett verwirrt. Was wollte er hier? Warum war er ihr gefolgt? Doch sie ließ sich ihre Zweifel nicht anmerken und ging zielstrebig auf ihn zu. Als das große Männchen sie bemerkte, hörte es auf zu knurren. Es ging so weit zur Seite, das Julia vorbei konnte, blieb aber weiterhin aufmerksam – jeder Muskel in seinem Körper war gespannt.

Raik dachte inzwischen, er sei am träumen. Als nun auch noch die Frau seiner Träume vor im stand, schloß er nur noch die Augen. Wenn er sie wieder öffnen würde, wäre alles vorbei, dessen war er sich ganz sicher. Er wartete einen Augenblick. „Was machst du hier?“ fragte sie hart. Er schreckte auf seinen Gedanken auf und öffnete langsam die Augen. „Ich...ich weiß nicht....ich träume wohl...“ „Ganz und gar nicht!“ fuhr sie ihn an.
Der große Wolf knurrte nun wieder. „Ist ja schon gut...ich weiß wirklich nicht, was ich hier mache...aber...was machst du eigentlich hier? Was...was soll das hier mit den Wölfen?“ „Laß uns ersteinmal woanders hingehen!“ Sie wußte selbst nicht, warum sie das sagte. Raik wußte gar nicht mehr, was er sagen sollte, also sagte er gar nichts und folgte ihr einfach.


Sie gingen zu dem Baum. Raik schaute sie ungläubig an, als sie unter dem Baum standen und sie die ganze Zeit heraufsah. „Ich soll doch nicht etwa..?!“ „Los, rauf da jetzt!“ Julias Stimme ließ keinen Widerspruch zu. „Ich bin ein Zwerg, ich hoffe, du hast das nicht vergessen. Zwerge hassen Boote und die Höhe. Aber hier ist soviel passiert, also werde ich mich wohl dazu hinreißen lassen, auf diesen Baum zu steigen..“ Julia wippte unruhig hin und her. Für so etwas hatte sie nun wirklich keine Zeit. Kurzerhand schnappte sie sich den tiefhängensten Ast und zog sich daran hoch. Raik wurde flau im Magen, als er daran dachte, dort hinaufklettern zu müssen. Wieder sah er nach oben. Was er da sah, ließ ihn seine Angst vergessen. Julia war vorausgeklettert, sodass er sie von unten sah. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er erklomm schließlich die Äste. Doch er hatte sich wohl überschätzt. Er sah einmal nach unten. Das war ein Fehler. Ihm wurde schwindelig und er taumelte. Julia bemerkte dies und reagierte sofort. Sie schnappte sich seinen Arm und zog ihn in eine große Astgabelung. Als Raik bemerkte, wie ihm geschah, wunderte er sich über ihre Stärke.

Nun saßen sie beide in dem alten Baum und sahen sich an. Keiner wußte recht, was er dem anderen sagen sollte, beide wußten, dass ein gewaltiges Kribbeln in der kühlen Nachtluft lag. Sie sahen sich tief in die Augen. Ihre Stimme klang nun etwas freundlicher: „Tut mir leid wegen eben. Ich wußte nicht, wer du warst und was du hier wolltest. Ich...“ „Ist schon in Ordnung. Mir tut es leid. Ich wußte nicht, dass du hier wohnst..“
Julia fand, dass sich das gut anhörte und beließ es ersteinmal dabei.

Lange saßen sie nun da und schwiegen sich an. Julia sah Raik an, dass er irgendetwas sagen oder fragen wollte.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragte er verlegen. Julia antwortete ihm. „Hmm..Julia..das ist ein sehr schöner Name!“ Sie schwieg. „Ich, ich möchte dir gerne etwas zeigen, Julia.. das heißt, falls du willst...“ Julia sah ihn prüfend an. Nach einiger Zeit stieg sie ohne ein Wort zu sagen vom Baum. Danach half sie ihm hinunter.
Als sie beide unten waren sahen sie sich wieder schweigend an.
Er nahm ihre weiche Hand und ging mit ihr in das Dunkel des Waldes.

Der Mond schien hell und voll. Keine Wolke verdeckte den Nachthimmel. Ganz in der Nähe schrie ein Käuzchen. Lange gingen sie schweigend nebeneinander her. Julia verlor nach einiger Zeit komplett die Orientierung, was sie sehr verängstigte, da sie dieses Gefühl nicht kannte. Raik bemerkte ihre Unsicherheit und beruhigte sie: „Fürchte dich nicht! Es ist der Wald, der dich zweifeln läßt. Er läßt nicht jeden hierher.“ Julia fragte sich, was er wohl damit meinte, sagte aber nichts, sondern nickte nur.

Das Blätterdach über ihren Köpfen wurde dichter und dichter. Teilweise war der Mond ganz verschwunden und es war stockdunkel am Waldboden. Doch Raik bewegte sich so sicher, als ob hellichter Tag sei. Mit ihm an ihrer Hand fühlte sie sich sicher und geborgen. Trotzdem war sie unsicher. Wo war sie hier? Wo wollte Raik mit ihr hin? Warum kannte sie sich nicht mehr aus in ihrem eigenen Wald? Diese Fragen quälten sie, doch sie wußte, dass sie im Augenblick keine Antwort von Raik erhalten würde, also schwieg sie weiterhin.

Ein leises Plätschern erklang in ihrem Ohr. Sie blieb stehen und versuchte, die Richtung des Baches auszumachen. „Der Bach liegt direkt vor uns, schöne Elfe. Ich hoffe, du scheust keine nassen Füße?“ Raik lächelte. Insgeheim mußte er wieder an das Geschehen am Fluß denken. „Aber nein, ich werde dir folgen.“ Raik nickte und führte sie immer tiefer in das Dunkel. Das Plätschern war nun ganz nah. Raik ließ unverhofft ihre Hand los, um die Böschung hinunterzuklettern. Julia fühlte sich hilflos. Wenn Raik sie jetzt allein ließe, wüßte sie nicht mehr weiter. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich seine starken Hände an ihrer Hüfte fühlte. „Ich helfe dir herunter.“ Noch bevor sie etwas erwidern konnte, hob er sie hoch und trug sie ein Stück weit in den Bach hinein.

Er fühlte ihren Herzschlag. Er ging schnell. „Hab keine Angst, ich lass dich schon nicht ins Wasser fallen“ ,lachte er und setzte sie behutsam ab. Sie lächelte. Das Wasser war eisig kalt und verursachte eine Gänsehaut. Trotzdem war es ein angenehmes Gefühl. Unter ihren Füßen spürte sie vom Wasser glattgespülte Steine. Kleine Fische kitzelten ihren Fuß. Sie lachte. Er sah sie nur an und lächelte.

Julia wandte sich von ihm ab und wollte den Bach hinunter laufen. Raik rief noch „Warte!“, doch es war zu spät. Sie trat auf einen moosbewachsenen Stein und rutschte aus. Raik lief sofort zu ihr. „Ist alles in Ordnung?“ fragte er besorgt. „Siehst du das nicht?“ grummelte sie. Dann sahen sie sich an und sie fing an zu lachen. Völlig durchnäßt lag sie da im Wasser und lachte. Raik war zuerst verwirrt, konnte sich dann doch das Grinsen nicht verkneifen und lachte schließlich mit. Eine ganze Zeit lang vermochte keiner von ihnen, aufzuhören. Schließlich reichte er ihr die Hand und als sie danach griff, zog er sie aus dem Bach. Er war wie bezaubert.

Sie bemerkte seinen Blick und sah beschämt zu Boden. Behutsam streichelte er ihre nasse Wange. Sie sah ihn nun wieder an. Sie hatte das Gefühl, in seinen Augen zu versinken. Wortlos zog er sie an sich und umarmte sie. Julia war verschreckt über sein plötzliches Verhalten, so dass sie vollkommen überstürzt handelte. Sie stieß ihn energisch von sich, Raik taumelte und verlor in seiner Überraschung ebenfalls das Gleichgewicht. Als Julia merkte, was geschehen war, vergaß sie ihren Zorn und lachte los. Sie hörte von ihm bloß ein unverständliches Grummeln, dann stand er auch schon wieder vor ihr. Auch er lächelte.



„Es tut mir leid, das.. das hätte ich nicht tun sollen.“ Raik hatte totes Holz aufgesammelt und auf einer nahegelegenen Lichtung bereitete er nun ein kleines Feuer zu. Julia saß bloß da und starrte in die Flammen. Sie fror. Raik war diese Situation mehr als unangenehm. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Wortlos zog er seinen Überwurf aus und breitete ihn neben dem kleinen Feuer aus. „Ich habe leider nichts Trockenes, was ich dir anbieten könnte. Sobald mein Hemd getrocknet ist, kannst du es sofort anziehen.“ Julia ignorierte seine Worte. Sie war in Gedanken versunken. Raik betrachtete sie noch eine Weile. Es war ganz still im Wald, nur hörte man ab und zu ein kleines Tier im Unterholz rascheln. Der Mond warf vereinzelte Strahlen durch das dichte Blätterdach. Einer fiel direkt auf Julia.

Nach einiger Zeit stand sie auf. Gimlis Blicke folgten ihr besorgt, doch sie beachtete ihn nicht. Sie dachte unentwegt an ihre Mutter. Wie es ihr im Moment erginge war wohl nicht schwer zu erraten, aber – würde sie sie jemals wiedersehen? Sie zuckte zusammen, als Raik sanft ihre Hand berührte. Er bemerkte dies und zog die Hand umgehend zurück. Nun sah sie ihn direkt an. „Hast du eine Waffe bei dir? Ich möchte jagen.“ Verwundert über diese Frage schüttelte er instinktiv den Kopf, griff aber gleichzeitig in seine kleine Bauchtasche, die er Tag und Nacht um seinen Leib trug. Er wühlte einen Moment darin herum und zog einen kleinen Dolch heraus. „Der ist wohl eher zum Ausnehmen von Fischen... Mein Langbogen steht in meinem Haus..“ Julia sah ihn ungläubig an. „Langbogen? Nun ja, wie dem auch sei.. Ich habe Hunger. Leihst du mir deinen Dolch?“ Ihre Stimme klang hart und gar nicht mehr so sanft wie am Bach. Raik nickte und gab ihr den Dolch. Sie nickte ihm bloß dankend zu, drehte sich um und verschwand im Wald. Raik sah ihr nach.

Ihre Gedanken schwirrten allesamt durcheinander. Sie konnte kaum noch klar denken. Sie brauchte Freiraum. Es war stockfinster, abgesehen von den vereinzelten Mondstrahlen, die unwirklich hell schienen. Ein paar mal stolperte sie. Sie hörte eine leise Melodie. Sie blieb stehen, um die Richtung auszumachen. Erfolglos. Sie schien von überall her zu kommen. Sie ging weiter. Sie wußte nicht, wo sie hinging und plötzlich wurde ihr gewahr, dass sie total die Orientierung verloren hatte. Sie konnte das kleine Feuer die ganze Zeit über sehen, doch urplötzlich war es verschwunden. Verloren blickte sie sich um.

Als sie in die Baumkronen blickte, wurde ihr schwindelig. Die Bäume mußten schon uralt sein. Sie ging zu einem besonders großen, um ihn genauer zu betrachten. Sie berührte ihn sanft mit ihren zarten Fingerspitzen. Die Rinde war mit einer dicken Moosschicht überwuchert. Es fühlte sich weich an. Sie lehnte ihren Kopf an den dicken Stamm. Wieder dachte sie an ihre Mutter. Zweifel durchströmten ihre Gedankenwelt. Sie hätte sie nicht allein lassen sollen. Dieses Schwein! Eine Träne kullerte lautlos an ihrer Wange hinunter.

Ein leises Geräusch. Nicht weit von ihr. Ein Tier? Raik? Sie bewegte sich nicht. Nahe berührte ein breiter Mondstrahl den Waldboden. Dahinter meinte sie ein Huschen bemerkt zu haben. Noch immer stand sie bewegungslos an dem Baumstamm. Ihr Herz schlug schnell. Das konnte nicht sein...

Das Einhorn schritt lautlos in das Mondenlicht. Es hatte den Kopf erhoben und schaute sich aufmerksam um. Es lag keine Furcht in seinen schönen Augen; nur Interesse. Sein Horn schimmerte bläulich im Licht. Es schnaubte leise und senkte den Kopf, um von dem saftigen Moos zu fressen. Ab und zu sah es sich um, als erwartete es jemanden. Sein Fell schimmerte wie purer Samt. Es war sehr ruhig geworden im Wald.


Julia hatte nie zuvor etwas schöneres gesehen. Die Tränen liefen über ihr Gesicht, doch sie bemerkte dies gar nicht. Gebannt starrte sie auf das Tier. Unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, stand sie einfach nur so da. Langsam streckte sie die Hand aus. Das Einhorn stand viel zu weit weg, als das sie es hätte berühren können, dennoch schrak dieses zusammen. Auch Julia erschrak. Ihr wurde klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Ihr tat es unheimlich leid. Noch immer weinte sie. Doch es war zu spät. Das Tier sah ihr direkt in die Augen. Sie sah darin weder einen Vorwurf, noch Zorn, einfach nur eine tiefe Trauer. Diese Trauer übertrug sich im gleichen Moment auf sie. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Eine große Leere breitete sich in ihrem Herzen aus. Sie mußte dieses Wesen berühren, sonst würde sie nie mehr glücklich werden können, das spürte sie. Sie spannte ihre Finger an, um den Arm abermals ausstrecken zu können. Das Einhorn jedoch schnaubte, stieg wiehernd auf die Hinterbeine, drehte sich um und galoppierte davon. Julia sackte in sich zusammen. Ihr wurde schwarz vor Augen. In der Ferne hörte sie Gimlis Stimme, der ihren Namen rief.




Als sie erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel; es war schon fast Mittagszeit. Langsam rappelte sie sich auf. Irgendwie fühlte sie sich leicht wie nie. Raik saß am kleinen Feuer und briet ein Kaninchen. Als er bemerkte, dass sie wach war, lächelte er sie an. „Guten Morgen, schöne Elfe! Ich hoffe, ihr habt gut genächtigt?“ Er saß ohne sein Hemd dort und als sie an sich herunter sah, bemerkte sie leicht verwundert, dass sie es trug. Eine Augenbraue hochgezogen, sah sie ihn mißtrauisch an. Er wußte sofort, was sie meinte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, und sah ins Feuer. Doch sie sprang auf und stürzte sich auf den völlig verwunderten Zwerg. „Du...!!“ Raik fiel nach Hinten und sie saß nun über ihm. „Los, erklär mir das !“ Raik war total baff. „Ich..“, stotterte er, „du..“ „Naaa? Ich höre!“ Sie stemmte die Arme in ihre Seiten und ließ seinen Blick nicht mehr los. Zu ihrer Belustigung bemerkte sie kleine Schweißperlen auf seiner Stirn.

Raik war hingerissen von ihr. Sie war ihm noch nie so nah gewesen. Allerdings konnte er ihr Verhalten nicht deuten. War sie nun wirklich böse? Warum hatte sie dieses fast unsichtbare Lächeln in ihrem Mundwinkel? Doch ihre Augen waren starr und ernst. Konnte er sich so in ihr täuschen? Hatte er einen Fehler gemacht? Viele Fragen schwirrten durch seinen Kopf, doch bevor er näher darüber nachdenken konnte, hauchte Julia ihm einen Kuß auf seine Lippen. „Danke, so mußte ich nicht frieren!“ sprach sie und sprang auf. „Jetzt habe ich aber Hunger! Wie steht es ums Karnickel?“ Raik, noch ganz verwundert und verzaubert wegen dem plötzlichen Kuß, stand auf. „Ehmmm, dürfte gar sein.“ „Schön! Was ist los? Geht es dir nicht gut?“ lachte sie. Nun prustete auch Raik los und sie hörten lange nicht auf.

Beim Essen überwand Julia ihre Scheu und fing an, Fragen zu stellen. „Sag mal, wo willst du eigentlich hin mit mir? Ich reise einen ganzen Tag mit einem Zwerg, den ich nicht kenne, durch einen Wald, der mir komischerweise auch unbekannt ist, nur, weil er mir irgendwas zeigen will, wobei ich allerdings auch noch nicht weiß, worum es sich handelt. Gehen wir in eine Stadt? Oder willst du mich ins Bergwerk verschleppen? Ich bin wahrlich kein guter Arbeiter! Und warum eigentlich mit mir? Ich bin eine Elfe.. und du ein Zwerg. Das, das geht überhaupt nicht!“ Raik sah sie an. „Warum nicht? Du siehst doch, dass wir prächtig miteinander auskommen.“ Ein breites Grinsen huschte über sein kantiges Gesicht. „Weich mir nicht immer aus! Wo führst du mich hin?“ „Weder in eine Stadt, noch in ein Bergwerk, obwohl wir dort bestimmt noch Arbeiter bräuchten. Nein, du liegst völlig falsch mit deinen Vermutungen.“ „Auch gut, wenn du es mir nicht sagen willst. Dann sag mir wenigstens, was es mit diesem Wald auf sich hat? Ich durchstreife ihn seit vielen Jahren täglich mehrere Stunden, doch kaum sind wir gestern ein paar Minuten gewandert, erkenne ich keinen Baum, keinen Stein und keinen Felsen mehr. Meine Füße gehorchen mir nicht richtig und hälst du nicht meine Hand, so fühle ich mich unsicher auf ihnen. Was passiert hier?“ Sie sah ihn fragend an. Doch er lächelte nur.

„Ich muß dich korrigieren, schöne Elfe. Wir sind gestern kein Stück gegangen.“ Sie runzelte ihre bleiche Stirn und sah ihn fragend an. „Du meinst..?“ „Ja, meine Hübsche, du hast den ganzen gestrigen Tag verschlafen. Ich überlegte, dich zu wecken, doch dann sah ich ein, dass du den Schlaf wohl dringend bräuchtest.“ Ungläubig sah sie sich um. So lange hatte sie noch nie geschlafen. Sie rutschte zu Raik rüber und setzte sich hinter ihn. Ihren Kopf hatte sie auf seine Schulter und ihre Hände auf seinen Bauch gelegt. Zuerst stutzte er, doch dann entspannte er sich. „Es mag sein, dass du deinen Wald besser kennst, als irgendwer sonst hier. Doch du kennst nicht sein Geheimnis.“ Julia hob den Kopf. Was meinte er bloß? Sie ließ ihn wieder sinken. „In diesem Teil des Waldes sind wenige von euch jemals gewesen. Mit >euch< meine ich das Volk der Elfen, verzeih. In diesem Wald leben andere Wesen. Wesen des Lichts, aber auch Wesen der Schattenwelt. Hier leben Wesen, die es >draußen< nicht mehr können. Sei es, wegen Verbannung, oder Krankheit, egal ob der Schmerzen wegen oder sogar dem Tod.“ Julia stutze. „Wir sind im Reich der Toten? Sind wir etwa auch..“ „Nein, keine Angst, schöne Elfe!“ Er nahm eine ihrer zarten Hände in seine. Er lächelte, als er sah, dass sie vollkommen darin verschwand.

„Vor langer, langer Zeit, hat mir ein Wesen, dessen Namen ich nicht auszusprechen vermag, den Weg hierher gezeigt. Seitdem bin ich oft hier, wenn ich alleine sein will oder Zeit brauche.“ „Zeit?“ „Ja. Die Zeit ist hier, wie soll ich sagen, bedeutungslos. Verlassen wir diesen Wald, so wird es Nacht sein und du wirst auf deinem Baum sitzen und die Wölfe bezaubern. Wie hast du sie eigentlich gezähmt?“ „Ich habe sie nicht gezähmt. Ich bin so oft dort, sie haben sich wohl an mich gewöhnt. Ich gehe oft an diesen Ort, wenn ich es zu Hause nicht mehr aushalte.“ Diesmal stutze Raik. „Zuhause? Ich dachte, du würdest auf dem Baum leben?“ Sie lächelte traurig. „Ja, das wünsche ich mir oft. Niemand kennt diesen Ort. Das heißt, du kennst ihn nun. Ich wohne mit meiner Mutter und ihrem Freund in einer kleinen Hütte, nahe dem Fluß. Mein Vater ist vor langer Zeit gestorben. Seitdem lebt meine Mutter mit Osmek zusammen. Ich verabscheue ihn. Er schlägt sie.“ Sie erschrak vor sich selbst, dass sie soviel darüber preisgab. Doch sie hatte nichts zu verlieren. Doch, dass hatte sie nun wieder, das wurde ihr in diesem Moment klar. Ein Leben ohne Raik? Nein, das wollte sie nicht. Das war ihr, wenn auch nur in einer sehr kurzen Zeitspanne, schnell klar geworden. Sie umklammerte ihn fester.



Raik war schockiert über ihre Worte. Er würde sie so gerne trösten, etwas Hilfreiches sagen oder raten, doch ihm fehlten die Worte. So drehte er sich einfach nur um und schloß sie sanft in seine starken Arme. Julia ließ sich fallen und schmiegte sich in seine Schulter. Sie war warm von der Sonne. „Warum hast du mich mit hierher gebracht?“ fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. „Als ich dich das erste Mal sah, wußte ich ,dass ich dich in meinen Armen halten wollte. Doch in diesem Moment wurde mir ebenso klar, dass dies unmöglich sei. In der Nacht, wo mich die Wölfe umzingelten, dachte ich daran, dich nun noch nicht einmal mehr sehen dürfte. Doch dann tauchtest du vor mir auf und ich wußte, wenn ich dich nicht sofort hierher führen würde, dann...“ „...dann hätten wir uns für immer verloren, bevor wir uns richtig gefunden haben.“ Fügte Julia nachdenklich hinzu. Wieder drückte sie sich an ihn.

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon vor Stunden überschritten, es wurde wieder Abend. Die Schatten wurden länger und man sah einige Tiere, die sich auf Nahrungssuche machten. In der Ferne heulte ein Wolf. Julia und Raik hatten sich direkt nach ihrer spärlichen Mahlzeit auf den Weg gemacht. Sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt, trotzdem fühlte sich Julia kein bißchen erschöpft. Die meiste Zeit hielt Raik ihre Hand, doch auch wenn sie sich einmal lösten, so strauchelte sie nur noch selten. Ihr Schritt wurde sicherer und auch im Halbdunkel erkannte sie mehr als nur Umrisse. Sie teilte Raik diesen Fortschritt mit. Der nickte zustimmend. „Ich weiß, wie du dich hier fühlst. Mir ging es anfangs auch nicht anders. Du wirst sehen, es dauert nicht lange, da werden deine Schritte so sicher wie meine und deine Augen so wachsam wie die einer Eule sein.“

Es dunkelte schnell. Julia sah manchmal Schatten, doch sobald sie diese genauer ansah, waren sie schon wieder verschwunden. Das beängstigte sie ein wenig. Raik beruhigte sie. „Das sind Dunkle Wesen. Fürchte dich nicht vor ihnen, sie sind uns friedlich gestimmt.“ Julia nickte nur, doch ihre Furcht vor diesen Wesen blieb.

Es war nun ganz dunkel geworden. Doch wieder schien der Mond hell und rund. Seine Strahlen schienen vereinzelt durch die Blätter der alten Bäume. Julia dachte wieder an das Einhorn. Sie war sich nicht sicher, ob sie Raik davon erzählen sollte, entschied sich schließlich dagegen und beschloß, dies auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Sie verspürte wieder ein Hungergefühl. „Hast du eigentlich keinen Hunger, Raik?“ „Doch, liebste Julia! Aber mir behagt es eigentlich nicht, hier zu jagen. Ich will diesen Wesen hier ihren Frieden lassen. Allein das Kaninchen zu töten, kostete mich viel Überwindung.“ Julias Magen knurrte. Sie lächelte.

Sie kamen auf eine große Lichtung. In der Ferne sah man einen großen Berg, dessen Gipfel eine Fläche darstellte. Von dort aus mußte man den ganzen Wald überblicken können. Julia verspürte das unbändige Verlangen, dort hinaufzusteigen. „Raik, steigen wir auf diesen Berg? Ich würde unheimlich gern hinabsehen.“ Raik lächelte. „Ja, liebste Elfe, wenn dies dein Wunsch ist, so werden wir beim nächsten Tagesanbruch dorthin wandern. Doch nun komm, es ist nicht mehr weit.“ Nicht mehr weit wohin, dachte sie.

Als sie weiterschritten, meinte Julia ab und zu, die Melodie im Wind zu erkennen, die ihr auch bei der Begegnung mit dem Weißen in den Ohren erklungen war. Doch diese Melodie war sehr leise und nur teilweise wahrnehmbar. „Hörst du sie?“ fragte Raik. Julia die sehr überrascht war, dass Raik sie auch hörte, nickte. „Was ist das?“ flüsterte sie. Doch Raik antwortete nicht, nahm ihre Hand und führte sie immer weiter. Die Musik wurde lauter. Sie war nun gut zu hören. Sie kam wohl von einer Harfe oder einem ähnlichen Instrument. Julia traute sich kaum zu atmen. Sie schritten durch den Blättervorhang einer geknickten Trauerweide. Was Julia dort sah, verschlug ihr die Sprache.

Etwa 10 Fuß entfernt war das Ufer eines Sees. Er war riesig und mit Schilf umwachsen. Am Ufer tanzen hunderte kleiner Irrlichter. Die Melodie erfüllte alles um sie herum. Selbst Raik stand mit offenem Mund dort. Ihre Hände umschlossen sich fester. Sie sahen sich an. „Raik, das ist...“ „Pscht..“ sanft legte er seinen Finger auf ihre Lippen. Sie fühlten sich weich an. Dann löste er sich von ihr. Er ging zum Ufer. Dort legte er seine Kleidung ab und watete in das klare Wasser. Nach ein paar Schwimmzügen war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Kurze Zeit stand Julia hilflos dort. Sie zögerte einen Moment; dachte an ihre Mutter. Sie verscheuchte diesen Gedanken schnell wieder. Langsam ging sie auf das dunkle Wasser zu. Als sie am Ufer stand, sah sie sich um, als suche sie etwas.

Direkt hinter ihr stand der Weiße. Sie erschrak nicht, denn sie hatte gewußt, er würde kommen. Sanft streichelte sie seine Nüstern. Das Einhorn war ganz ruhig und schnaubte zufrieden. Wieder kullerte eine Träne über Julias Wange, doch diesmal war sie aus Freude. Sanft stupste der Weiße sie mit seiner Schnauze Richtung Wasser. Julia lächelte. Als sie sich abermals nach ihm umdrehte, war er verschwunden.

Sie stand nun am Seeufer. Sie ließ ihr leichtes Kleid ins weiche Moos sinken. Sie sah in den See. Der Mond spiegelte sich im klaren Wasser. Keine Wolke verdeckte den nächtlichen Himmel. Mit einer Zehenspitze berührte sie leicht die Wasseroberfläche. Diese kräuselte sich. Mit ihr verschwamm auch das Mondbild. Sie ging nun tiefer in das Wasser. Es war eiskalt. Wieder bekam sie eine Gänsehaut. Leichte Nebelschwaden zogen auf.


Sie stand nun bis zur Hüfte im Wasser. Sie fröstelte. Als sie weiter watete, verdichtete sich der Nebel hinter ihr. Das Wasser wurde immer tiefer. Ihre Haare schwammen im Mondenlicht. Sie erkannte nun die Insel in der Mitte des Sees. Sie sah Raik, der am Ufer auf sie wartete. Im Wasser war sie nun vollkommen von der Harfenmusik umgeben. Sie fühlte sich sehr entspannt. Mit ein paar Schwimmzügen erreichte sie das Ufer. Raik half ihr aus dem Wasser. Nun standen sie sich gegenüber.

Niemand sagte ein Wort. Sie sahen sich tief in die Augen und faßten sich an ihren Händen. Raik zog Julia langsam und vorsichtig an sich. Sie ließ ihn gewähren. Er strich durch ihre nassen Haare und einige Wassertropfen von ihren zarten Wangen. Julia kam Raik immer näher und berührte schließlich seine Lippen mit den ihren. Seine Lippen schmeckten leicht salzig und waren unbeschreiblich weich. Er erwiderte ihren Kuß. Keiner von beiden fühlte noch die Kälte, die sie umgab. Im Gegenteil, sie strahlten eine enorme Hitze aus. Raik strich mit sanften Berührungen über ihren Rücken, sie berührte seine Brust. Noch immer küßten sie sich. Ihre beiden Münder mitsamt ihrer Zungen waren eins geworden. Niemals mehr wollten sie voneinander lassen. Sie berührten sich überall und waren nun völlig in ihrer Welt versunken. Irgendwann löste sich Raik leicht von ihr und sah ihr tief in die Augen. Sie lächelte. „Ich liebe dich, meine Elfe. Ich werde dich niemals mehr alleine lassen.“ Sie schloß die Augen und ließ die Worte Raiks auf sich wirken. Raik nahm sie wieder in seine starken Arme. Er legte sie behutsam in das weiche Moos. Als sie die Augen wieder öffnete, lag er neben ihr. Er nahm einen langen Grashalm und strich ihr damit über ihren Bauch. Julia kicherte. „Das kitzelt!“ Doch Raik ignorierte sie und wanderte nun mit seinem Mund zu ihrem Bauch, um diesen mit Küssen zu übersähen. Julia ließ sich fallen und genoß seine Berührungen. Abermals sah er ihr tief in die Augen, als wäre er sich unsicher. Doch Julia erwiderte diesen Blick nur mit noch intensiveren Küssen und Berührungen. Ihrer beider Atem ging schwer, als sie sich liebten. In der Ferne heulte ein Wolf auf. Der Nebel hatte sie nun vollkommen eingehüllt.





Der Himmel war blutrot als er erwachte. Die Sonne ging gleich auf. Er sah neben sich. Julia schlief noch. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt und sie atmete ruhig. Er hauchte ihr einen Kuß auf ihre Lippen. Dadurch erwachte sie; ihr Schlaf war nicht mehr tief gewesen. Als sie in sein Gesicht sah, lächelte sie. Auch er lächelte. Doch irgendwie sah er traurig aus. Sie richtete sich ein Stück auf um seine Wange streicheln zu können. Er drehte sich ein Stück weg. „Hast du es auch gesehen? Es ist so hübsch. Ich glaube, es ist perfekt. Ja, ich glaube, dieses Wesen ist perfekt. Das Weiße hat dir den Weg hierher gewiesen, nicht wahr?“ Raik sah sie nicht an. „Es wußte, was geschehen würde, nicht wahr? Deshalb hat es DICH hergeführt.“ Er schwieg noch immer. Er wußte, dass sie Recht hatte. Er war unendlich traurig. Er hatte sie gewonnen, doch sein altes Leben für immer verloren. Seine Brüder, sein Geschick, Waffen herzustellen und zu gebrauchen, seine Freunde, eben alles. Nichts würde so sein wie vorher. Julia erriet seine Gedanken. „Dein Leben da draußen war wohl schöner, als meines, hm? Es.. ich.. das wollte ich nicht. Ich wollte nicht dein Leben zerstören. Ich...“ Sie schluchzte. Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht. Nun sah Raik sie an. „Es ist nicht deine Schuld.“ Mehr wußte er nicht zu sagen. Er stand auf. Ihm ging so vieles durch den Kopf, er brauchte Ablenkung. „Komm! Laß uns zum Berg gehen!“ sagte er, und ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er los. Julia war verwirrt, zog sich ihr Kleid an und beeilte sich, hinter ihm herzukommen. Nach einiger Zeit hatte sie ihn aus den Augen verloren.

Auch sie fühlte sich alleingelassen und verloren. Langsam ging sie weiter. Nach circa einer Stunde Wegmarsch kam sie an eine Weggabelung. Ohne viel zu überlegen wandte sie sich nach links. Dort waren mehr Fußspuren zu erkennen. Öfter noch als dreimal kam sie an Gabelungen. Sie beschloß, ohne zu wissen, woher, immer nach links zu gehen. Doch an der letzten Kreuzung wußte sie genau, dass sie sich nach rechts wenden mußte. Dort war der Wald etwas lichter.
Am Waldrand stand eine einzelne, dunkelrote Rose in voller Blüte. Sie ging darauf zu, um sie näher zu betrachten. Sie war wunderschön.

Sie streckte ihre Hand aus, um sie zu berühren. „Ach hier bist du also!“ Julia erschrak. Sie drehte sich um und sah ein kleines häßliches Wesen vor sich. Es reichte ihr ungefähr bis zur Hüfte, war aber mindestens doppelt so breit wie Raik. Eine grünliche, warzige Haut überzog ihn. Er hatte einen kaputten Lederwamps an und über seinem Kopf trug er eine dreckige Kapuze, die er tief in sein Gesicht gezogen hatte. Nur seine Nase guckte heraus.

„Wer bist du? Was willst du von mir?“ verwirrt über diesen Anblick ging Julia einige Schritte zurück. „Mein Name ist unwichtig für solch ein hübsches Geschöpf wie dich. Verzeih, bist du eine Elfe? Ich habe viel über euch gehört, doch niemals bekam ich eine zu Gesicht. Ich bin ja froh, dass ich das erleben darf! Sag, darf ich dich einmal berühren?“ „Laßt mich in Frieden!“ kreischte sie angewidert. „Schon gut, schon gut!“ grummelte das Wesen. „Ich kann ja verstehen, dass es dir eine größere Ehre ist, von Raik, Sohn des Arthon, berührt zu werden, aber man wird ja wohl noch...“ „Raik? Du kennst ihn? WO ist er?“ Doch das Wesen ignorierte ihre Frage, drehte sich herum und ging langsam den leicht ansteigenden Weg hinauf.

Obwohl sich dieses Geschöpf, Julia vermutete, dass es sich um einen Kobold handelte, sehr langsam und ungeschickt voranbewegte, hatte sie große Mühe, ihm zu folgen. Je schneller sie ging, desto größer wurde der Abstand zwischen den beiden. Nach einiger Zeit gab sie es auf und nahm sein Tempo an. Zu ihrer Verwunderung hatte sie ihn bald eingeholt. Sie fragte ihn, was es damit auf sich habe, doch er lachte nur dreckig.

Der Weg wurde immer steiler. Nach einem Marsch, der den ganzen Mittag über dauerte, standen sie beide vor einer steil aufragenden Steinwand. Julia setzte grade an, ihn anzumeckern, ob sie sich etwa verlaufen hätten, da murmelte er etwas vor sich hin. Als ob sie nicht schon genug Wunder gesehen hätte, mußte sie mit ansehen, wie ein großer Steinbrocken wie von Geisterhand beiseite rollte und eine geräumige Höhle freigab. In der Höhle befand sich eine gewaltige Treppe mit unzähligen Stufen, die nach oben führte. „Ich kann dich leider nicht weiter begleiten. Hätte dich gerne noch mehr betrachtet!“ quakte der Kobold mit seiner häßlichen Stimme. Julia ignorierte ihn völlig und ging langsam die Treppe hinauf. „Schonmal was von Danke sagen gehört? Tse, die hat ja ein Benehmen...“ Julia drehte sich noch einmal um, um dem Geschöpf einen gleichgültigen Blick zuzuwerfen. Der wandte sich, irgendetwas murmelnd, von ihr ab. Im gleichen Moment verschob sich der Fels wieder vor den Höhleneingang. Es war nun stockfinster. Sie drehte sich seufzend um, um die Treppe zu erklimmen. Die Höhle war von abertausenden Fackeln hell erleuchtet. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und erklomm Stufe um Stufe.

Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Mehrere Stunden mußte sie nun geklettert sein, als ein helles Licht vor ihr auftauchte. Erleichtert, nun endlich ein Ziel vor Augen zu haben, ging sie weiter. Sie kam schließlich an ein großes Tor mit zwei gewaltigen Schwingtüren. Diese öffneten sich, als sie davorstand. Sie befand sich auf dem Berg. Raik stand da und lächelte sie freundlich an. Neben Raik stand das Weiße. Es hatte gewaltige Schwingen auf seinem Rücken. Unruhig wanderte es umher und scharrte mit seinem Vorderhuf. Julia wand sich von ihm ab und ging zu Raik. „Gefällt es dir?“ seine Stimme war klar und freundlich. Sie lächelte ihn an, sah dann ins Tal.

Der Himmel war rot erleuchtet, die Sonne ging bald unter. Sie sah den Wald, den sie solange durchwandert hatten. Gewaltige Baumkronen ragten in den abendlichen Himmel auf. Sie sah sich um und entdeckte eine sehr lichte Stelle. Dort mußte der See sein. In der Ferne kreiste ein großer Vogel, wahrscheinlich ein Adler, über dem Wald. Raik kam zu ihr und nahm sie in den Arm. So standen sie dort und sahen ins Tal. Die Sonne war so rot wie der Himmel und näherte sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit dem Horizont. Dann verschwand sie und der Mond wurde sichtbar. Er war noch immer voll. Seine Helligkeit erstrahlte das ganze Tal. Ein Wolf heulte, andere setzten ein.

Raik drehte sie um und sah ihr tief in die Augen. Sie verspürte seine Trauer. Wortlos küßte sie ihn auf die Wange. Er nahm ihre Hand. „Ich werde dich für immer lieben, schöne Elfe. Irgendwann sehen wir uns wieder. Ich werde auf dich warten.“ Er nahm sie zum letzten Mal in seine starken Arme und hob sie auf den Rücken des Geflügelten. Das Einhorn stand nun ganz ruhig. Julia lächelte. Ihre Hände lösten sich langsam. Julia sah, wie eine Träne über sein Gesicht rollte. Sie erschrak darüber. Doch es war zu spät. Das Einhorn schlug mit seinen gewaltigen Schwingen und sie hoben ab.

Julia erwachte durch das unruhige Winseln und bellen der Wölfe. Sie schreckte hoch. Sie saß auf ihrem Baum in einer Astgabelung. Sie mußte wohl eingeschlafen sein. Schnell kletterte sie vom Baum. Die Wölfe reihten sich um sie. Sie hockte sich hin und sie leckten ihr Gesicht. Sie erhob sich und machte sich auf den Nachhauseweg. Das große Wolfsmännchen folgte ihr.

Nach und nach wurde ihr bewußt, dass sie viel zu spät dran war, und Osmek ihr wohl den Kopf dafür abreißen würde. Und wie sollte sie ihrer Mutter das mit dem Wolf erklären? Osmek würde ihn erschießen. Sie blieb stehen. Der Wolf tat das gleiche. Sie wand sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Er winselte kurz, drehte sich um und lief in den Wald zurück.

Als sie die Hütte sah, wußte sie, dass etwas nicht stimmte. Kerzen brannten überall in der Wohnung, die Türe stand offen und im Garten lag überall Wäsche im Gras verteilt. Der Wäschekorb lag in der Haustür. Er war umgekippt. Julia hob ihn auf und ging langsam in die Wohnung.

In der Wohnstube sah sie Osmek. Er saß auf der Sitzbank und schnarchte. Er hatte Kratzspuren im Gesicht. Als sie leise in die Stube ging, bemerkte sie, dass er keine Hose anhatte. Angewidert darüber verließ sie die Wohnstube wieder und ging in die Küche. Sie hatte unheimlichen Hunger.

Sie sah, dass die Tür halb aus der Verankerung gerissen war. Langsam ging sie hinein. Dort lag ihre Mutter auf dem Fußboden. Ihre Kleider lagen in Fetzen neben ihr. Ihr gesamter Körper war von blauen Flecken und Prellungen übersät. Ihr rechtes Bein lag sehr verdreht; es war gebrochen. Nela atmete nicht. Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Julia war unfähig, sich zu bewegen. Gebannt sah sie auf ihre tote Mutter.

Sie hockte sich zu ihr und streichelte ihre bleiche Wange. „Hab keine Angst, liebste Mutter! Am Anfang ist es schwer, alleine zu laufen, doch deine Füße werden sich an den Boden gewöhnen. Dein Blick wird scharf wie der einer Eule sein. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie dachte an den Weißen und fühlte sich erleichtert. Sie würde es dort besser haben.

Nach einiger Zeit drehte sie sich langsam um und ließ von ihr ab. Der Zorn stieg wieder in ihr auf. Ihre Füße wurden schneller; sie stürmte aus der Wohnung. Sie war so wütend und traurig, so dass sie nicht bemerkte, wie sie im Rennen eine große Kerze hinunterstieß. Sie rannte und rannte. Sie mußte Raik finden.

Julia war schon viel zu weit weg, um bemerken zu können, dass das kleine Häuschen nach und nach in Flammen aufging und nach kurzer Zeit lichterloh brannte. Der große schwarze Wolf hingegen betrachtete dies aus einiger Entfernung. Die Flammen spiegelten sich in seinen dunklen Augen wieder. Er heulte auf. Ein langgezogenes, dunkles Heulen, dass direkt aus seinem Herzen kam und welches durch den ganzen Wald schallte. Andere fielen mit ein und bald war die Nacht von dem Heulen hunderter Wölfe durchdrungen.

Der Schwarze sah sich noch einmal zu dem Feuer um. Es loderte in dunkelroten, gewaltigen Flammen. Er bellte kurz auf und rannte los. Er würde sie finden, dessen war er sich ganz sicher.

StELFiE
 

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Also, da das ja ein längerer Text ist, habe ich eben gerade ca. die Hälfte gelesen und sag dir erst einmal etwas dazu.

Nun da ich rein zufällig weiss, dass dies eine deiner ersten Geschichten ist, wird meine Kritik auch nicht so harsch ausfallen ;)

Aber das ist auch gar nicht nötig, denn ich war ganz überrascht,wie flüssig sich doch die Story lesen lässt.

Nun gut die Alterzielgruppe liegt natürlich im Jugendbereich, aber dafür ist es sehr ansprechend.
Talent ist da echt vorhanden, ausserdem wirkt es bisher auch nicht extrem klischeehaft und du lässt dich auch nicht über die Umgebung zu viel aus und dennoch kann man sich alles plastisch vorstellen.

Den Abschnitt über Osmek kann man geteilter Meinung sein, auf der einen Seite könnte er zu klischeehaft sein, auf der anderen Seite geben sich tatsächlich viele Männer so (kenn da nämlich einige), deshalb ist das schon recht treffend formuliert.
Die Graziösität der Elfen und die Trampelfhaftigkeit der Zwerge kommt auch gut rüber...und dieser hauptdarsteller Raik gefällt mir *g*.
Na mal sehen , wie es weitergeht, dann finde ich bestimmt auch noch was negatives :)
 

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geschafft

Soooo, irgendwie hatte ich die Länge des Textes ein wenig unterschätzt ;)
Aber nun bin ich fertig und kann dir nun auch ne vernünftige Meinung dazu sagen.
Während mir also der Anfang ziemlich gut gefallen hat, und die ersten Szenen zwischen Raik und Julia recht interessant abliefen, wurde es mir später ein bisschen dolle kitschig.
Okay, Elfen weinen gerne, aber das war mir schon ein bisschen zu viel Herz Schmerz, vielleicht werden weibliche Leser das anders sehen ;)
Der Mittelteil zog sich also etwas in die Länge, passend dazu kam dann aber die Veränderung mitdiesem kröten ähnlichen WEsen und Julias arrogantem Verhalten (Pah oberflächliche Göre ;))
und seeeeeehr gut hat mir das Ende gefallen. Das war ziemlich dramatisch und nicht so wunderbar rosig, wie sich das in der Mitte eigentlich fast abzeichnete.
Letzendlich also ne sehr gute Story (für ne Frau ;))
Würd gerne wieder was von dir lesen, falls du wieder mal Lust dazu bekommst.
So...und ich schätze du wirst ja jetzt auch meinen Teil mal kritisieren......jaaaaaa? :)
 



 
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