Elysium

Langt Skegg

Mitglied
„Stumme Schreie erfüllen dem Raum,
stumme Schreie erträgst du kaum,
stumme Schreie dringen in die Seele ein,
stumme Schreie, unendlich Pein!“



Er saß einfach da, grau und alt, obwohl er es noch nicht war. Die Trauer hatte sich in sein Gesicht gezeichnet. Jahrelange Trauer! Er saß da, einfach da, regungslos, scheinbar nicht in der Lage, sich zu bewegen, nicht in der Lage zu denken, zu funktionieren. Aber der Schein trog, denn er war höchst konzentriert. Sein Geist arbeitete, wägte ab, spielte ein Spiel, warf sich Gedanken hin und her. Und zwischen drinnen, da driftete er ab, verlor sich in seinen Erinnerungen…

…er sieht sie gerade zum ersten Mal. Nie zuvor hatte er Augen für ein Mädchen gehabt, sie hatten ihn einfach nie interessiert, jedoch ist es diesmal anders. Ist er eigentlich nicht hier wegen der Mädchen, die Thematik ist eine andere. Er war unter Vielen. Es behagt ihn eigentlich nicht, ist aber hierfür notwendig. Er ist einer unter Vielen, fällt nicht auf in der Menge, war er doch schon immer in der Lage sich unsichtbar zu machen, sodass er anwesend war, ohne dass ihn jemand bemerkte. Doch heute ist es anders, denn sie bemerkt ihn. Und er sie. In einem Bruchteil einer Sekunde blieb die Zeit für ihn stehen. Die Menschen verschwinden aus seinem Sichtfeld und übrig bleibt nur sie. Es sind zuerst ihre Augen, niemals zuvor hatte er in solche Augen blicken dürfen. Tiefgründig, unendlich tief, die Seele sieht man darin spiegeln und etwas Melancholie, nur ein Hauch, kaum erkennbar, aber dennoch für ihn spürbar. Er sieht sie und es ist um ihn geschehen. Alles was war, schien auf einmal bedeutungslos, er möchte ertrinken im Ozean ihrer Augen, möchte, dass dieser Moment nicht endet, will ALLES und NICHTS, hofft, sein Herz hört auf zu schlagen, nur, um dann wieder in Takt eines Kolibris zu starten, er will nichts sehnlicher, als ihr nah zu sein…

…er war zurück. Seine Erinnerungen schmerzten. War doch in dieser Erinnerung alles perfekt, war es doch der Beginn seines Glücks. Vorbei. Nun ist er hier und er hat etwas zu tun. Weiterhin sitzt er in der Bewegungslosigkeit, geht alles immer und immer wieder durch. Berechnet, vergleicht, jongliert seine Gedanken, die Optionen, die Möglichkeiten. Stellt Formeln auf, löst sie, verändert sie, bedenkt jegliche mögliche Abweichung in seinen Berechnungen. Es scheint alles zu stimmen, scheint zu passen. Es wird funktionieren, nur noch ein paar Minuten, dann ist es soweit…

… Hand in Hand gehen wir. Es ist eine dieser unendlichen Wege. Keine Straße, wie man sie kennt, eigentlich ein Feldweg, dennoch die einzige Verbindung hier. Überall ringsum ist es grün, tiefgrüne Wiesen. Es ist Sommer, schottischer Sommer. Aber es regnet nicht. Für hiesige Verhältnisse ist es warm, so können wir unsere Jacken ausziehen und lässig über unsere Schultern tragen. Wenn man uns jetzt von hinten sehen könnte, Hand in Hand, die Jacken über den Schultern, ich rechts und du links, es mutet an, wie aus einem dieser Kataloge. Entweder einer für Reisen oder vielleicht doch eher ein Modekatalog. Eigentlich viel zu kitschig für unsere Geschmäcker, aber im Moment perfekt. Der Moment ist überirdisch, die Zeit scheint stehen zu bleiben. Wir sehen uns an, schauen uns in die Augen und lachen. Um uns herum bewegt sich die Welt, wir aber, wir verharren im Augenblick, in der Unhandlichkeit. Die Wiesen wiegen sich im leichten Sommerwind. Über die kleinen Hügel hinweg bewegt er sich grazil, immerzu, dennoch nicht aufdringlich. Links von uns, in weiter Ferne kann man einen See erahnen, einen der unzähligen Lochs. Aber das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel liegt vor uns, hinter den Hügeln, es sollte nicht mehr weit sein. Ungläubig sind wir beide, müssten wir es doch schon längst sehen können. Aber eigentlich ist es uns egal. Wir laufen weiter, Hand in Hand, den schier endlosen Weg entlang, hindurch den saftigen, grünen Wiesen, immer in Richtung dessen, was wir gewillt sind zu sehen…

…der Koffer stand vor ihm. Silbern war er. Groß war er. Aber nicht schwer. „Es“ ist darin, natürlich ist es darin. Gut gesichert, gekühlt, es sollte ja nichts schiefgehen. Wie viele Jahre hatte er daran gearbeitet? Er wusste es nicht, zählten Jahre doch schon lange nicht mehr für ihn. Die Zeit ist relativ, so sagte einst der große Meister. Für ihn war sie aber unendlich. Unendlicher Pein! Wie oft wollte er gehen? Zu ihr hinüber schweben. Würde sie auf ihn warten? Und was oder wo ist eigentlich das Drüben? Existiert es überhaupt? Sein wissenschaftliches Denken sagte im immer wieder ein deutliches NEIN. Jedoch sagte sein Herz etwas Anderes, sehnte sich nach dieser Vorstellung. Es muss es geben, sonst wäre alles sinnlos, sonst lebt niemand wirklich, existiert nur als Hülle, so wie er es seit einer Ewigkeit schon tat. Es muss es geben! Es wäre unlogisch, wenn dem nicht so wäre. Der Koffer stand vor ihm. Dies zu erschaffen, war sein Lebenswerk. Eigentlich hätte er dafür eine Auszeichnung verdient, ach was sage ich, nicht eine, ALLE. Aber niemand wusste es, bis dahin auf jeden Fall nicht. Bald werden es alle wissen, bald wird er berühmt sein, nicht, dass das seine Intention war, nicht im Geringsten. Der Grund war ein anderer. Und auch das werden alle verstehen. Alle, die dann noch in der Lage sein werden, es zu verstehen. Der Koffer stand vor ihm, gefüllt mit dem, was er schuf, mit dem, was die Welt verändern wird, was die Welt verbessern wird!…

…wir leben in einer schönen kleinen Wohnung. Sie gefällt dir. Mir war es immer egal wo und wie ich wohne. Aufgewachsen war ich auf dem Land. Wir hatten viel Platzt, ein großes Haus. Es gab immer genug zu tun. Kindheit, ja was ist Kindheit? Hatte ich eine? Definitionsfrage! Jetzt sind wir hier. Jung, jedenfalls bist du es. Ich bin seit Jahren, wie ich bin, habe mich nicht verändert. Wir sind hier, in deiner kleinen Wohnung. Du hast sie eingerichtet, du liebst sie so sehr. Und da du hier glücklich bist, bin ich es auch. Was brauche ich denn schon zum glücklich sein, als nur dein reines Glück?! Wir leben in der Stadt, nicht sonderlich groß, aber groß genug, um, wenn man es möchte, jeden Tag etwas erleben zu können. Es gibt schöne Ecken hier, das muss ich ehrlich zugeben. Die alten Häuser haben etwas. Die Bars und Läden in der Innenstadt locken zahlreiche Touristen an. An besonderen Tagen vermeidest du es, in die Stadt zu gehen. Du magst den Trubel nicht. Sonderbar, liebst du die Stadt doch sosehr, aber möchtest sie als weilen nur für dich alleine haben. Wenn du spazieren gehst, dann immer zu Zeiten und an Orten, wo niemals viele Menschen sind. Du hast ein Talent dafür! Immer dabei ist dein Zeichenblock. Stundenlang kannst du so verweilen, egal ob inmitten der Häuserfronten oder außerhalb im Grünen. Du liebst die Ruhe und die Klänge der Stadt, die Geräusche der Natur. Wenn ich deine Zeichnungen dann anschaue, weiß ich genau, in welcher Stimmung du dich befindest. Man kann es sehen, ich kann es sehen, kann deine Zeichnungen lesen. Wahrscheinlich ist dein Erfolg dem geschuldet, dass du deine Seele in diese Kunstwerke steckst. „Stirbt die Seele nicht ein klein wenig, wenn man sie teilt?“, habe ich dich oft gefragt. „Das ist so eine Sache mit der Seele“, sagtest du dann immer, „denn die Seele kann nur dann wirklich wachsen, wenn man sie teilt. Man muss es nur zu händeln wissen, wie man sie richtig teilt!“. Es liegt so viel Wahrheit in deinen Worten. Für mich ist die kleine Wohnung inmitten der Stadt natürlich auch zum Vorteil. Die Universität ist nicht weit. So kann ich diesen Teil meiner Arbeit leicht und ohne Umstände erreichen. Es würde auch zu Fuß gehen, aber ich mag keine Zeit verschwenden, mag es nicht, nichts zu tun. So arbeitete ich schon in der Bahn und auch noch auf dem Nachhauseweg. Nur, wenn ich bei dir bin, kann ich „Zeit verschwenden“, kann ich „nichts tun“. Aber ich tue etwas in diesem Moment, denn ich liebe dich. Mit jeder Faser meines Seins liebe ich dich. Ich kann dir stundenlang zuhören oder dich stundenlang stumm beobachten. Das ist Liebe, nicht denken zu können, zu müssen, all das andere wegschieben zu können, den Moment mit diesem Menschen genießen zu können, das ist Liebe. Wie unlogisch dies doch ist! Und wie wunderbar zugleich.
Auch das Institut ist gut zu erreichen. Zwar mit dem Auto, aber es ist nah, nur eine kurze Zeit zu fahren. Keine Zeitverschwendung. Ich bin oft dort, zu oft. Will eigentlich mehr Zeit mit ihr verbringen. Aber hierbei ging es nicht um mich, nicht um dich, ich habe zu gehorchen, abzuliefern….

… das Institut. Ohne diesen Job säße er jetzt nicht hier. Er hatte ihm so viel zu verdanken. Natürlich erst danach. Erst dann konnte er den Vorteil dieser Arbeit nutzten. Was würde er geben, dass es nicht nötig wäre? Aber es ist es! Es war mehr als nötig. Schon viel zu lange. Wieso kam niemand vor ihm auf diese Idee? Wieso muss es er sein? Es hätte alles anders werden können. Er hätte weiterhin glücklich sein können. Aber es ist nun mal so. Er war derjenige, der es tun musste. Es war erforderlich, es war logisch. Wenn er es nicht tun würde, gäbe es weiterhin Leid, unendlich viel Leid! Er konnte es beenden, nur er, könnte unzählige Tragödien verhindern. Wieso sah dies niemand außer ihm, niemand die Notwendigkeit?
Er wird es tun. Nicht um ihren Willen, nicht um seinen Willen, sondern um der Menschheit willen. Die Erde wird zu einem besseren Ort werden, die Menschheit zur nächsten Form möglichen Existenz aufsteigen. Ganz ohne Opfer, denn wer Täter ist, der kann nicht Opfer sein. Nein, es wird keine Opfer geben, nur die Reinigung. Eine längst überfällige Reinigung. Eine ohne politischen oder religiösen Hintergrund. Einfach eine Reinigung für das Fortbestehen der Menschheit. Für Frieden und Liebe. Für das, was es schon ewig hätte geben müssen, für das, was ihm verwehrt wurde….

…wieviel Jahre sind schon vergangen? Ich weiß es nicht. Es sind schon einige, aber zähle ich sie nicht. Ich genieße den Augenblick, nicht die Erinnerung. Es werden noch so viele Augenblicke folgen, Erinnerungen sind etwas für das Alter, für kurz vor dem Ende. Du redest von der Zukunft, ich höre dir zu. Du redest von Hochzeit und von Kindern, etwas, was ich mir vorher nie vorstellen konnte, und dennoch ängstigt mich diese Vorstellung nicht im Geringsten. Die Jahreszeiten vergehen mit dir schnell, vielleicht zu schnell. Ich bin oft in der Universität und noch öfter im Institut, aber ich verbringe jede mögliche Minute mit dir. Reise mit dir, bereite deine Ausstellungen mit dir vor, gehe viel mit dir aus, Essen, Konzerte, Theater, Museen, alles, was du dir wünschst. Ich genieße das. Ich bin fähig zu genießen, aber nur mit dir. Durch dich habe ich diese Seite vom Leben kennengelernt, nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das unbedachte, leichte Leben. Es ist nahezu perfekt, Yin&Yang sozusagen. Eine perfekte Harmonie zwischen beruflich und privat. Es kann ewig so weitergehen. Und dennoch wird es sich ändern, nicht wegen der Hochzeit, nein. Dies ist nur logisch. Das macht mir keine Angst. Die Kinder sind es, die mir Kopfzerbrechen bereiten. Ich wollte es dir nie erzählen, es niemals zu Thema machen, aber wie so oft, siehst du mich an und weißt, was ich denke, was ich fühle. Du sprichst es an. Mit einer solch liebevollen, rührigen Art, dass ich schon bei den ersten Sätzen meine Angst verliere. Aber du redest weiter, erzählst mir von deinen Träumen, von deinen Ideen, und das lässt mich wieder einmal alle Sorgen vergessen, lässt mich lächeln. Es gibt keine Probleme im Leben, wenn du beginnst zu erzählen. Keine Angst kann deiner liebevollen Stimme standhalten. Dein Wesen ist Therapie für so Vieles! Es ist ein heißer Junitag heute. Zu heiß für Juni. Du warst heute nur vormittags in deiner Galerie und ich hatte heute nur wenig in der Uni zu tun, ist es doch zu warm für alle und alles. Wir liegen im Garten am Haus. Das Haus haben wir erst kurz. Es ist klein, alt und du liebst es. Liebst es, wie du alles liebst, was alt ist, schief und krumm, nicht perfekt. Der Garten gleicht einer grünen Hölle, jeder andere hätte alles herausgerissen und neu gemacht. Du jedoch liebst dieses Chaos. „Was Mutter Natur geschaffen hat, kann kein Chaos sein!“, sagst du, „die meisten Menschen sind nur blind für die Perfektion der Asymmetrie. Wieso muss alles logisch sein, wieso alles perfekt?“ Das fragst du sehr oft. Und ich kann dir diese Frage nicht beantworten. Nur als Wissenschaftler könnte ich das, aber diese Antwort würde dir nicht gefallen, also sage ich nichts und schaue dir lieber in deine Ozeane von Augen. Ich genieße den Moment. Jeder, den ich heute getroffen habe, hat sich über das Wetter, die Politik, über Fußball und eine Menge mehr aufgeregt. Ich wiederum genieße den Moment, möchte, dass er niemals endet…

…ich öffnete den Koffer. Da ist es, mein Lebenswerk. Was hätte ich darum gegeben, es nicht erschaffen zu müssen? Doch habe ich schon alles dafür gegeben. Ich gab mein Leben und erst dann wusste ich, was zu tun war. Ich schuf es, nachdem mein Leben geendet war. Einer musste Leiden, um das Leiden für immer zu beenden. Natürlich war mir klar, dass ich damit unendlich Leid erschuf, aber das war nur ein kurzfristiger Nebeneffekt, unausweichlich. Mit der Zeit würden sie vergessen, würde dankbar sein, jeder wäre fähig Glück zu empfinden. Der Preis war es wert! Da ist es, in einer kleinen, gut gekühlten Flasche. Es war eigentlich so einfach. Man muss nur darauf kommen. Es zu schaffen war eigentlich nicht das Problem. Die Wirksamkeit perfekt abzustimmen, das war es, was mir etwas Schwierigkeiten bereitete. Aber dafür gab es ja das Institut. Unzählige Stunden habe ich dort verbracht. Tage, Wochen, ja Jahre, so denke ich. Ehrlich? Ich weiß es nicht, ist auch nicht wichtig, ob es ein Tag oder ein ganzes Leben dauerte. Das Ergebnis ist wichtig. Und so testete ich viel. Tierversuche gingen natürlich nicht. Nicht, dass ich es nicht probiert habe, aber ist es doch nur die Eigenschaft des Menschen, über den natürlichen Trieb hinaus böses zu tun. So schlugen alle Versuche mit Tieren fehl. Aber die Versuche mit den Menschen brachten mich weiter. Es waren viele Versuche, um die Wirksamkeit zu perfektionieren. Zuerst waren es Schwerverbrecher, aber ich musste vorsichtig sein und somit konnte ich nur bedingt im eigenen Land experimentieren. Aber ich habe das Reisen niemals mehr abgelegt, als ich es mit ihr für mich fand. Nur, dass ich jetzt nicht mehr Länder besuchte, um sie zu erkunden, nein, ich suchte Versuchsobjekte. Und ich fand sie. Fand sehr viele. Ich passte die Formel an, immer und immer wieder. Bis die letzten Versuche immer wieder zu dem gewünschten Ergebnis geführt habe, bis die Statistiken vergleichbare Ergebnisse zeigten. Eigentlich ist es ganz einfach. Schon die alten Weisen wussten, dass der Mensch voll Gut und Böse zugleich ist. Nur das Verhältnis variiert. Ich musste nur die Formel anpassen. Wie viel Prozent Böses kann ein Mensch in sich haben, ohne, dass er Böses tut? Dies war das Problem, welches mit den Experimenten bewältigt werden musste. Es gibt die Zahl, die Prozente, das Verhältnis zwischen Gut und Böse. Ich nahm für meine Berechnung den durchschnittlichen unteren Bereich. Nur um sicherzugehen. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Mensch mit dem Prozentsatz X an bösen Gedankengut eine „böse“ Tat irgendwann in seinem Leben tun wird. Dort setzt es an „Elysium“. Es kann nur wirken, wenn der Mensch zu bösen Taten fähig ist. Alle anderen Menschen haben überhaupt nichts zu befürchten. Es beseitigt nur die Fehler der Natur. Denn Mutter Natur ist perfekt, nur wir Menschen sehen die Komplexität dieses Perfektionismus nicht. Und so war ich der Auserwählte, diesen von Menschen gemachten Fehler zu beseitigen, die Art von Mensch von der Erde zu tilgen, der sonst die göttliche Schöpfung auslöschen könnte. Ich zog mir den Handschuh an und nahm die Flasche aus dem Koffer…

...Wir sind verabredet. Ich komme direkt vom Institut und du wahrscheinlich aus deinem Atelier. Es gibt das diesen Platzt, wir kennen ihn schon von Beginn an, fanden ihn in den ersten unserer Wochen. Dort im Wald, weit weg von allem. Dies ist kein geheimer Platzt, doch dort, wo es uns immer wieder hinzieht, dort ist beinahe niemand. Es ist zu weit weg vom Weg. Nur zu Fuß zu erreichen. Man muss schon ein ordentliches Stückchen laufen, um anzukommen. Doch das hat uns nie gestört. Wir laufen immer, egal ob zu Hause oder im Urlaub. Laufen macht unsere beiden Köpfe frei. Der Wald gleicht einem Dschungel sagst du immer, aber in Wahrheit ist es ein mystischer Wald inmitten von Europa. Wir haben oft den Dschungel besucht und ich finde, er ist nicht mit dem hier vergleichbar. Aber ich weiß, du magst diese Metaphern, sprechen sie auch in deinen Werken immer wieder. Ich laufe, laufe durch deinen Dschungel. Ich bin sicherlich zu spät. Ich bin immer zu spät. Aber Zeit ist relativ, das lehrte mich der große Meister in der Wissenschaft und du lehrtest mich das im Leben. Ich laufe schon eine Weile, bis ich die Lichtung in der Ferne sehe. Das Abendlicht ist es, was dich damals auf diesen Platzt hat aufmerksam lassen. Als wir das erste Mal hier waren, muss es die gleiche Jahreszeit gewesen sein, denn das Licht erinnert mich gerade genau an diesen Moment. Dies ist seltsam, denn eigentlich Lebe ich im Hier und Jetzt und nicht in der Vergangenheit. Vergangenheit kann man nicht ändern, also wieso darüber nachdenken oder schlimmer noch, wieso darüber sich aufregen. Die Lichtung kommt näher. Ich sehe den Abendhimmel durch die Bäume, sehe die Felsen, weiß, dass hinter den Felsen der See ist. Nur, dass er weiter unten ist. Vielleicht 20 m, vielleicht mehr, ich habe mir nie darüber Gedanken gemacht. Wenn wir baden gegangen sind, haben wir einfach den Weg ans Ufer genommen. Aber meistens waren wir hier oben, genossen den Ausblick, die Stimmung. Hier bauten wir das Zelt auf, nur ein Zelt, zwei Stühle und einen kleinen Gaskocher. Nicht mehr. So verbrachten wir unzählige freie Tage in den letzten Jahren. Fernab von der Stadt, fernab von dem Trubel, der Galerie, der Arbeit und den Menschen. Du brauchst das, um neue kreative Energie zu sammeln. Ich brauche es, um dir nah zu sein, ziehe Energie aus deinem Glück. Ich brauche dich nur anzusehen, zu fühlen, dass du glücklich bist und ich bin es auch. Bin leistungsfähig. Es ist eine perfekte Symbiose. Von Mutter Natur geschaffen, einzigartig. Es gibt nur dich und mich, niemand könnte einen unserer Plätze einnehmen. Uns gibt es nur zusammen. Ich komme auf die Lichtung. Sehe das Zelt von hinten. Ich weiß, davor sind unsere Stühle, der Kocher und sicherlich etwas zu trinken. Ich gehe um das Zelt herum, möchte dich sehen. Du wirst mich sicherlich gehört haben, aber auch so spürst du mich, das tust du immer. Es ist eines deiner Talente. Du spürst mich, ohne mich zu sehen oder zu hören. Du spürst auch, wie es mir geht. Ich brauche nie etwas zu sagen und du verstehst. Seelenverwandt, Zwillinge, füreinander geschaffen. Ich stehe nun vor dir, du sitzt nicht auf dem Stuhl. Es sind keine Stühle aufgebaut, liegen noch verpackt auf dem Boden. Dein Rucksack liegt daneben. Genau wie…genau wie du. Ich spüre es, muss es nicht überprüfen. Ich höre in diesem Moment auf zu leben, ich sterbe, weil du gestorben bist, weil dich jemand aus dem Leben gerissen hat. Du Zeit bleibst stehen, ich bin unfähig, unfähig irgendetwas zu tun, ich stehe da und die Zeit vergeht wie im Flug, die Zeit bleibt stehen, für mich. Alles endet hier…und alles beginnt…

...Ich öffne die kleine unscheinbare Flasche. Ich sitze an dem größten Trinkwasserreservat von Europa. „Elysium“ wirkt nur in Verbindung mit Wasser. Sobald es Wasser berührt, entfaltet es seine tödliche Energie. Und es breitet sich aus, wird über das Wasser weitergetragen. Verflüchtigt sich nicht, bleibt bestehen, bis es seine Aufgabe erledigt hat. Ich öffne den Kontrollschacht, lassen den Deckel weit offen…und gieße dem Inhalt hinein. Die Flüssigkeit fällt den Schacht herunter, trifft auf das wunderbar blaue Wasser. Ich sehe es. Es ist so blau und tief wie deine Augen es waren.



„Elysium“ beginnt sein Werk…und ich falle augenblicklich tot um…





„Stumme Schreie erfüllen dem Raum,

stumme Schreie erträgst du kaum,

stumme Schreie dringen in die Seele ein,

stumme Schreie, unendlich Pein!“

 
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