Emigrant

5,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Oaras

Mitglied
DER EMİRAGNT



„Ich ärgerte mich über den Frühling, und auch der Frühling ärgerte sich über mich“



Der Frühling ärgerte sich über mich. Ich bin nun im Herbst. In mir und um mich herum herrscht ein kalter, windiger und gelber Herbst. Verstehst du? Nein, es ist nicht möglich, dass du es verstehst. Wenn du nicht verbannt, verjagt und erniedrigt wirst, kannst du es nicht verstehen.

Sag nicht, man erlebt den Herbst im Frühling! Verbannung bedeutet eigentlich Herbst. Wenn du dich von deinem Zuhause, deiner Heimat, deinem Garten, deinen Blumen, deinem Vogel und deiner Katze trennst, wirst du zu einem Baum, der seine Blätter abwirft.

Deine Blätter vergilben und kriechen auf dem Boden. Der Wind nimmt sie auf und verteilt sie nach rechts und links, du wirst zerteilt. Aber es bleibt nicht beim Zerteilen, Verteilen und Kriechen. Du verlierst auch deine Würde. In aller Munde bist du ein Verbannter, ein Emigrant, ein Fremder, ein beschissener Mann. Deine Vergangenheit, deine Erinnerungen in der Vergangenheit, die Formen die du seit deiner Kindheit gesehen hast, die Farben die du kanntest und die Düfte an die du gewöhnt warst, verlassen dich. Du bist gezwungen auf fremder Erde zu versuchen wieder Wurzeln zu schlagen, wieder zu ergrünen und Früchte zu tragen. Und das ist nicht sehr einfach. Manchmal ist der Boden nicht gut für dich, manchmal das Wasser… Manchmal kommt ein Mensch den du ‚mein Bruder‘ nennst, er versetzt deinem Setzling der gerade seinen Kopf erhebt einen Fußtritt, bricht deinen Rücken, zerquetscht deine Saat und möchte vernichten… Du versuchst wieder deinen Rücken aufzurichten und deinen Kopf hinauszustrecken.

Wenn ich dir doch bloß alle meine Augenblicke Bild für Bild darbieten könnte! Wenn ich dir erzählen könnte, wie ich mein Zuhause verließ und mein Herz am Fuß einer Rose vergaß!

Alle schliefen noch. Ich trat die Bettdecke weg und stand auf. Mein Mund war wie Gift. Ich trank einen Schluck Wasser und warf mich hinaus. Am Horizont war etwas Licht. Ich richtete meine Augen auf das Licht und sog die Stille ein. Etwas später würden sich die Geräusche von Motoren und der Geruch von Benzin verbreiten. Ich blickte auf den schwarzen Asphalt der sich in der Nähe unseres Hauses dahin schlängelte und sich bei der Moschee verlor. Es schien als ob die Straße eine Schlange sei, deren Kopf nicht zu sehen war. Die Schlange, die mich auf ihrem Rücken trug. Wie oft war ich auf dieser Straße gegangen? Wie viel tausend Schritte hatte ich hier getan… Oh, mein Gott… Kann das ein Traum sein der fünfundzwanzig Jahre andauert? Ein tiefer Schlaf und fünfundzwanzig Jahre… Es schien, als ob ich gerade aus dem Schlaf erwacht sei. Aber wie viele schlaflose Nächte ich wohl in diesen fünfundzwanzig Jahren hatte. Meine Träume von Aufstand und Revolution… Mein Unglück, mein Leid, meine Niederlage und mein Chaos konnte ich nur mir selbst zuflüstern.

Im Garten streichelte ich die Rosen die ich eigenhändig gepflanzt hatte. Meine Tränen die sich in riesige Regentropfen verwandelt hatten, tropften auf meine Hände. Die Blätter der Rosen von denen die meisten zu vertrocknen begannen, fielen in die roten Blumentöpfe die im Boden vergraben waren. Nun gut, es war ja Herbst. Ich sortierte die Rosen deren Farben sich vermischt hatten und legte die gelben auf eine Seite, die weißen auf eine andere und die roten wieder auf eine andere Seite. Während ich sie sortierte, verteilten sie sich nach rechts und links unter dem Einfluss des Windes. Ich nahm drei Stück von ihnen heraus die noch etwas frisch waren, steckte sie in meine Tasche und weinte. Wann würde ich noch mal hierher kommen? Ob die Rosen so bleiben würden, wenn ich käme? Mal ruhten meine Blicke auf den Blumentöpfen, mal auf den Rosen. Mein Leben war halt wie meine Blicke. Einmal hier, einmal da… Verwirrt und chaotisch! Ich war halt so ein Kerl! Wie meine Rosen die ich in der schwarzen Erde vergraben hatte. Was ich auch anfing, es war nutzlos. Eine Seite meines Körpers klebte an der schwarzen Erde.

Als ich diese Rosen setzte, war ich innerlich und äußerlich voller Hoffnung. Der neue Garten, die neuen Rosen und die langen Jahre die wie ein nicht endendes Leben vor mir lagen… Aber wie sehr mich doch dieses Haus, dieser Garten und das lang erscheinende Leben mich täuschten!

Ich trennte mich von den Rosen und setzte mich auf eine kaputte blaue Bank, die vor dem Haus an der Wand lehnte. Es schien als ob die Rosen in meiner linken Tasche Feuer fingen und ihr Feuer sprang auf mein Herz über. Mit meinem Handrücken wischte ich mir meine Augen ab. Als ich noch ein Kind war, putzte ich mit meinem Handrücken immer meine Nase. Meine Mutter ärgerte sich sehr darüber. Damals steckte sie eine von den überall erhältlichen schneeweißen Taschentüchern mit den blauen Linien in meine Tasche. „Vergiss es nicht, du sollst deine Nase damit putzen“, sagte sie. „Schon gut“, sagte ich, aber ich brachte es wegen dem Taschentuch nicht übers Herz. Es blieb tagelang blitzsauber in meiner Tasche so wie meine Mutter es mir gegeben hatte.



Wie viele Erinnerungen ich doch in diesem Haus hatte… Jede Ecke, jeder Stein, jeder Putz rief mich. Ich wollte jeden Ort besuchen indem ich mich mit meinen Fingerspitzen von ihm verabschiedete und meine Wange an diese kalten Steine lehnen und weinen.

Ich stand von der Bank auf und ging in den hinteren Garten hinüber. Die Zwiebeln und der Salat die wir im Sommer angepflanzt hatten, hatten sich in die Länge gezogen, waren dann vertrocknet und hatten sich auf die Seite gelegt. Der Zustand dieses Gartens erklärte am besten unseren Zustand. Ich drückte auf sie und ging unter die Laube. Ich hatte diese Laube alleine gebaut… An ihrer Stelle stand nun ein riesiger Apfelbaum. Seine Äpfel waren sauer und weil sie nicht gegessen wurden war im Winter alles voll mit stinkenden Äpfeln. Eines Tages wurde ich wütend und ließ den Baum samt Wurzeln ausreißen. Aber wie traurig wurde ich doch als ich sah, dass die Vögel die herkamen um auf dem Baum zu nisten verwirrt nach rechts und links davonflogen. Ein Platz, ein Nest war also für jeden sehr wichtig.

Ich stand in der Laube und blickte eine Weile auf die gegenüberliegende Seite. Als ich draußen stand, gingen mit tausend und ein Erinnerungspartikel durch den Sinn. All diese Details und die Melancholie die jedes Detail auslöste, bewegten mich.

Ich ging wieder hinauf. Jedes Mal, wenn ich auf eine Stufe trat, sprang eine Erinnerung in mein Gehirn und riss meine Knie von ihrer Wurzel ab. Wir hatten wir mit meinem Vater dieses Haus gebaut…

Wann immer ich an Trennung dachte, erschien dieses schmächtige, braune und traurige Gesicht meines Vaters vor mir. Er hatte sich von seinem Vater im Alter von zehn und von seiner Mutter im Alter von vierzehn Jahren getrennt. Wie oft wollte er mir von dieser Trennung erzählen, aber es konnte es nicht. Er erzählte wie er weglief und sich in einem Holzgeflecht verstecke und monatelang nicht schlafen konnte, als er zum ersten Mal vom Tod seines erst fünfzigjährigen Vaters hörte, aber irgendwie konnte er nicht über die Trennung sprechen.

Jedes Mal, wenn wir über den Friedhof gingen und er seinen Kopf umdrehte und zu den Gräbern seines Vaters und seiner Mutter blickte, verstand ich alles. Mit seinen Blicken streichelte er die Erde über den Gräbern und die im Boden versinkenden Grabsteine. Ich lernte die Trennung aus diesen seinen melancholischen, geheimnisvollen und endlosen Blicken kennen.

Mein Vater war ein Mann, dessen Herz, dessen Blicke, dessen Stimme und Sprechweise sentimental waren. Er war klein gewachsen und hager. Seine Wangen klebten an seiner Haut. Seine hervorstehenden Backenknochen fielen auf den ersten Blick auf. Er hatte winzige, schwarze Augen, und sein Gesicht mit seinem dünnen Kinn, seinen gekrümmten Lippen, seinem Backenbart und seiner faltig gewordenen Stirn wurde bei jedem meiner Blicke melancholischer und ich wollte weinen. Seine Hände waren rau, aber schön. Seine Finger waren lang, dünn und makellos.

Woher soll ich wissen wie er meine Mutter kennen lernte und wie sich gegenseitig liebten? Ich habe nicht einmal gefragt!

Dann waren da die Gärten, die Schafe, die Lämmer und der Berg Ararat dessen Gipfel immer mit Schnee bedeckt ist. Wie könnte ich den durchdringenden Duft der schneeweißen Blüten der Ölweiden vergessen? Wie sehr doch die rosafarbenen Pfirsichblüten, die schneeweißen Aprikosenblüten und der Duft des Jasmins der sich von den frisch gemähten Kleefeldern ausbreitete meinen Geist umkrempelte! Wie sehr ich mich doch erheiterte, wenn ich morgens früh aus dem Haus ging, über kleine Kanäle sprang, Kräuter kaute und die Bäume umarmte! Wenn ich Hunger hatte, aß ich Johannisbeeren, Tomaten, Honig- und Wassermelonen. Abends ging ich unter dem Blöken der Lämmer und dem Geschrei der Vögel ängstlich nach Hause zurück. Wenn von drinnen das Schluchzen meiner Mutter zu hören war, lehnte ich meinen Rücken in einer dunklen Ecke an die Wand und starrte in den endlosen Himmel. Die Sterne waren meine Begleiter und ich weinte.

Wie sollte ich diese Erinnerungen ertragen? Wohin sollte ich mit diesem Haus, dieser Müdigkeit in mir, dieser Angst und dieser Hoffnungslosigkeit gehen? Vor welcher Tür sollte ich warten, von welchem Fenster hätte ich einen schauenden Blick erhaschen können? Welcher Garten, welche Rose und welcher Dorn sollten mich wieder erkennen und mich zu sich rufen?

Die Bilder des Glücks und des Unglücks die von jeder Ecke unseres Hauses auf mich einströmten, verdunkelten meine Augen…

Jetzt habe ich eine Straße vor mir. Diese Straße beginnt in der Nähe des Kaukasus, vom legendären Berg Anatoliens, Ağrı, und führt in ferne Länder. Ich werde mir die Legenden über Noah und seine Arche von meiner Mutter nicht mehr anhören. Weißt du, der Simurg, der auf dem Berg Kaf lebt... der Vogel, der alles weiß... Sein Flügelschlag wird mich nicht mehr erreichen...

Wie schmerzhaft ist es, das fruchtbare Land Mesopotamiens zu verlassen, wo die ersten Samen gepflanzt wurden!

Aber drücken die im Herbst verstreuten gelben Blätter ihren Schmerz aus? Nein! Ich werde diese Schmerzen auch nicht ausdrücken.
 
Hallo Oaras,
Du schreibst ja wie ein Profi. Das klingt so, als wenn Du schon einiges veröffentlicht hast. Nichts ist holprig. Du kannst super mit Worten umgehen und bist ein Meister der Naturbeschreibungen. Aus welchem Land kommst Du denn? Trotzdem eigentlich nichts passiert, wird es niemals langweilig. Weiter so! Wenn ich das lese, muss ich an Orhan Pamuk denken.
Gruß Friedrichshainerin
 



 
Oben Unten