Heinrich VII
Mitglied
1. Boran lief der Gruppe voran. Ich und Lora waren gleich hinter ihm. Die anderen waren etwas zurück gefallen.
Was mehr an ihnen lag, als an Bula dem Jungen, den sie bei sich hatten. Wir warteten.
„Ihr müsst versuchen, mit uns Schritt zu halten“, belehrte Boran sie, als sie zu uns aufschlossen.
Ruda verzog das Gesicht, man konnte ihr die Erschöpfung deutlich ansehen. Leon, der die Ärmel hochgekrempelt hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte: „Wie lange soll das noch so weiter gehen? Wir sind jetzt seit Stunden nichts als gelaufen und gelaufen. So haben wir uns das nicht vorgestellt.“
Boran sah uns einer nach dem anderen an und registrierte, dass wir alle mehr oder weniger erschöpft waren.
„Okay, zehn Minuten Pause!“
Als wir saßen fügte er hinzu: „Dass das keine lustbetonte Wanderung wird, habt ihr doch alle beim Briefing mit bekommen.“ Er sah in die Runde: „Oder?“
Wir nickten alle, keiner sagte „Ja!“ - das hätte nur wieder Kraft gekostet.
Wir machten die Beine lang und waren dankbar für die Unterbrechung. Ich schleppte mich zu einem Baumstumpf am Wegrand, nahm die Feldflasche vom Gürtel und trank einen Schluck. Boran schien bei weitem nicht so erschöpft zu sein, wie wir anderen. Er trank auch kaum etwas. Vielleicht ist er ein Übermensch, überlegte ich. So ein Haufen Weicheier wie wir es waren, sind nicht gerade förderlich, wenn ein anspruchsvolleres Ziel erreicht werden soll. Aber gerade deswegen waren wir ja hier. Nicht nur, um uns das vorzustellen, sondern es auch für eine gewisse Zeit praktisch zu erleben.
„Wie weit ist es noch?“, wagte ich zu fragen.
Boran maß mich mit einem prüfenden Blick. „Lass dich überraschen Milo, okay?“
Ich nickte und verzichtete darauf, weitere Fragen zu stellen. Einen Moment dachte ich über die komischen Endzeitnamen nach, die wir uns selbst aussuchen mussten. Unsere wirklichen Namen durften nicht benutzt werden – damit diese Atmosphäre erzeugt wird, wie man uns sagte.
Die Pause verging schnell. Boran stand mit einem Mal auf und es ging weiter. Mühsam brachten wir unsere Hintern in die Höhe und folgten ihm.
Stunden später lichtete sich der Wald mehr und mehr und man ahnte, dass uns die Landschaft bald ein anderes Gesicht zeigen würde. Noch bevor wir das Ende des Waldes erreicht hatten, bedeutete Boran uns stehen zu bleiben und runter in die Hocke zu gehen. Er legte für alle sichtbar den Zeigefinger auf die Lippen, damit wir uns ruhig verhielten.
Lora flüsterte: „Was ist denn los?“ Ich hielt ihr den Mund zu und zeigte nach vorne auf die Lichtung. Boran stand vor uns, hatte einen Pfeil aus dem Köcher gezogen und hakte ihn gerade in die Sehne ein. Er spannte den Bogen, visierte eine ganze Weile ein Ziel an und schoss. Das eigenartige Sirren, wenn der Pfeil abschwirrt, zerriss die Stille und die Sehne schnellte mit einem Plopp zurück. Das Tier hatte zuvor noch die Löffel aufgestellt, das war zu sehen, aber es war zu spät zum Wegrennen. In derselben Sekunde hatte der Pfeil es erreicht und seinem wilden Waldleben ein Ende bereitet. Der Hase fiel auf den Rücken, zappelte noch einen Moment und blieb dann reglos liegen. Bula stieß einen Triumpfschrei aus und wollte sofort hin laufen. Boran hielt ihn fest: „Noch nicht und bleibt alle unten!“
Er zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und hakte ihn in die Sehne ein. Spannte den Bogen aber nicht, visierte kein Ziel an, wartete. Dann, als hätte er den richtigen Zeitpunkt geahnt, spannte er den Bogen mit einem Mal, folgte mit der Pfeilspitze dem Flug des auffliegenden Vogels und schoss. Der Pfeil flog in die richtige Richtung, es sah nach einem Volltreffer aus, doch er verfehlte den Vogel um Haaresbreite, weil dieser einen Moment vorher die Richtung wechselte.
Boran fluchte. Wir anderen stießen ein enttäuschtes „Oh“ aus.
Schließlich holte unser Anführer den Hasen, verschnürte seine Hinterläufe und hängte das tote Tier an seinen Rucksack.
„Das ist zu wenig für uns alle“, sagte er, „Supermärkte gibt es keine mehr, wie ihr wisst. Wenn wir auf Dauer überleben wollen, müsst ihr alle die Jagd lernen.
Das heißt, mit Pfeil und Bogen umgehen, wie ich es gerade getan habe.“
Es wurde zunehmend dunkler und wir waren noch nicht am Ziel.
„Keine Zeit mehr für weitere Jagd“, sagte Boran nach einem Blick in Richtung Sonne, „wir müssen weiter.“
2. Am Abend prasselte ein Feuer in der Höhle, an einer geschützten Stelle im Innern, die über einen eigens gebauten Rauchabzug verfügte. Man konnte in dieser Höhle aufrecht stehen, sie war groß, und sie hätte genug Raum für noch mehr Menschen geboten. Nach hinten raus waren zwei Gänge zu sehen, die weiter ins Innere führten. Um sie zu begehen, hätte man jedoch kriechen müssen. Der Eingang vorne war durch Gebüsche getarnt, die man zu Seite drücken musste, um reinschlüpfen zu können. Für Steinzeitverhältnisse eine ideale Wohnmöglichkeit.
Wenn wir unterwegs an Himbeer- und Brombeersträuchern vorbei kamen, hatte der Junge Bula immer schnell einige der Beeren gepflückt, so dass sich am Ende ein paar Hände voll davon angesammelt hatten. Boran gab ihm eine Art Schüssel, damit er sie rein legen und waschen konnte. An einer Wand stand ein primitiver Küchenschrank aus grobem Holz, der über Geschirr und dergleichen verfügte. Das war nicht ganz stilecht und erinnerte an Zivilsation. Aber keiner hatte etwas dagegen, Porzellan etwaigen Blättern vorzuziehen, die man ohne das hätte nehmen müssen.
Draußen, nicht weit von der Höhle entfernt, war eine Quelle mit Trinkwasser. Ruda ging mit, als Bula mit der Schüssel nach draußen lief, um die Beeren zu waschen. Boran schickte Leon gleich hinterher, mit zwei Flaschen bewaffnet, um Wasser mit zu bringen. Alle anderen saßen im Kreis und sahen dem Anführer zu, wie dieser den Hasen häutete.
„In Zukunft erwarte ich, dass jeder das mal macht“, sagte er und sah in die Runde, „also gut aufgepasst!“
Ruda und der Junge hatten auch Holz dabei, als sie wieder kamen. Trockene Äste und Zweige, die sie vom Boden aufgesammelt hatten. Es gab ein Beil, das aus einem geschliffenen Stein mit einem Stil bestand. Boran nahm es von seinem Gürtel, hackte damit die Äste klein und legte einen Teil auf die Feuerstelle. „Feuer ist existentiell“, sagte er, „genau wie Wasser und Nahrungsmittel. Alles in den nächsten Tagen wird sich hauptsächlich darum drehen.“
Inzwischen war das Fleisch gar und es gab die Beeren dazu, die Ruda zusammen mit Bula zuvor an der Quelle in der Nähe gewaschen hatte. Alle waren nach dem Gewaltmarsch ziemlich erschöpft. Allein der Hunger hatte sie davon abgehalten, sich gleich irgendwo hinzulegen und gar nichts mehr zu tun. „Wie ihr seht“, sagte Boran, und schnitt mit einem Jagdmesser das erste Stück Fleisch ab, „erhalten wir jetzt den Lohn der Mühe, können essen und haben Wasser zu trinken.“
Im weiteren wurde so gut wie nichts mehr geredet. Alle waren intensiv mit Kauen beschäftigt. Fleisch mit Beeren und Wasser, dachte ich. Und das Ganze in einer Höhle. Ruda nahm das nicht so philosophisch, so viel ich sehen konnte. Ob ihr das Fleisch schmeckte, war schwer zu sagen. Aber ihre Augen glitten an den Höhlenwänden hoch und runter und ihr Gesichtsausdruck drückte Zufriedenheit aus. Vielleicht war sie einfach deswegen glücklich, weil sie nicht mehr laufen musste. Ihr Mann Leon, der über eine ziemliche Leibesfülle verfügte, schien nur das Essen im Fokus zu haben. Er futterte seine Ration und fragte, ob es noch Nachschlag gäbe.
„Wie viele Hasen sind geschossen worden?“, fragte Boran.
„Na, einer“, erwiderte Leon.
„Genau – und der ist bereits verspeist.“
3. Lora hatte sich inzwischen die Schuhe ausgezogen und besah die Blasen, die sie sich gelaufen hatte.
„Nicht aufstechen!“, sagte Boran, der sie beobachtete, „sonst kannst du vielleicht gar nicht mehr laufen, weil das rohe Fleisch am Schuhleder reibt.“
Lora nickte. Sie machte sich etwas Speichel auf den Zeigefinger und trug es vorsichtig auf die Blasen auf.
„Die gehen von alleine wieder weg“, erklärte Boran und lächelte.
Lora nickte, aber zu einem Lächeln konnte sie sich nicht durchringen.
Der Anführer sah der Reihe nach alle an und sagte: „Die Zivilisation ist passe, damit müssen wir uns abfinden. Wir sind zurück geworfen auf die Anfänge. Aber wir leben noch, haben Geist, Fantasie und einen starken Willen. Sind nicht alle Zivilisationen mit eben diesen menschlichen Eigenschaften errichtet worden?“
Keiner sagte etwas – alle schwiegen und senkten die Köpfe.
„Aber das hier ist doch nur ein Seminar“, warf ich ein, „wir leben doch nicht wirklich in der Endzeit; die Zivilisation ist ja noch vorhanden.“
Boran sah mich an, wie man ein verirrtes Schäfchen ansieht. „Wenn ihr in diesem Seminar etwas lernen wollt, stellt euch besser vor, es wäre so,
wie ich es gesagt habe.“
Wir anderen warfen uns achselzuckend Blicke zu, waren aber zu müde für eine Grundsatzdiskussion. Außerdem war ER ja der unangefochtene Guru, der uns augenscheinlich einiges voraus hatte. „Der scheint das wirklich ernst zu meinen“, flüsterte Lora mir ins Ohr.
Wir fanden es alle komisch, ahnten aber nicht, dass es weit mehr war als das.
„Wir werden uns Morgen eine richtige Schlafstätte bauen“, fuhr Boran fort, „und die Grube draußen muss vergrößert werden.“
Wir nickten und dem einen oder anderen fielen bereits im Sitzen die Augen zu. Für diese Nacht legten wir uns auf unsere Jacken und Mäntel in die Nähe des Feuers. Es durfte keinesfalls ausgehen. Genug Holz war da und der Wachposten hatte unter anderem die Aufgabe dafür zu sorgen, dass immer genug Holz nach gelegt wurde.
Gegen drei Uhr, schätzte ich, riss mich Boran aus dem Schlaf: „He Milo, du musst die aktuelle Wache draußen ablösen!“ Ich blinzelte ihn verschlafen an: „Brauchen wir die Wache überhaupt, den Eingang sieht man doch gar nicht. Wer soll denn wissen, dass wir hier drin sind?“ Boran riss mich hoch, stellte mich auf die Füße und sagte: „Du warst mit den Regeln hier einverstanden und hast unterschrieben, dass du mich als Führer anerkennst. Also geh jetzt gefälligst nach draußen und löse Leon ab!“
Am nächsten Morgen waren alle bereits um sechs Uhr wach. Boran hatte sie von ihren Lagern aufgescheucht. „Als erstes muss ein Gemeinschaftsbett gebaut werden“, sagte er. Ruda, Lora und Leon schickte er mit Messern nach draußen, sie sollten lange Zweige abschneiden. Sie liefen an mir vorbei, ich hielt immer noch Wache. Lora erzählte mir bei der Gelegenheit, was Boran ihnen aufgetragen hatte. „Dieser Typ wird mir langsam unheimlich“, sagte sie.
„Ja“, antwortete ich, „er lässt ziemlich den Boss raushängen.“
Als die drei los gelaufen waren, und ich so alleine vor der Höhle stand, überfiel mich Zivilisationsstimmung. Ich dachte an einen gemütlichen Abend mit meiner Frau in unserem Haus. So mit allen Annehmlichkeiten: Köstlichem Essen, einem Film im Fernsehen und danach ein wunderbares, frisches Bett mit Federkissen. Ehrlich gesagt, war ich drauf und dran hier schleunigst die Biege zu machen. Was bildete sich dieser Boran eigentlich ein?
Die Feuerstelle wurde vergrößert, um nachts mehr Wärme zu haben. Ein Bett für alle wurde hergestellt, mit dicken Ästen, die wir zu einem Untergestell zusammen banden und dann Zweige und große Blätter darauf schichteten. Und die Toilettengrube wurde vergrößert. Das war der größte Spaß, weil sie bereits ausgiebig benutzt worden war.
Am anderen Tag bauten ich und Leon, unter Borans Anleitung, Pfeil und Bogen für die Jagd. Die Frauen waren unterwegs und holten Gemüse von den Feldern, die es in der Nähe gab. Die Gesellschaft, der Boran unterstand, hatte mit den Bauern ein Abkommen geschlossen, so dass das möglich war.
Gegen Spätnachmittag, als die Jagdwaffen fertig waren, gab Boran uns Unterricht im Schießen. Wir hatten uns vor der Höhle einen Baum ausgesucht und schossen eifrig daneben. Er zeigte uns, wie man den Bogen richtig hält, wie man spannt und wie man die rechte Hand öffnet, um den Pfeil loszulassen. Als das so einigermaßen funktionierte, lernten wir das Ziel anzuvisieren. Da noch Zeit war, bis es dunkel wurde, gingen wir am selben Tag noch jagen. Boran schoss zwei Hasen, wir anderen schossen mehr als zwei mal daneben.
„Das muss auf jeden Fall besser werden“, meinte unser Anführer, „wenn wir nichts schießen, haben wir nichts zu essen.“ Wir nickten beide. Ich dachte, dass wir bei Borans Jagdkünsten so schnell nicht würden hungern müssen. Egal also, ob wir trafen oder nicht.
Bula, der Junge stieß, nachdem wir später gegessen hatten, mit einem Stock Kohlestücke aus dem Feuer. Er ließ sie erkalten und malte dann damit auf eine der Höhlenwände. Keine Tiere und Jäger, wie die Steinzeitmenschen, er malte ein Auto. Als Boran das sah, sprang er auf, lief zu ihm hin und riss ihm das Kohlestück aus der Hand. „Es gibt keine Autos mehr“, brüllte er regelrecht, „hab ich dir und den anderen nicht deutlich gesagt, wo wir uns hier befinden?“
Bula sah ihn an, ohne ein Wort zu verstehen. „Wieso gibt es keine Autos mehr?“, fragte er.
Boran verwischte die angefangene Zeichnung und fügte hinzu: „Du malst, was es hier gibt und sonst nichts!“
Bula zog ein trotziges Gesicht und rannte zu Ruda. Er setzte sich neben sie und sie nahm ihn in den Arm, um ihn zu beruhigen. „Sag mal, Boran, rief sie zum Anführer rüber, „haben wir auch unterschrieben, dass wir deine rüden Manieren und deine unpassenden Worte anhören müssen?“
„Wieso unpassend?“
Ruda fasste Bula am Arm und erwiderte: „Was ist das hier – was siehst du?“
„Ein Kind.“
„Genau. Und dieses Kind malt was es kennt. Es ist nun mal kein Steinzeitkind – es kennt die Zivilisation und da gibt es Autos.“
Boran sah sie an und wollte zu einer Gegenrede anheben. Doch er überlegte es sich anders, winkte ab und ging in Richtung Ausgang der Höhle.
Der nächste Tag, der dritte von vierzehn Tagen, brachte eine Überraschung. Leon hatte wieder Wache gehalten und kam auf ungewöhnliche Art gerade herein. Man hatte ihm die Hände gefesselt und einer trieb ihn vor sich her. Fünf Männer drangen auf die Art in unsere Höhle ein. Sie waren halb nackt, tätowiert, mit dunkler Haut und zwei trugen einen großen Knochen als Schmuck um den Hals. Mit Lanzen und Beilen bewaffnet, starrten sie uns finster an, als sie in der Mitte der Höhle inne hielten. Bula vergrub sein Gesicht, indem er es auf die Brust seiner Mutter drückte. Ich und die anderen starrten mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen ungläubig auf die Eindringlinge. Der Schreckensmoment lähmte uns regelrecht. Reglos sahen wir zu, wie sie Leon zu Boden warfen und ihm auch noch die Füße fesselten.
4. Ich sprang auf, stieß einen der Kerle zur Seite und lief aus Höhle. Nicht aus Feigheit, ich wollte Boran finden, um zu klären, was hier vor sich geht.
Boran stand vor der Höhle und zog an einer Zigarette. „Sehr steinzeitmäßig“, kommentierte ich, „haben die damals auch Marlboro geraucht?“
Boran lachte und nahm einen weiteren Zug.
„Was willst du?“
„Diese Wilden da drin“, ich zeigte hinter mich zur Höhle, „was soll das?“
Boran schwieg einen Moment, ehe er erwiderte: „Auf die Art lernt ihr das am besten.“
Mir stand der Mund offen und meine Kinnlade fiel in Richtung Boden.
„Dann hast du dich also absichtlich verdrückt und uns mit denen alleine gelassen?“
„Ihr sollt was lernen.“
„Hast du schon mal gecheckt“, schrie ich ihn an, „dass da Frauen und ein Kind dabei sind?“
Boran antwortete nicht. Er rauchte fertig, ließ die Kippe auf den Boden fallen und drückte sie mit dem hinteren Teil seiner Schuhsohle aus. Dann packte er mich am Arm und zog mich mit sich in die Höhle.
Kent, ich habe ihn bis dato noch nicht erwähnt, war aufgestanden und zu den Wilden hin gelaufen. Er war bisher niemandem aufgefallen. Sehen konnte ihn jeder, aber keiner sprach mit ihm, vermutlich weil er auch mit keinem sprach. Er trug einen struppigen Bart, war sehr dünn, aber sehnig und seine beiden Unterarme waren voll mit Tatoos. Sein Gesichtsausdruck hatte in dem Moment, als wir eintraten, etwas Furchteinflössendes und vor allem Entschlossenes.
Er ging auf Boran zu und stand ihm Auge in Auge gegenüber. „Kannst du mir mal erklären“, schrie er ihn an, „was dieses Theater hier soll?“
Boran erwiderte unerschrocken seinen Blick. „Du kannst ja reden, Kent, das wusste ich nicht.“
Es wäre unter anderen Umständen witzig gewesen und vermutlich hätten alle gelacht. Jetzt lachte niemand. Man sah die Angst in den Augen der Anwesenden. Einer der Wilden hatte sein Beil vom Gürtel genommen. Leon lag bäuchlings auf dem Boden. Der Wilde packte seine Haare und schob sie hoch, so dass Leons Nacken frei wurde. Dann holte er mit dem Beil aus.
Ruda, die bisher mit ihrem Sohn Bula in einer Art traumatischer Starre verharrt war, sprang in dem Moment auf. „Lass meinen Mann in Ruhe“, schrie sie und sprang den Wilden an. Sie schaffte es, dessen Arm zu packen, der augenscheinlich mit dem Beil zuschlagen wollte. Mit der Linken versetzte sie dem Wilden einen Faustschlag, so dass dieser auf die Seite kippte. Boran hob endlich die Hand und sagte im Befehlston: „Es reicht – ihr habt euren Job getan.“
Die Männer nickten, grinsten und stellten ihre Lanzen an eine Felswand. Der Wilde mit dem Beil steckte selbiges zurück an seinen Gürtel.
Einer der vermeintlich Wilden trat auf Boran zu und sagte: „Du wolltest doch, dass wir es so machen, oder?“
Boran nickte.
Der Mann wischte sich übers Gesicht und seine weiße Haut kam zum Vorschein. Er zog die Kraushaarperücke ab, seine Haare waren blond,
lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sah in die Runde und sagte: „Bis wir diese Schminke wieder runter haben ...“
Boran unterbrach ihn: „Verzieht euch jetzt“, sagte er, „ihr habt das gut gemacht. Aber wir leben hier in der Steinzeit und es soll weiter echt bleiben.
Kein Blick hinter die Kulissen.“
Er schnitt Leon die Fesseln durch und half ihm beim Aufstehen. Die fünf Männer nahmen ihre Lanzen von der Wand und marschierten in Richtung
Ausgang. Einer drehte sich nochmal um und sagte: „Entschuldigung – wir sind Schauspieler. Es musste echt wirken.“
5. Eine gewisse Erleichterung machte sich unter ihnen breit, als sie an kamen und ihre Autos in der Nähe des Gebäudes stehen sahen. Das Haus selbst war intakt, ebenso das Gewerbegebiet drum herum. Auch die Stadt dahinter, in der sie wohnten, schien noch intakt zu sein; man sah den Lichtschein. Ihre Häuser, ihr Hab und Gut, alles vermutlich noch vorhanden. Was für ein Gefühl, nach zwei Wochen Steinzeit, zurück ins 21. Jahrhundert zu kommen und die Welt ist noch nicht im Chaos versunken. Autos sah man auf der Straße fahren, es gab Strom und Licht, die Zivilisation war augenscheinlich noch vorhanden. Sie stiegen die Treppe zum Eingang des Gebäudes hinauf, über dem ein Schild mit Neonbeleuchtung prangte: Firma Endzeit.
Darunter der Zusatz: Fühlen wie es sein könnte, um zu überleben!
Sie duschten, zogen sich um und verabschiedeten sich von Boran, der jetzt wieder Herr Lohnkötter hieß. Lora und Kent hießen wieder Frau Berthold
und Herr Wagner. Leon und seine Frau waren wieder das Ehepaar Bogner und Bula, ihr Sohn, war wieder Marvin.
„Es gibt noch eine zweite Endzeit, die man buchen kann“, sagte Lohnkötter bei der Verabschiedung. „Da lebt man an einem Fluss mit verseuchtem Wasser und ist mit einer Insektenplage konfrontiert.“
Er sah von einem zum anderen: „Eine Herausforderung für Fortgeschrittene, wie Sie es inzwischen sind. Die Ausgangslage wird eine andere sein. Sie werden auch diesmal ihr Hab und Gut verloren haben und umherirren, aber nicht wegen Stürmen und Fluten. Die Zivilisation wird noch nicht gänzlich verschwunden sein, so wie es bei uns war. Wir werden noch ein paar zivilisatorische Annehmlichkeiten genießen können und bessere Kleidung tragen.“
Begeisterung wollte bei den Angesprochenen allerdings nicht so recht aufkommen. Herr Lohnkötter hatte sich auch umgezogen, trug jetzt einen Anzug, der seine kräftige Gestalt verbarg. Außerdem blinzelte er durch eine Brille, wie ein Buchhalter; hatte als Boran vermutlich Kontaktlinsen getragen.
„Sie können es sich ja in aller Ruhe überlegen“, sagte er in verbindlichem Ton.
Alle nickten aus Freundlichkeit, hoben in einer letzten Abschiedsgeste die Hände und strebten ihren Autos zu. Lohnkötter fragte sich, ob er sie nochmal zu Gesicht bekommen würde. Es war nicht leicht, immer wieder Kundschaft für diese Art von Business zu bekommen.
Es fing mit einem leichten Beben an. Alles zitterte auf einmal. Niemand wusste was los war.
Das Beben und Zittern nahm zu. Die Farbe des Himmels wurde zunehmend dunkler. Das Sonnenlicht verschwand fast schlagartig. Der Platz vor dem Firmengebäude hob sich zuerst, dann riss eine gewaltige Erdspalte auf. Ein Sturm fegte los. Lohnkötter blinzelte ungläubig eine Sekunde hinter seiner Brille. Dann schrie er den anderen nach, die schon fast bei ihren Autos waren: „Kommt zurück – sucht Schutz hier im Haus!“
In dem Moment riss ihn ein Windstoß von der Treppe, auf der er stand. Er knallte auf den Boden und sah das Firmengebäude hinter sich zusammen fallen, als wäre es ein Kartenhaus. Er rollte sich zusammen und bedeckte mit beiden Händen seinen Kopf. Die anderen sahen es und warfen sich instinktiv auf den Boden. Die Erdspalte riss immer mehr auf, so dass sie wieder auf sprangen und hinter ihre Auto liefen. Doch die drohten von dem immer stärkeren Sog des Windes weg geschleudert zu werden. So sprangen sie wieder auf, drehten sich um und rannten in Richtung des Waldstückes hinter den Parkplätzen. Ob das das richtige war, schien nicht klar zu sein. Im Wald würden sie sich auch in großer Gefahr befinden, wenn der Wind so weiter wütete. Darüber nachzudenken und einem besseren Plan zu folgen, dazu war keine Zeit. Sie mussten Schutz finden. Sonst war es aus. Kent rannte ganz vorne, drehte sich im laufen halb um und schrie: „Passt auf die umfallenden Bäume auf!“
ENDE
Was mehr an ihnen lag, als an Bula dem Jungen, den sie bei sich hatten. Wir warteten.
„Ihr müsst versuchen, mit uns Schritt zu halten“, belehrte Boran sie, als sie zu uns aufschlossen.
Ruda verzog das Gesicht, man konnte ihr die Erschöpfung deutlich ansehen. Leon, der die Ärmel hochgekrempelt hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte: „Wie lange soll das noch so weiter gehen? Wir sind jetzt seit Stunden nichts als gelaufen und gelaufen. So haben wir uns das nicht vorgestellt.“
Boran sah uns einer nach dem anderen an und registrierte, dass wir alle mehr oder weniger erschöpft waren.
„Okay, zehn Minuten Pause!“
Als wir saßen fügte er hinzu: „Dass das keine lustbetonte Wanderung wird, habt ihr doch alle beim Briefing mit bekommen.“ Er sah in die Runde: „Oder?“
Wir nickten alle, keiner sagte „Ja!“ - das hätte nur wieder Kraft gekostet.
Wir machten die Beine lang und waren dankbar für die Unterbrechung. Ich schleppte mich zu einem Baumstumpf am Wegrand, nahm die Feldflasche vom Gürtel und trank einen Schluck. Boran schien bei weitem nicht so erschöpft zu sein, wie wir anderen. Er trank auch kaum etwas. Vielleicht ist er ein Übermensch, überlegte ich. So ein Haufen Weicheier wie wir es waren, sind nicht gerade förderlich, wenn ein anspruchsvolleres Ziel erreicht werden soll. Aber gerade deswegen waren wir ja hier. Nicht nur, um uns das vorzustellen, sondern es auch für eine gewisse Zeit praktisch zu erleben.
„Wie weit ist es noch?“, wagte ich zu fragen.
Boran maß mich mit einem prüfenden Blick. „Lass dich überraschen Milo, okay?“
Ich nickte und verzichtete darauf, weitere Fragen zu stellen. Einen Moment dachte ich über die komischen Endzeitnamen nach, die wir uns selbst aussuchen mussten. Unsere wirklichen Namen durften nicht benutzt werden – damit diese Atmosphäre erzeugt wird, wie man uns sagte.
Die Pause verging schnell. Boran stand mit einem Mal auf und es ging weiter. Mühsam brachten wir unsere Hintern in die Höhe und folgten ihm.
Stunden später lichtete sich der Wald mehr und mehr und man ahnte, dass uns die Landschaft bald ein anderes Gesicht zeigen würde. Noch bevor wir das Ende des Waldes erreicht hatten, bedeutete Boran uns stehen zu bleiben und runter in die Hocke zu gehen. Er legte für alle sichtbar den Zeigefinger auf die Lippen, damit wir uns ruhig verhielten.
Lora flüsterte: „Was ist denn los?“ Ich hielt ihr den Mund zu und zeigte nach vorne auf die Lichtung. Boran stand vor uns, hatte einen Pfeil aus dem Köcher gezogen und hakte ihn gerade in die Sehne ein. Er spannte den Bogen, visierte eine ganze Weile ein Ziel an und schoss. Das eigenartige Sirren, wenn der Pfeil abschwirrt, zerriss die Stille und die Sehne schnellte mit einem Plopp zurück. Das Tier hatte zuvor noch die Löffel aufgestellt, das war zu sehen, aber es war zu spät zum Wegrennen. In derselben Sekunde hatte der Pfeil es erreicht und seinem wilden Waldleben ein Ende bereitet. Der Hase fiel auf den Rücken, zappelte noch einen Moment und blieb dann reglos liegen. Bula stieß einen Triumpfschrei aus und wollte sofort hin laufen. Boran hielt ihn fest: „Noch nicht und bleibt alle unten!“
Er zog einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und hakte ihn in die Sehne ein. Spannte den Bogen aber nicht, visierte kein Ziel an, wartete. Dann, als hätte er den richtigen Zeitpunkt geahnt, spannte er den Bogen mit einem Mal, folgte mit der Pfeilspitze dem Flug des auffliegenden Vogels und schoss. Der Pfeil flog in die richtige Richtung, es sah nach einem Volltreffer aus, doch er verfehlte den Vogel um Haaresbreite, weil dieser einen Moment vorher die Richtung wechselte.
Boran fluchte. Wir anderen stießen ein enttäuschtes „Oh“ aus.
Schließlich holte unser Anführer den Hasen, verschnürte seine Hinterläufe und hängte das tote Tier an seinen Rucksack.
„Das ist zu wenig für uns alle“, sagte er, „Supermärkte gibt es keine mehr, wie ihr wisst. Wenn wir auf Dauer überleben wollen, müsst ihr alle die Jagd lernen.
Das heißt, mit Pfeil und Bogen umgehen, wie ich es gerade getan habe.“
Es wurde zunehmend dunkler und wir waren noch nicht am Ziel.
„Keine Zeit mehr für weitere Jagd“, sagte Boran nach einem Blick in Richtung Sonne, „wir müssen weiter.“
2. Am Abend prasselte ein Feuer in der Höhle, an einer geschützten Stelle im Innern, die über einen eigens gebauten Rauchabzug verfügte. Man konnte in dieser Höhle aufrecht stehen, sie war groß, und sie hätte genug Raum für noch mehr Menschen geboten. Nach hinten raus waren zwei Gänge zu sehen, die weiter ins Innere führten. Um sie zu begehen, hätte man jedoch kriechen müssen. Der Eingang vorne war durch Gebüsche getarnt, die man zu Seite drücken musste, um reinschlüpfen zu können. Für Steinzeitverhältnisse eine ideale Wohnmöglichkeit.
Wenn wir unterwegs an Himbeer- und Brombeersträuchern vorbei kamen, hatte der Junge Bula immer schnell einige der Beeren gepflückt, so dass sich am Ende ein paar Hände voll davon angesammelt hatten. Boran gab ihm eine Art Schüssel, damit er sie rein legen und waschen konnte. An einer Wand stand ein primitiver Küchenschrank aus grobem Holz, der über Geschirr und dergleichen verfügte. Das war nicht ganz stilecht und erinnerte an Zivilsation. Aber keiner hatte etwas dagegen, Porzellan etwaigen Blättern vorzuziehen, die man ohne das hätte nehmen müssen.
Draußen, nicht weit von der Höhle entfernt, war eine Quelle mit Trinkwasser. Ruda ging mit, als Bula mit der Schüssel nach draußen lief, um die Beeren zu waschen. Boran schickte Leon gleich hinterher, mit zwei Flaschen bewaffnet, um Wasser mit zu bringen. Alle anderen saßen im Kreis und sahen dem Anführer zu, wie dieser den Hasen häutete.
„In Zukunft erwarte ich, dass jeder das mal macht“, sagte er und sah in die Runde, „also gut aufgepasst!“
Ruda und der Junge hatten auch Holz dabei, als sie wieder kamen. Trockene Äste und Zweige, die sie vom Boden aufgesammelt hatten. Es gab ein Beil, das aus einem geschliffenen Stein mit einem Stil bestand. Boran nahm es von seinem Gürtel, hackte damit die Äste klein und legte einen Teil auf die Feuerstelle. „Feuer ist existentiell“, sagte er, „genau wie Wasser und Nahrungsmittel. Alles in den nächsten Tagen wird sich hauptsächlich darum drehen.“
Inzwischen war das Fleisch gar und es gab die Beeren dazu, die Ruda zusammen mit Bula zuvor an der Quelle in der Nähe gewaschen hatte. Alle waren nach dem Gewaltmarsch ziemlich erschöpft. Allein der Hunger hatte sie davon abgehalten, sich gleich irgendwo hinzulegen und gar nichts mehr zu tun. „Wie ihr seht“, sagte Boran, und schnitt mit einem Jagdmesser das erste Stück Fleisch ab, „erhalten wir jetzt den Lohn der Mühe, können essen und haben Wasser zu trinken.“
Im weiteren wurde so gut wie nichts mehr geredet. Alle waren intensiv mit Kauen beschäftigt. Fleisch mit Beeren und Wasser, dachte ich. Und das Ganze in einer Höhle. Ruda nahm das nicht so philosophisch, so viel ich sehen konnte. Ob ihr das Fleisch schmeckte, war schwer zu sagen. Aber ihre Augen glitten an den Höhlenwänden hoch und runter und ihr Gesichtsausdruck drückte Zufriedenheit aus. Vielleicht war sie einfach deswegen glücklich, weil sie nicht mehr laufen musste. Ihr Mann Leon, der über eine ziemliche Leibesfülle verfügte, schien nur das Essen im Fokus zu haben. Er futterte seine Ration und fragte, ob es noch Nachschlag gäbe.
„Wie viele Hasen sind geschossen worden?“, fragte Boran.
„Na, einer“, erwiderte Leon.
„Genau – und der ist bereits verspeist.“
3. Lora hatte sich inzwischen die Schuhe ausgezogen und besah die Blasen, die sie sich gelaufen hatte.
„Nicht aufstechen!“, sagte Boran, der sie beobachtete, „sonst kannst du vielleicht gar nicht mehr laufen, weil das rohe Fleisch am Schuhleder reibt.“
Lora nickte. Sie machte sich etwas Speichel auf den Zeigefinger und trug es vorsichtig auf die Blasen auf.
„Die gehen von alleine wieder weg“, erklärte Boran und lächelte.
Lora nickte, aber zu einem Lächeln konnte sie sich nicht durchringen.
Der Anführer sah der Reihe nach alle an und sagte: „Die Zivilisation ist passe, damit müssen wir uns abfinden. Wir sind zurück geworfen auf die Anfänge. Aber wir leben noch, haben Geist, Fantasie und einen starken Willen. Sind nicht alle Zivilisationen mit eben diesen menschlichen Eigenschaften errichtet worden?“
Keiner sagte etwas – alle schwiegen und senkten die Köpfe.
„Aber das hier ist doch nur ein Seminar“, warf ich ein, „wir leben doch nicht wirklich in der Endzeit; die Zivilisation ist ja noch vorhanden.“
Boran sah mich an, wie man ein verirrtes Schäfchen ansieht. „Wenn ihr in diesem Seminar etwas lernen wollt, stellt euch besser vor, es wäre so,
wie ich es gesagt habe.“
Wir anderen warfen uns achselzuckend Blicke zu, waren aber zu müde für eine Grundsatzdiskussion. Außerdem war ER ja der unangefochtene Guru, der uns augenscheinlich einiges voraus hatte. „Der scheint das wirklich ernst zu meinen“, flüsterte Lora mir ins Ohr.
Wir fanden es alle komisch, ahnten aber nicht, dass es weit mehr war als das.
„Wir werden uns Morgen eine richtige Schlafstätte bauen“, fuhr Boran fort, „und die Grube draußen muss vergrößert werden.“
Wir nickten und dem einen oder anderen fielen bereits im Sitzen die Augen zu. Für diese Nacht legten wir uns auf unsere Jacken und Mäntel in die Nähe des Feuers. Es durfte keinesfalls ausgehen. Genug Holz war da und der Wachposten hatte unter anderem die Aufgabe dafür zu sorgen, dass immer genug Holz nach gelegt wurde.
Gegen drei Uhr, schätzte ich, riss mich Boran aus dem Schlaf: „He Milo, du musst die aktuelle Wache draußen ablösen!“ Ich blinzelte ihn verschlafen an: „Brauchen wir die Wache überhaupt, den Eingang sieht man doch gar nicht. Wer soll denn wissen, dass wir hier drin sind?“ Boran riss mich hoch, stellte mich auf die Füße und sagte: „Du warst mit den Regeln hier einverstanden und hast unterschrieben, dass du mich als Führer anerkennst. Also geh jetzt gefälligst nach draußen und löse Leon ab!“
Am nächsten Morgen waren alle bereits um sechs Uhr wach. Boran hatte sie von ihren Lagern aufgescheucht. „Als erstes muss ein Gemeinschaftsbett gebaut werden“, sagte er. Ruda, Lora und Leon schickte er mit Messern nach draußen, sie sollten lange Zweige abschneiden. Sie liefen an mir vorbei, ich hielt immer noch Wache. Lora erzählte mir bei der Gelegenheit, was Boran ihnen aufgetragen hatte. „Dieser Typ wird mir langsam unheimlich“, sagte sie.
„Ja“, antwortete ich, „er lässt ziemlich den Boss raushängen.“
Als die drei los gelaufen waren, und ich so alleine vor der Höhle stand, überfiel mich Zivilisationsstimmung. Ich dachte an einen gemütlichen Abend mit meiner Frau in unserem Haus. So mit allen Annehmlichkeiten: Köstlichem Essen, einem Film im Fernsehen und danach ein wunderbares, frisches Bett mit Federkissen. Ehrlich gesagt, war ich drauf und dran hier schleunigst die Biege zu machen. Was bildete sich dieser Boran eigentlich ein?
Die Feuerstelle wurde vergrößert, um nachts mehr Wärme zu haben. Ein Bett für alle wurde hergestellt, mit dicken Ästen, die wir zu einem Untergestell zusammen banden und dann Zweige und große Blätter darauf schichteten. Und die Toilettengrube wurde vergrößert. Das war der größte Spaß, weil sie bereits ausgiebig benutzt worden war.
Am anderen Tag bauten ich und Leon, unter Borans Anleitung, Pfeil und Bogen für die Jagd. Die Frauen waren unterwegs und holten Gemüse von den Feldern, die es in der Nähe gab. Die Gesellschaft, der Boran unterstand, hatte mit den Bauern ein Abkommen geschlossen, so dass das möglich war.
Gegen Spätnachmittag, als die Jagdwaffen fertig waren, gab Boran uns Unterricht im Schießen. Wir hatten uns vor der Höhle einen Baum ausgesucht und schossen eifrig daneben. Er zeigte uns, wie man den Bogen richtig hält, wie man spannt und wie man die rechte Hand öffnet, um den Pfeil loszulassen. Als das so einigermaßen funktionierte, lernten wir das Ziel anzuvisieren. Da noch Zeit war, bis es dunkel wurde, gingen wir am selben Tag noch jagen. Boran schoss zwei Hasen, wir anderen schossen mehr als zwei mal daneben.
„Das muss auf jeden Fall besser werden“, meinte unser Anführer, „wenn wir nichts schießen, haben wir nichts zu essen.“ Wir nickten beide. Ich dachte, dass wir bei Borans Jagdkünsten so schnell nicht würden hungern müssen. Egal also, ob wir trafen oder nicht.
Bula, der Junge stieß, nachdem wir später gegessen hatten, mit einem Stock Kohlestücke aus dem Feuer. Er ließ sie erkalten und malte dann damit auf eine der Höhlenwände. Keine Tiere und Jäger, wie die Steinzeitmenschen, er malte ein Auto. Als Boran das sah, sprang er auf, lief zu ihm hin und riss ihm das Kohlestück aus der Hand. „Es gibt keine Autos mehr“, brüllte er regelrecht, „hab ich dir und den anderen nicht deutlich gesagt, wo wir uns hier befinden?“
Bula sah ihn an, ohne ein Wort zu verstehen. „Wieso gibt es keine Autos mehr?“, fragte er.
Boran verwischte die angefangene Zeichnung und fügte hinzu: „Du malst, was es hier gibt und sonst nichts!“
Bula zog ein trotziges Gesicht und rannte zu Ruda. Er setzte sich neben sie und sie nahm ihn in den Arm, um ihn zu beruhigen. „Sag mal, Boran, rief sie zum Anführer rüber, „haben wir auch unterschrieben, dass wir deine rüden Manieren und deine unpassenden Worte anhören müssen?“
„Wieso unpassend?“
Ruda fasste Bula am Arm und erwiderte: „Was ist das hier – was siehst du?“
„Ein Kind.“
„Genau. Und dieses Kind malt was es kennt. Es ist nun mal kein Steinzeitkind – es kennt die Zivilisation und da gibt es Autos.“
Boran sah sie an und wollte zu einer Gegenrede anheben. Doch er überlegte es sich anders, winkte ab und ging in Richtung Ausgang der Höhle.
Der nächste Tag, der dritte von vierzehn Tagen, brachte eine Überraschung. Leon hatte wieder Wache gehalten und kam auf ungewöhnliche Art gerade herein. Man hatte ihm die Hände gefesselt und einer trieb ihn vor sich her. Fünf Männer drangen auf die Art in unsere Höhle ein. Sie waren halb nackt, tätowiert, mit dunkler Haut und zwei trugen einen großen Knochen als Schmuck um den Hals. Mit Lanzen und Beilen bewaffnet, starrten sie uns finster an, als sie in der Mitte der Höhle inne hielten. Bula vergrub sein Gesicht, indem er es auf die Brust seiner Mutter drückte. Ich und die anderen starrten mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen ungläubig auf die Eindringlinge. Der Schreckensmoment lähmte uns regelrecht. Reglos sahen wir zu, wie sie Leon zu Boden warfen und ihm auch noch die Füße fesselten.
4. Ich sprang auf, stieß einen der Kerle zur Seite und lief aus Höhle. Nicht aus Feigheit, ich wollte Boran finden, um zu klären, was hier vor sich geht.
Boran stand vor der Höhle und zog an einer Zigarette. „Sehr steinzeitmäßig“, kommentierte ich, „haben die damals auch Marlboro geraucht?“
Boran lachte und nahm einen weiteren Zug.
„Was willst du?“
„Diese Wilden da drin“, ich zeigte hinter mich zur Höhle, „was soll das?“
Boran schwieg einen Moment, ehe er erwiderte: „Auf die Art lernt ihr das am besten.“
Mir stand der Mund offen und meine Kinnlade fiel in Richtung Boden.
„Dann hast du dich also absichtlich verdrückt und uns mit denen alleine gelassen?“
„Ihr sollt was lernen.“
„Hast du schon mal gecheckt“, schrie ich ihn an, „dass da Frauen und ein Kind dabei sind?“
Boran antwortete nicht. Er rauchte fertig, ließ die Kippe auf den Boden fallen und drückte sie mit dem hinteren Teil seiner Schuhsohle aus. Dann packte er mich am Arm und zog mich mit sich in die Höhle.
Kent, ich habe ihn bis dato noch nicht erwähnt, war aufgestanden und zu den Wilden hin gelaufen. Er war bisher niemandem aufgefallen. Sehen konnte ihn jeder, aber keiner sprach mit ihm, vermutlich weil er auch mit keinem sprach. Er trug einen struppigen Bart, war sehr dünn, aber sehnig und seine beiden Unterarme waren voll mit Tatoos. Sein Gesichtsausdruck hatte in dem Moment, als wir eintraten, etwas Furchteinflössendes und vor allem Entschlossenes.
Er ging auf Boran zu und stand ihm Auge in Auge gegenüber. „Kannst du mir mal erklären“, schrie er ihn an, „was dieses Theater hier soll?“
Boran erwiderte unerschrocken seinen Blick. „Du kannst ja reden, Kent, das wusste ich nicht.“
Es wäre unter anderen Umständen witzig gewesen und vermutlich hätten alle gelacht. Jetzt lachte niemand. Man sah die Angst in den Augen der Anwesenden. Einer der Wilden hatte sein Beil vom Gürtel genommen. Leon lag bäuchlings auf dem Boden. Der Wilde packte seine Haare und schob sie hoch, so dass Leons Nacken frei wurde. Dann holte er mit dem Beil aus.
Ruda, die bisher mit ihrem Sohn Bula in einer Art traumatischer Starre verharrt war, sprang in dem Moment auf. „Lass meinen Mann in Ruhe“, schrie sie und sprang den Wilden an. Sie schaffte es, dessen Arm zu packen, der augenscheinlich mit dem Beil zuschlagen wollte. Mit der Linken versetzte sie dem Wilden einen Faustschlag, so dass dieser auf die Seite kippte. Boran hob endlich die Hand und sagte im Befehlston: „Es reicht – ihr habt euren Job getan.“
Die Männer nickten, grinsten und stellten ihre Lanzen an eine Felswand. Der Wilde mit dem Beil steckte selbiges zurück an seinen Gürtel.
Einer der vermeintlich Wilden trat auf Boran zu und sagte: „Du wolltest doch, dass wir es so machen, oder?“
Boran nickte.
Der Mann wischte sich übers Gesicht und seine weiße Haut kam zum Vorschein. Er zog die Kraushaarperücke ab, seine Haare waren blond,
lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sah in die Runde und sagte: „Bis wir diese Schminke wieder runter haben ...“
Boran unterbrach ihn: „Verzieht euch jetzt“, sagte er, „ihr habt das gut gemacht. Aber wir leben hier in der Steinzeit und es soll weiter echt bleiben.
Kein Blick hinter die Kulissen.“
Er schnitt Leon die Fesseln durch und half ihm beim Aufstehen. Die fünf Männer nahmen ihre Lanzen von der Wand und marschierten in Richtung
Ausgang. Einer drehte sich nochmal um und sagte: „Entschuldigung – wir sind Schauspieler. Es musste echt wirken.“
5. Eine gewisse Erleichterung machte sich unter ihnen breit, als sie an kamen und ihre Autos in der Nähe des Gebäudes stehen sahen. Das Haus selbst war intakt, ebenso das Gewerbegebiet drum herum. Auch die Stadt dahinter, in der sie wohnten, schien noch intakt zu sein; man sah den Lichtschein. Ihre Häuser, ihr Hab und Gut, alles vermutlich noch vorhanden. Was für ein Gefühl, nach zwei Wochen Steinzeit, zurück ins 21. Jahrhundert zu kommen und die Welt ist noch nicht im Chaos versunken. Autos sah man auf der Straße fahren, es gab Strom und Licht, die Zivilisation war augenscheinlich noch vorhanden. Sie stiegen die Treppe zum Eingang des Gebäudes hinauf, über dem ein Schild mit Neonbeleuchtung prangte: Firma Endzeit.
Darunter der Zusatz: Fühlen wie es sein könnte, um zu überleben!
Sie duschten, zogen sich um und verabschiedeten sich von Boran, der jetzt wieder Herr Lohnkötter hieß. Lora und Kent hießen wieder Frau Berthold
und Herr Wagner. Leon und seine Frau waren wieder das Ehepaar Bogner und Bula, ihr Sohn, war wieder Marvin.
„Es gibt noch eine zweite Endzeit, die man buchen kann“, sagte Lohnkötter bei der Verabschiedung. „Da lebt man an einem Fluss mit verseuchtem Wasser und ist mit einer Insektenplage konfrontiert.“
Er sah von einem zum anderen: „Eine Herausforderung für Fortgeschrittene, wie Sie es inzwischen sind. Die Ausgangslage wird eine andere sein. Sie werden auch diesmal ihr Hab und Gut verloren haben und umherirren, aber nicht wegen Stürmen und Fluten. Die Zivilisation wird noch nicht gänzlich verschwunden sein, so wie es bei uns war. Wir werden noch ein paar zivilisatorische Annehmlichkeiten genießen können und bessere Kleidung tragen.“
Begeisterung wollte bei den Angesprochenen allerdings nicht so recht aufkommen. Herr Lohnkötter hatte sich auch umgezogen, trug jetzt einen Anzug, der seine kräftige Gestalt verbarg. Außerdem blinzelte er durch eine Brille, wie ein Buchhalter; hatte als Boran vermutlich Kontaktlinsen getragen.
„Sie können es sich ja in aller Ruhe überlegen“, sagte er in verbindlichem Ton.
Alle nickten aus Freundlichkeit, hoben in einer letzten Abschiedsgeste die Hände und strebten ihren Autos zu. Lohnkötter fragte sich, ob er sie nochmal zu Gesicht bekommen würde. Es war nicht leicht, immer wieder Kundschaft für diese Art von Business zu bekommen.
Es fing mit einem leichten Beben an. Alles zitterte auf einmal. Niemand wusste was los war.
Das Beben und Zittern nahm zu. Die Farbe des Himmels wurde zunehmend dunkler. Das Sonnenlicht verschwand fast schlagartig. Der Platz vor dem Firmengebäude hob sich zuerst, dann riss eine gewaltige Erdspalte auf. Ein Sturm fegte los. Lohnkötter blinzelte ungläubig eine Sekunde hinter seiner Brille. Dann schrie er den anderen nach, die schon fast bei ihren Autos waren: „Kommt zurück – sucht Schutz hier im Haus!“
In dem Moment riss ihn ein Windstoß von der Treppe, auf der er stand. Er knallte auf den Boden und sah das Firmengebäude hinter sich zusammen fallen, als wäre es ein Kartenhaus. Er rollte sich zusammen und bedeckte mit beiden Händen seinen Kopf. Die anderen sahen es und warfen sich instinktiv auf den Boden. Die Erdspalte riss immer mehr auf, so dass sie wieder auf sprangen und hinter ihre Auto liefen. Doch die drohten von dem immer stärkeren Sog des Windes weg geschleudert zu werden. So sprangen sie wieder auf, drehten sich um und rannten in Richtung des Waldstückes hinter den Parkplätzen. Ob das das richtige war, schien nicht klar zu sein. Im Wald würden sie sich auch in großer Gefahr befinden, wenn der Wind so weiter wütete. Darüber nachzudenken und einem besseren Plan zu folgen, dazu war keine Zeit. Sie mussten Schutz finden. Sonst war es aus. Kent rannte ganz vorne, drehte sich im laufen halb um und schrie: „Passt auf die umfallenden Bäume auf!“
ENDE
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