Die Dämmerung hatte die Umgebung bereits rötlich schimmernd umschlossen, als Finn über die Wiese rannte. Voller Lebensfreude und Energie sprintete er über das Gras, er lachte. Er liebte es, wenn der Wind um seine Wangen strich und durch seine Haare fuhr, wenn seine Füße den Boden nur für die Dauer eines Lidschlages berührten und ihn sogleich kraftvoll weiter vorantrieben.
Er hatte gute Gründe für seine Eile, wurde verfolgt von Konstantin. Wie so oft war dieser, keuchend und um Atem ringend, deutlich unterlegen. Finn war mit seinen 9 Jahren mehrere Monate jünger, schmächtiger und kleiner als Konstantin. Aber rennen, dass konnte er wie ein Großer. Außerdem trieb ihn das schlechte Gewissen vorwärts. Sein Vater hatte ihm gestern erst angedroht, dass „die Welt unterginge“, wenn er sich erneut verspätete.
Niemand konnte erahnen, wie Recht er damit haben würde.
Ausgerechnet heute hatten die beiden Freunde beim Bau ihres Staudammes am Bachlauf die Zeit vergessen und mussten nun schleunigst heim. Der Sonnenuntergang war ihre Frist, die es zu halten galt.
Nur Sekunden später wurde aus dem Lachen ein Schmerzensschrei, Finn lag auf dem Rücken und konnte nicht verstehen, warum sein Schädel zu vibrieren schien und sein Rücken schmerzte. Der halbrunde Stein, auf den er gefallen war, drückte erbarmungslos gegen seine Wirbelsäule. Er presste seine Hand gegen seine aufgeplatzte, stark blutende Augenbraue und begann zu weinen.
Konstantin, der mittlerweile den Ort des Geschehens erreicht hatte, musste heftig mit seiner Atmung und den Stichen in seiner Seite kämpfen – noch mehr jedoch mit seiner Fassungslosigkeit. In seinem Kopf wiederholten sich die unerklärlichen Bilder. In Zeitlupentempo sah er Finn aus vollem Lauf abprallen. Der Oberkörper bog sich nach hinten und er konnte den zum Schrei geöffneten Mund erkennen, noch bevor er die Laute vernahm. Die Arme waren vom Körper weggestreckt und Finn schien einen kurzen Augenblick in der Luft zu schweben, bevor er ein gutes Stück weiter aufprallte. Der Rumpf federte, hob kurz vom Boden ab, bevor er für einen kurzen Moment regungslos liegen blieb.
Es hatte ausgesehen, als ob Finn in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt wäre. Nur – da war keine! Auf der Wiese gab es nichts außer Luft und freiem Raum, keinerlei Hindernisse waren zu erkennen. Und ein Stolpern hätte ihn doch nach vorne fallen lassen, nicht rückwärts. Der Gedanke, sich um Finn zu kümmern, kam ihm nicht.
Konstantin war ziemlich verwirrt, und nur langsam bahnte sich das Geräusch den Weg zu seinem Bewusstsein. „Flaapp“ hörte er den nicht sehr lauten, aber eindringlichen Klang, den er zuvor nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Fremdartig, irgendwie falsch, schien er ihm zu sein.
„Flaapp“
Und wieder. „Flaapp“ – einige Meter weiter. Mit seinem Blick suchte er den Ursprung, konnte aber nur ein kleines, kreisrundes Loch im Boden entdecken. Wenige Zentimeter im Durchmesser, vier oder fünf vielleicht. Die Ränder waren glatt, völlig ebenmäßig. Links davon, nur wenige Meter weiter, hatte sich die Erde auf gleiche Art aufgetan. Und im selben Abstand dahinter ebenfalls. Das Muster setzte sich fort, so weit er sehen konnte. Nur in der Ferne waren die Abstände nicht mehr auszumachen und verjüngten sich optisch zu einer einzigen, schnurgeraden Linie.
„Flaapp“
Konstantin verfolgte die Herkunft des Geräusches mit den Augen und sah, wie ein weiterer Kreis, begleitet von dem unheimlichen Ton, im Boden entstand. Einfach so, in Bruchteilen einer Sekunde war es da. Wie aus dem Nichts in die Erdkruste gestanzt.
Auch Finn hatte sich von der ersten Schockwirkung erholt, er versuchte weiterhin mit der Hand die Blutung aufzuhalten und stöhnte vor Schmerz. Das Pulsieren in seiner Stirn drängte sich in den Vordergrund, ihm war ein wenig schwindelig. Er stellte sich neben Konstantin, leicht nach vorn gebeugt, als könne er so den Schmerz abtropfen lassen. Er hörte dumpf, beobachtete den merkwürdigen Vorgang durch den Schleier seiner Tränen und vergaß dann zu weinen.
Minutenlang standen die beiden wortlos nebeneinander und verfolgten fasziniert, wie sich die Reihe fortsetzte. Eigenartigerweise hatte sich ihr beider Herzschlag dem Intervall angepasst, ein Umstand, den sie jedoch nicht registrierten.
#####
An einem fernen Ort, in einer Höhle, die tief in einen Felsen getrieben worden war, bot sich zur gleichen Zeit ein Bild, das von wesentlich mehr Hektik geprägt wurde. In scheinbar kopfloser Unordnung rannten uniformierte Frauen und Männer durch den Raum. Das Chaos hatte eine militärische Ordnung. Zwar wusste niemand, was zu tun war, aber immerhin konnte man Weisungen ausführen. Über deren Sinnhaftigkeit konnten sich allerdings nicht einmal die Befehlsgeber sicher sein.
„Status. Sofort!“ Der General bellte seinen Befehl. Unter seiner leicht verrutschten Kappe verbarg sich der Kopf eines der brillantesten Militärstrategen seiner Nation. Er war hochkonzentriert, nur die verengten Augen und die tiefen Falten, die zwischen seinen Brauen ein Dreieck formten, verrieten seine Gemütslage. Ratlosigkeit.
Der angesprochene Soldat zuckte mit den Schultern und demonstrierte informierte Unwissenheit. „Von allen Kontinenten treffen identische Meldungen ein. Rasterförmige Verbreitung, keine sichtbaren Einschläge oder Austritte von Projektilen oder anderen Verursachern. Was es auch ist, es verarbeitet unseren gesamten Planeten gerade zu einem Schweizer Käse!“
In der Kommandozentrale reihten sich Monitor, Konsolen und Rechner aneinander. Der verdunkelte Raum wurde lediglich von einer gedimmten Deckenbeleuchtung erhellt. Tausende von Blinklichtern und Kontrollleuchten trugen zur allgemein ruhelosen Stimmung bei.
„Israel berichtet vom erfolglosen Versuch, die Lage zu sondieren. Eine technische Vermessung der Röhren war nicht möglich, da die Geräte nicht eingeführt werden konnten. Rav-Aluf Gantz spricht von unsichtbaren Säulen, die in die Erde getrieben wurden. Die Löcher scheinen ummantelt zu sein, Schläge gegen die himmelwärtige Verlängerung der Öffnungen stießen auf materiellen Widerstand, allerdings vollkommen geräuschlos. Das Material ist weder sichtbar noch mit unseren Kenntnissen erklärbar.“ Die junge Frau lieferte ihren Bericht vollkommen emotionslos. Innerlich dagegen schlug ihr Herz in einem ungewohnt rasenden Takt. Sie ahnte, dass diese Nacht sehr, sehr lang werden würde. Oder aber kurz. Keine der Möglichkeiten gefiel ihr.
Ein Informationsoffizier ergänzte die unwirklich anmutenden Nachrichten um weitere Meldungen: „Vollständiger Strom- und Kommunikationsausfall in Asien und Teilen Russlands. Osteuropa schwankende Verbindungsstärke. Der internationale Flugverkehr ist komplett zum Erliegen gekommen, Starts werden gecancelt und die Tower können nicht mehr mit den Piloten kommunizieren. Erste Abstürze wurden aus Paris, Bern und Antwerpen bestätigt. Das öffentliche Internet ist aufgrund der Überlastung und zerstörter Serverzentren kollabiert. Telekommunikation ist nur noch über gesicherte und reservierte Regierungskanäle möglich – und das auch nur beschränkt. In nahezu allen Teilen der Welt reagiert die Bevölkerung panisch, die Infrastruktur bricht unter den unkoordinierten Fluchtbewegungen zusammen. Die externe Versorgung unserer Zentrale ist ebenfalls nicht mehr intakt, Autarkie über Aggregate sichergestellt. Unter gleichbleibender Last verbleiben rund 84 Stunden. Allerdings bezweifle ich, dass wir die ausschöpfen können.“
Der General nickte kurz um die Informationen zu bestätigen und wendete seinen Blick dann auf die transparente Projektionsfläche im Zentrum des Raumes. Dort waren in waren in verschiedenen Planquadraten und Bildabschnitten Staats- und Erdteilumrisse skizziert abgebildet. Gestrichelte Linien aus kleinen roten Punkten überzogen bereits 4/5 der Erdoberfläche, über Landmasse und Ozeane hinweg. Die Markierungen verliefen in gleichen Abständen als erdumspannende Ringe nahezu parallel zum Äquator. Die Zwischenräume betrugen 29,46 Kilometer. Auf dem Maßstab der Karten bedeutete das eine fast vollständig flächendeckende Zeichnung.
Die Standortumgebung wurde in größerer Relation aufgezeigt, die Verlängerung der roten Ist-Linie als blaues Pendant dargestellt. Der vorgezeichnete Weg führte durch das Bergmassiv, in dem sich das Kontrollzentrum befand. Die Markierung des Stützpunktes wurde gleichfalls von der Achse durchkreuzt.
Der General befahl die Evakuierung. Wohin, dass wusste auch er nicht.
####
Finn und Konstantin waren aus ihrer Starre erwacht und machten sich, abermals rennend, auf den Weg nach Hause. Weit war es nicht mehr, nur liefen sie der Bedrohung entgegen und waren vom Wunsch, die Eltern aufzusuchen und der gleichzeitigen Furcht vor dem, was sie erwartete, innerlich zerrissen. Sie konnten ihre Panik nur mühsam unterdrücken.
Als sie den Hügelkamm erreicht hatten und die leichte Steigung hinunterblickten, die direkt auf das Elternhaus von Finn zulief, blieben sie erneut stehen. Konstantin wohnte nur wenige Meter dahinter, allerdings war das Grundstück mit Bäumen umsäumt, welche die Sichtlinie durchquerten.
Das, was noch vor Minuten Finns Heimat war, befand sich jetzt in einem schockierenden Zustand. Das Namenlose, beide Jungen waren nicht in der Lage, mit einer Bezeichnung zu denken, da die Erscheinung zu weit von allen ihren Vorstellungsmöglichkeiten entfernt war, hatte das Gebäude durchquert. Es war einfach hindurch gefahren, an vier unterschiedlichen Stellen blickten sie auf Öffnungen im Dach, die klaffenden Wunden glichen. Rund um die Krater waren die Ziegel abgerutscht und lagen nun zertrümmert vor der Wand. Die Dachbalken hatten sich zum Teil nach oben gebogen oder waren splitternd abgebrochen.
„Rhhhmmiinnm“ – Finn konnte keinen Schrei aus seinem Leib pressen, nur ein bauchiger Laut entwich ihm. Er spürte, wie alle seine Empfindungen sich als schwerer Knoten in seinem Magen sammelten, als suchten sie dort verzweifelt nach einem Ausgang. Seine Hände hatten sich unwillkürlich zu Fäusten geballt und seine wenig gepflegten und daher hervorstehenden Fingernägel bohrten sich in sein Fleisch. Tränen schossen ihm in die Augen. Hilflose Fassungslosigkeit, das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren und alles, was ihm im Leben einen Halt gegeben hatte, versetzten ihn in einen beinahe katatonischen Zustand.
Auch Konstantin konnte seinen Gefühlen kein Ventil verleihen, das ihm eine Erleichterung verschafft hätte. Wie Finn erlebte er eine Stimmung, die er nie für möglich gehalten hätte. Bisher war sein Dasein von einem tiefen Vertrauen in sich und seine liebevolle, wenn auch manchmal strenge, Umgebung geprägt. Der vollständige Verlust dessen ließ ihn zittern, er schlug mit seinen Armen fortwährend gegen seine Oberschenkel, ohne den Schmerz zu spüren. Konstantin hatte bereits erblickt, was Finn in seiner Fokussierung bisher entgangen war.
Nur noch wenige hundert Meter entfernt nahte ein weiteres Unheil, die Achse der Zerstörung veränderte sich. In gleichbleibendem Takt, wie von einer Maschine ausgelöst, bohrten sich rot-schwarz-orangene Speere aus den Erdlöchern, eines nach dem anderen, in den mittlerweile dunklen Himmel. In aberwitziger Geschwindigkeit schossen die gleichförmigen, stabrunden Fontänen in die Höhe. In der Ferne schien sich so eine durchgängige Wand zu formen, aber je näher die unerklärliche Gewalt vorrückte, desto mehr war das durch die Abstände entstehende Gittermuster erkennbar.
Die Welt wurde zu einem Gefängnis und Konstantin konnte nicht ausmachen, ob sie aus- oder eingesperrt wurden. Er hätte sich nur umzudrehen brauchen, hinter ihm spielte sich in einiger Entfernung das gleiche, gnadenlose Schauspiel ab. Den Horizont gab es nicht mehr, oder vielmehr war er nicht mehr zu erkennen, abgeschnitten durch Feuersäulen. Es gab keinen Ausweg.
Mittlerweile hatte die erste Fontäne das Haus erreicht, die Glut wurde aus dem Inneren aufwärts geschleudert. Die Stellen, die am dichtesten an die Pilaster ragten, begannen zu glimmen, ohne zu brennen. Immer größer wurde der Radius, in dem das Material verglühte oder schmolz. Flammen allerdings waren nicht zu erkennen. Einen kurzen Augenblick später konnten die noch halbwegs intakten Balken das Gewicht nicht mehr halten und die Dachkonstruktion fiel in das Gebäude, sank in sich zusammen.
Eine Hitze, die mit nichts zu vergleichen war, was Finn und Konstantin je erlebt hatten, breitete sich aus. Die beiden spürten, wie es unter der der Haut zu stechen begann, die Poren zogen sich zusammen und versetzten den Körper in eine Spannung, die zu einer unfreiwillig gekrümmten Körperhaltung führte.
Der Überlebenswille, niedere Fluchtinstinkte, gewannen die Oberhand, gleichzeitig wandten sich die beiden um, wollten dem Unerklärlichen entkommen. Und verharrten in der Bewegung. Ihr Blick prallte gegen das gigantische Hindernis. Resigniert, schicksalsergeben und mutlos ließen sich die beiden auf die angenehm warme Erde sinken, umarmten sich und warteten leise schluchzend auf dass, was nun kommen würde.
####
Nicht viel später war das Ereignis vorüber, absolute Stille senkte sich über den Planeten. Nur noch glatte, unermesslich tiefe Röhren, die in das Erdinnere führten, erinnerten an das Geschehene. Allerdings gab es nicht mehr viele, die Erinnerungen bewahren könnten. Die Erde drehte sich in ihrer restlichen, der Trägheit geschuldeten Umlaufbewegung um die eigene Achse. Bald schon würde sie zum Stehen kommen und haltlos im Universum treiben. Der Planet hatte seine Magnet- und Schwerkraft fast vollständig verloren und damit seine Bedeutung im stellaren Gleichgewicht.
####
Tausende Kilometer weiter oberhalb, am äußeren Rand der Galaxie, herrschte auf der Transporteinheit eine ausgelassene und fröhliche Stimmung. Die Wesen, die mit menschlichen Begriffen kaum zu beschreiben wären, feierten sich und ihre Glanzleistung. In laut- und gebärdenfreier Kommunikation tauschten sich die Abgesandten ihrer Spezies über die gelungene Operation aus. Allgemein wurde besonders positiv bewertet, dass sie beim Fördern der von ihrem Volk dringend benötigten Energie keine der überaus friedfertigen und sozialen Grundsätze verletzen mussten.
In Zeiten wie diesen war es nicht einfach, geeignete Objekte zu finden, die nicht von höheren und damit schützenswerten Lebensformen besiedelt waren.
								Er hatte gute Gründe für seine Eile, wurde verfolgt von Konstantin. Wie so oft war dieser, keuchend und um Atem ringend, deutlich unterlegen. Finn war mit seinen 9 Jahren mehrere Monate jünger, schmächtiger und kleiner als Konstantin. Aber rennen, dass konnte er wie ein Großer. Außerdem trieb ihn das schlechte Gewissen vorwärts. Sein Vater hatte ihm gestern erst angedroht, dass „die Welt unterginge“, wenn er sich erneut verspätete.
Niemand konnte erahnen, wie Recht er damit haben würde.
Ausgerechnet heute hatten die beiden Freunde beim Bau ihres Staudammes am Bachlauf die Zeit vergessen und mussten nun schleunigst heim. Der Sonnenuntergang war ihre Frist, die es zu halten galt.
Nur Sekunden später wurde aus dem Lachen ein Schmerzensschrei, Finn lag auf dem Rücken und konnte nicht verstehen, warum sein Schädel zu vibrieren schien und sein Rücken schmerzte. Der halbrunde Stein, auf den er gefallen war, drückte erbarmungslos gegen seine Wirbelsäule. Er presste seine Hand gegen seine aufgeplatzte, stark blutende Augenbraue und begann zu weinen.
Konstantin, der mittlerweile den Ort des Geschehens erreicht hatte, musste heftig mit seiner Atmung und den Stichen in seiner Seite kämpfen – noch mehr jedoch mit seiner Fassungslosigkeit. In seinem Kopf wiederholten sich die unerklärlichen Bilder. In Zeitlupentempo sah er Finn aus vollem Lauf abprallen. Der Oberkörper bog sich nach hinten und er konnte den zum Schrei geöffneten Mund erkennen, noch bevor er die Laute vernahm. Die Arme waren vom Körper weggestreckt und Finn schien einen kurzen Augenblick in der Luft zu schweben, bevor er ein gutes Stück weiter aufprallte. Der Rumpf federte, hob kurz vom Boden ab, bevor er für einen kurzen Moment regungslos liegen blieb.
Es hatte ausgesehen, als ob Finn in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt wäre. Nur – da war keine! Auf der Wiese gab es nichts außer Luft und freiem Raum, keinerlei Hindernisse waren zu erkennen. Und ein Stolpern hätte ihn doch nach vorne fallen lassen, nicht rückwärts. Der Gedanke, sich um Finn zu kümmern, kam ihm nicht.
Konstantin war ziemlich verwirrt, und nur langsam bahnte sich das Geräusch den Weg zu seinem Bewusstsein. „Flaapp“ hörte er den nicht sehr lauten, aber eindringlichen Klang, den er zuvor nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Fremdartig, irgendwie falsch, schien er ihm zu sein.
„Flaapp“
Und wieder. „Flaapp“ – einige Meter weiter. Mit seinem Blick suchte er den Ursprung, konnte aber nur ein kleines, kreisrundes Loch im Boden entdecken. Wenige Zentimeter im Durchmesser, vier oder fünf vielleicht. Die Ränder waren glatt, völlig ebenmäßig. Links davon, nur wenige Meter weiter, hatte sich die Erde auf gleiche Art aufgetan. Und im selben Abstand dahinter ebenfalls. Das Muster setzte sich fort, so weit er sehen konnte. Nur in der Ferne waren die Abstände nicht mehr auszumachen und verjüngten sich optisch zu einer einzigen, schnurgeraden Linie.
„Flaapp“
Konstantin verfolgte die Herkunft des Geräusches mit den Augen und sah, wie ein weiterer Kreis, begleitet von dem unheimlichen Ton, im Boden entstand. Einfach so, in Bruchteilen einer Sekunde war es da. Wie aus dem Nichts in die Erdkruste gestanzt.
Auch Finn hatte sich von der ersten Schockwirkung erholt, er versuchte weiterhin mit der Hand die Blutung aufzuhalten und stöhnte vor Schmerz. Das Pulsieren in seiner Stirn drängte sich in den Vordergrund, ihm war ein wenig schwindelig. Er stellte sich neben Konstantin, leicht nach vorn gebeugt, als könne er so den Schmerz abtropfen lassen. Er hörte dumpf, beobachtete den merkwürdigen Vorgang durch den Schleier seiner Tränen und vergaß dann zu weinen.
Minutenlang standen die beiden wortlos nebeneinander und verfolgten fasziniert, wie sich die Reihe fortsetzte. Eigenartigerweise hatte sich ihr beider Herzschlag dem Intervall angepasst, ein Umstand, den sie jedoch nicht registrierten.
#####
An einem fernen Ort, in einer Höhle, die tief in einen Felsen getrieben worden war, bot sich zur gleichen Zeit ein Bild, das von wesentlich mehr Hektik geprägt wurde. In scheinbar kopfloser Unordnung rannten uniformierte Frauen und Männer durch den Raum. Das Chaos hatte eine militärische Ordnung. Zwar wusste niemand, was zu tun war, aber immerhin konnte man Weisungen ausführen. Über deren Sinnhaftigkeit konnten sich allerdings nicht einmal die Befehlsgeber sicher sein.
„Status. Sofort!“ Der General bellte seinen Befehl. Unter seiner leicht verrutschten Kappe verbarg sich der Kopf eines der brillantesten Militärstrategen seiner Nation. Er war hochkonzentriert, nur die verengten Augen und die tiefen Falten, die zwischen seinen Brauen ein Dreieck formten, verrieten seine Gemütslage. Ratlosigkeit.
Der angesprochene Soldat zuckte mit den Schultern und demonstrierte informierte Unwissenheit. „Von allen Kontinenten treffen identische Meldungen ein. Rasterförmige Verbreitung, keine sichtbaren Einschläge oder Austritte von Projektilen oder anderen Verursachern. Was es auch ist, es verarbeitet unseren gesamten Planeten gerade zu einem Schweizer Käse!“
In der Kommandozentrale reihten sich Monitor, Konsolen und Rechner aneinander. Der verdunkelte Raum wurde lediglich von einer gedimmten Deckenbeleuchtung erhellt. Tausende von Blinklichtern und Kontrollleuchten trugen zur allgemein ruhelosen Stimmung bei.
„Israel berichtet vom erfolglosen Versuch, die Lage zu sondieren. Eine technische Vermessung der Röhren war nicht möglich, da die Geräte nicht eingeführt werden konnten. Rav-Aluf Gantz spricht von unsichtbaren Säulen, die in die Erde getrieben wurden. Die Löcher scheinen ummantelt zu sein, Schläge gegen die himmelwärtige Verlängerung der Öffnungen stießen auf materiellen Widerstand, allerdings vollkommen geräuschlos. Das Material ist weder sichtbar noch mit unseren Kenntnissen erklärbar.“ Die junge Frau lieferte ihren Bericht vollkommen emotionslos. Innerlich dagegen schlug ihr Herz in einem ungewohnt rasenden Takt. Sie ahnte, dass diese Nacht sehr, sehr lang werden würde. Oder aber kurz. Keine der Möglichkeiten gefiel ihr.
Ein Informationsoffizier ergänzte die unwirklich anmutenden Nachrichten um weitere Meldungen: „Vollständiger Strom- und Kommunikationsausfall in Asien und Teilen Russlands. Osteuropa schwankende Verbindungsstärke. Der internationale Flugverkehr ist komplett zum Erliegen gekommen, Starts werden gecancelt und die Tower können nicht mehr mit den Piloten kommunizieren. Erste Abstürze wurden aus Paris, Bern und Antwerpen bestätigt. Das öffentliche Internet ist aufgrund der Überlastung und zerstörter Serverzentren kollabiert. Telekommunikation ist nur noch über gesicherte und reservierte Regierungskanäle möglich – und das auch nur beschränkt. In nahezu allen Teilen der Welt reagiert die Bevölkerung panisch, die Infrastruktur bricht unter den unkoordinierten Fluchtbewegungen zusammen. Die externe Versorgung unserer Zentrale ist ebenfalls nicht mehr intakt, Autarkie über Aggregate sichergestellt. Unter gleichbleibender Last verbleiben rund 84 Stunden. Allerdings bezweifle ich, dass wir die ausschöpfen können.“
Der General nickte kurz um die Informationen zu bestätigen und wendete seinen Blick dann auf die transparente Projektionsfläche im Zentrum des Raumes. Dort waren in waren in verschiedenen Planquadraten und Bildabschnitten Staats- und Erdteilumrisse skizziert abgebildet. Gestrichelte Linien aus kleinen roten Punkten überzogen bereits 4/5 der Erdoberfläche, über Landmasse und Ozeane hinweg. Die Markierungen verliefen in gleichen Abständen als erdumspannende Ringe nahezu parallel zum Äquator. Die Zwischenräume betrugen 29,46 Kilometer. Auf dem Maßstab der Karten bedeutete das eine fast vollständig flächendeckende Zeichnung.
Die Standortumgebung wurde in größerer Relation aufgezeigt, die Verlängerung der roten Ist-Linie als blaues Pendant dargestellt. Der vorgezeichnete Weg führte durch das Bergmassiv, in dem sich das Kontrollzentrum befand. Die Markierung des Stützpunktes wurde gleichfalls von der Achse durchkreuzt.
Der General befahl die Evakuierung. Wohin, dass wusste auch er nicht.
####
Finn und Konstantin waren aus ihrer Starre erwacht und machten sich, abermals rennend, auf den Weg nach Hause. Weit war es nicht mehr, nur liefen sie der Bedrohung entgegen und waren vom Wunsch, die Eltern aufzusuchen und der gleichzeitigen Furcht vor dem, was sie erwartete, innerlich zerrissen. Sie konnten ihre Panik nur mühsam unterdrücken.
Als sie den Hügelkamm erreicht hatten und die leichte Steigung hinunterblickten, die direkt auf das Elternhaus von Finn zulief, blieben sie erneut stehen. Konstantin wohnte nur wenige Meter dahinter, allerdings war das Grundstück mit Bäumen umsäumt, welche die Sichtlinie durchquerten.
Das, was noch vor Minuten Finns Heimat war, befand sich jetzt in einem schockierenden Zustand. Das Namenlose, beide Jungen waren nicht in der Lage, mit einer Bezeichnung zu denken, da die Erscheinung zu weit von allen ihren Vorstellungsmöglichkeiten entfernt war, hatte das Gebäude durchquert. Es war einfach hindurch gefahren, an vier unterschiedlichen Stellen blickten sie auf Öffnungen im Dach, die klaffenden Wunden glichen. Rund um die Krater waren die Ziegel abgerutscht und lagen nun zertrümmert vor der Wand. Die Dachbalken hatten sich zum Teil nach oben gebogen oder waren splitternd abgebrochen.
„Rhhhmmiinnm“ – Finn konnte keinen Schrei aus seinem Leib pressen, nur ein bauchiger Laut entwich ihm. Er spürte, wie alle seine Empfindungen sich als schwerer Knoten in seinem Magen sammelten, als suchten sie dort verzweifelt nach einem Ausgang. Seine Hände hatten sich unwillkürlich zu Fäusten geballt und seine wenig gepflegten und daher hervorstehenden Fingernägel bohrten sich in sein Fleisch. Tränen schossen ihm in die Augen. Hilflose Fassungslosigkeit, das Gefühl, den Boden unter den Füssen zu verlieren und alles, was ihm im Leben einen Halt gegeben hatte, versetzten ihn in einen beinahe katatonischen Zustand.
Auch Konstantin konnte seinen Gefühlen kein Ventil verleihen, das ihm eine Erleichterung verschafft hätte. Wie Finn erlebte er eine Stimmung, die er nie für möglich gehalten hätte. Bisher war sein Dasein von einem tiefen Vertrauen in sich und seine liebevolle, wenn auch manchmal strenge, Umgebung geprägt. Der vollständige Verlust dessen ließ ihn zittern, er schlug mit seinen Armen fortwährend gegen seine Oberschenkel, ohne den Schmerz zu spüren. Konstantin hatte bereits erblickt, was Finn in seiner Fokussierung bisher entgangen war.
Nur noch wenige hundert Meter entfernt nahte ein weiteres Unheil, die Achse der Zerstörung veränderte sich. In gleichbleibendem Takt, wie von einer Maschine ausgelöst, bohrten sich rot-schwarz-orangene Speere aus den Erdlöchern, eines nach dem anderen, in den mittlerweile dunklen Himmel. In aberwitziger Geschwindigkeit schossen die gleichförmigen, stabrunden Fontänen in die Höhe. In der Ferne schien sich so eine durchgängige Wand zu formen, aber je näher die unerklärliche Gewalt vorrückte, desto mehr war das durch die Abstände entstehende Gittermuster erkennbar.
Die Welt wurde zu einem Gefängnis und Konstantin konnte nicht ausmachen, ob sie aus- oder eingesperrt wurden. Er hätte sich nur umzudrehen brauchen, hinter ihm spielte sich in einiger Entfernung das gleiche, gnadenlose Schauspiel ab. Den Horizont gab es nicht mehr, oder vielmehr war er nicht mehr zu erkennen, abgeschnitten durch Feuersäulen. Es gab keinen Ausweg.
Mittlerweile hatte die erste Fontäne das Haus erreicht, die Glut wurde aus dem Inneren aufwärts geschleudert. Die Stellen, die am dichtesten an die Pilaster ragten, begannen zu glimmen, ohne zu brennen. Immer größer wurde der Radius, in dem das Material verglühte oder schmolz. Flammen allerdings waren nicht zu erkennen. Einen kurzen Augenblick später konnten die noch halbwegs intakten Balken das Gewicht nicht mehr halten und die Dachkonstruktion fiel in das Gebäude, sank in sich zusammen.
Eine Hitze, die mit nichts zu vergleichen war, was Finn und Konstantin je erlebt hatten, breitete sich aus. Die beiden spürten, wie es unter der der Haut zu stechen begann, die Poren zogen sich zusammen und versetzten den Körper in eine Spannung, die zu einer unfreiwillig gekrümmten Körperhaltung führte.
Der Überlebenswille, niedere Fluchtinstinkte, gewannen die Oberhand, gleichzeitig wandten sich die beiden um, wollten dem Unerklärlichen entkommen. Und verharrten in der Bewegung. Ihr Blick prallte gegen das gigantische Hindernis. Resigniert, schicksalsergeben und mutlos ließen sich die beiden auf die angenehm warme Erde sinken, umarmten sich und warteten leise schluchzend auf dass, was nun kommen würde.
####
Nicht viel später war das Ereignis vorüber, absolute Stille senkte sich über den Planeten. Nur noch glatte, unermesslich tiefe Röhren, die in das Erdinnere führten, erinnerten an das Geschehene. Allerdings gab es nicht mehr viele, die Erinnerungen bewahren könnten. Die Erde drehte sich in ihrer restlichen, der Trägheit geschuldeten Umlaufbewegung um die eigene Achse. Bald schon würde sie zum Stehen kommen und haltlos im Universum treiben. Der Planet hatte seine Magnet- und Schwerkraft fast vollständig verloren und damit seine Bedeutung im stellaren Gleichgewicht.
####
Tausende Kilometer weiter oberhalb, am äußeren Rand der Galaxie, herrschte auf der Transporteinheit eine ausgelassene und fröhliche Stimmung. Die Wesen, die mit menschlichen Begriffen kaum zu beschreiben wären, feierten sich und ihre Glanzleistung. In laut- und gebärdenfreier Kommunikation tauschten sich die Abgesandten ihrer Spezies über die gelungene Operation aus. Allgemein wurde besonders positiv bewertet, dass sie beim Fördern der von ihrem Volk dringend benötigten Energie keine der überaus friedfertigen und sozialen Grundsätze verletzen mussten.
In Zeiten wie diesen war es nicht einfach, geeignete Objekte zu finden, die nicht von höheren und damit schützenswerten Lebensformen besiedelt waren.
