Entfremdung oder Erinnerung

Beate wollte Sascha auf ihrer Europareise wieder einmal treffen; sie lebt seit Jahrzehnten in Australien. Heute sind beide Anfang siebzig und sie haben sich seit ihrer Realschulzeit nie mehr gesehen. Flüchtige Kontakte bestanden erst wieder seit ein paar Jahren: kurze Anfragen vor Klassentreffen, weit entfernt, Saschas Absagen daraufhin. In diesem Sommer lud sie sich selbst bei ihm zu Hause ein. Ich blieb skeptisch: Kann das jetzt gutgehen, nach mehr als fünfzig Jahren? Doch Sascha kam ins Krankenhaus und in seinem Auftrag schrieb ich Beate eine Mail: Komm bitte nicht zu dem Termin. Das Experiment wurde verschoben.

Vor zwei Jahren bekam ich Sigis heutige Adresse im Internet heraus. Er war mein bester Schulkamerad gewesen und wir hatten nach dem Abitur noch eine Zeitlang Kontakt: Briefe, einander besuchen. Ich war einundzwanzig, als ich ihn zum letzten Mal sah. Heute lebt er als pensionierter Oberstudienrat in einer norddeutschen Kleinstadt. Ich wohne wieder in Berlin und habe ein vollkommen anderes Leben hinter mir, als er es geführt haben kann. Ich sah mir sein Einfamilienhaus bei Google Streetview an, am grünen Rand dieser kleinen idyllischen Stadt. Sollte ich ihm schreiben, ein erstes Lebenszeichen nach mehr als fünfzig Jahren? Seine letzten Briefe damals, ich habe sie aufbewahrt, zeigen schon deutlich die Entfremdung zwischen uns.

Áls junger Student war er seinerzeit zu Besuch bei Verwandten in Westberlin und schaute einmal bei mir vorbei. Er schwärmte fortwährend von Paris, machte Berlin herunter und ich konnte ihn mit nichts beeindrucken. Was mich wirklich beschäftigte, verschwieg ich ihm ohnehin. Wir schieden wie flüchtige Bekannte voneinander, mit nichtssagenden Floskeln.

Aber er machte es wieder gut. Als er Tage später heimfuhr, war ich gerade zur Ausbildung in *** und er nahm spontan den Umweg in Kauf, um mich noch einmal zu sehen. Jetzt gab er sich wieder als unkomplizierter alter Kumpel. Nichts schien zwischen uns zu stehen, als wäre die gemeinsame Schul- und Lebenszeit noch andauernd. Wir konnten nicht lange miteinander reden, meine Unterrichtspause ging bald zu Ende. Da stieg er in seinen Kleinwagen und setzte die Heimreise fort, noch einmal fünfhundert Kilometer Autobahn. Und so behalte ich ihn im Gedächtnis: zum Abschied mir freundlich zuwinkend, harmonische Eintracht zwischen uns signalisierend.

Ich halte mich besser weiter fern von ihm, das heißt von dem, der er inzwischen geworden sein muss. Ein Anfangzwanziger bleibt immer Anfang zwanzig in der Erinnerung. Konfrontiert mit dem Heute würde das Früher sogleich verblassen und bald so gut wie getilgt sein. Diesen Ablauf, diesen Verlust erspare ich uns gern.
 

petrasmiles

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Lieber Arno,

das ist eine sehr, sehr reife Einstellung. Und eigentlich ist es auch schade, wenn man schon so 'vernünftig' ist. Man geht keine Risiken mehr ein, vom Leben noch angenehm überrascht zu werden, so gering die Chance auch ist. Man geht mit diesen Dingen einfach anders um.
Ich glaube, jeder hat sie in seinem Leben, diese Figuren, die einmal wichtig waren, und die man in der Aktualität nicht verlieren möchte.

Ich habe da mal als junge Frau, fast noch ein Mädchen, ein paar Jahre nach einer gemeinsam verbrachten Schulzeit eine Freundin besucht, die einen komplett anderen Lebensweg genommen hatte, schon Mutter war. Ich dachte, wir würden gemeinsam in Erinnerungen schwelgen, dachte, wir seien gute Freundinnen gewesen, aber offensichtlich war eine andere Klassenameradin für sie gewesen, was sie für mich gewesen war - und so begleitete ich sie in ihrer Trauer, dass sie den Kontakt zu diesem Mädchen verloren hatte, die sie hinter sich gelassen hatte. Da hatte ich etwas fürs Leben gelernt - wie subjektiv diese Wahrnehmung von gemeinsam verbrachter Zeit ist. Viele Jahre später - ich war gerade auf dem Sprung nach Amerika - kontaktierte mich eine noch ältere Schulfreundin aus der Grundschule. An diese Zeit dachte ich gar nicht gern zurück, da haben mich andere Dinge bewegt, sicher nicht die Zeit mit diesem Mädchen, nun auch Frau und Mutter. Ich hätte sie nicht wieder sehen wollen - und konnte mich elegant aus der Affäre ziehen, indem ich ihr von meinen Reiseplänen schrieb. Sehr wahrscheinlich hatte sie in ihrer Erinnerung Dinge mit mir verbunden, die ich aber nicht mit ihr verbunden hatte.

Die entscheidende Frage ist aber, wie wichtig die Erinnerung ist, ob es schmerzhaft wäre, wenn das Bild aus der Vergangenheit beschädigt - oder gar getilgt - würde.
Ich denke, ich würde anders entscheiden als der 'vernünftige' Protagonist - weil es auch ein Geschenk sein kann, sich in jemandem spiegeln zu können, der einen in seinen Zwanzigern kannte, der mit dieser Spiegelung auch bei sich selbst Erinnerungen auslösen könnte, wie man einmal war, Fragen an sich auslösen könnte, warum man was geändert hat, vielleicht sogar an vergessene Talente erinnert.

Letztens Endes kommt man aber nicht aus seiner Haut.

Liebe Grüße
Petra
 

Anders Tell

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Solche Begegnungen können in beide Richtungen verstören. Meine Neugier lässt es selten zu, dass ich mich einem Treffen entziehe. Nur manchmal will auch ich den schönen Traum von einer unverbrüchlichen Freundschaft nicht verlieren und recherchiere nicht nach dem verlorenen Kontakt. Andere laufen mir über die Füße und wie spannend kann es sein, wenn der Mensch aus der Erinnerung ein anderer geworden ist oder eigentlich nie der war, den man sich schon damals nur vorgestellt hatte.
Mit acht Jahren hatte ich den allerbesten Freund Heinz. Er ist mit seiner Familie weit weg gezogen und ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich frage mich manchmal, wieso ich als Kind glaubte, dass unsere Freundschaft die Ewigkeit überdauern würde. Oder noch davor, warum wir beide so fest verbunden waren. Wie entscheidet ein Achtjähriger, dass dieser eine Junge sein Freund ist? Das kann ich heute nicht mehr ergründen oder nachempfinden. Aber das Gefühl, davon erfüllt zu sein habe ich nicht vergessen. Könnte man sich noch einmal so rückhaltlos einlassen.
 
Danke für die eingehende Beschäftigung mit der Problematik, die wohl viele betreffen dürfte.
Letztens Endes kommt man aber nicht aus seiner Haut.
So ist es, liebe Petra. obiger Kurzprosatext gibt nur meine subjektive Verarbeitung in einem Einzelfall wieder, soll gewiss nicht Rat für andere sein. In einem weiteren Beispiel habe ich mich auch ganz anders verhalten und es kam zu Abläufen, wie du sie im vorletzten Absatz skizziert hast.

Solche Begegnungen können in beide Richtungen verstören.
Allerdings, geschätzter Kollege. Es gibt sogar den Fall der Verstörung, bei dem wir nach Jahrzehnten an dem Gegenüber genau die uns in angenehmer Erinnerung gebliebenen Eigenschaften erneut deutlich wahrnehmen, sie aber durch den aktuellen Kontext (Alter, Milieu) stark entwertet sind - für uns. Ich entdeckte mal zufällig ein 45-minütiges TV-Porträt eines älteren Mannes, den ich gut vierzig Jahre früher eine Zeitlang vor Augen und dann im Gedächtnis behalten hatte. Meine Erinnerung an ihn fand sich bestätigt, doch gerade diese Merkmale kamen mir jetzt vor wie sauer gewordene Milch.

Das von dir zuletzt angeführte Beispiel ist ein Spezialfall: kindliche Freundeswahl. Mir scheint, da herrschen noch besondere Bedingungen. Ich kann insoweit nicht mitreden, habe selbst in diesem Alter nichts Vergleichbares erlebt. "Sigi" kannte ich von der Oberschule her. in dem Beispiel in meinem Kommentar hier waren wir beide junge Erwachsene an einer Fachschule.

Herbstliche Mittagsgrüße
Arno
 
Hallo Arno,
leider weiß ich nicht, was ich Deiner Geschichte entnehmen soll. Ich glaube, Du verdrängst eine geheime Sehnsucht nach den Gefährten Deiner Jugend. Sonst würdest Du die Story gar nicht verfasst haben.
Da habe ich mal gelesen, wie eine Frau fünfzig Jahre später beschrieb, wie sie als Sechzehnjährige nach kurzer Beziehung verlassen wurde. "Die Bahnhofsbank" von Brigitte Apel enthalten in: Liebe am Ostkreuz - Schreibwettbewerb. Im Internet zu finden. Natürlich ist sie voll glücklich geworden, Kinder, Mann usw. Damals dachte ich schon bei mir, wenn ihr das so wenig bedeutet hat, warum schreibt sie fünf Jahrzehnte später noch darüber.
So sehe ich auch Deine Geschichte.
Gruß Friedrichshainerin
 
Ich glaube, Du verdrängst eine geheime Sehnsucht nach den Gefährten Deiner Jugend. Sonst würdest Du die Story gar nicht verfasst haben.
Du verkennst meine Motivation vollständig, werte Friedrichshainerin. Solche Geschichten wie die um "Sigi" sind für mich lediglich literarischer Rohstoff. ich bin laufend auf der Suche nach ihm, um schreibend kreativ sein zu können. Hier war der äußere Anlass wie am Textanfang beschrieben = erster Einfall. Dazu suchte ich etwas Komplementäres und wurde fündig.

Nach meinem Verständnis sollte auch in einem ernstzunehmenden autobiographischen Text der Ich-Erzähler mehr oder weniger eine Kunstfigur sein. Das muss nicht Überwiegen von Erfundenem bedeuten, es kann auch durch Fortlassen und Gewichtsverlagerungen bewerkstelligt werden. Man hüte sich also besser vor Rückschlüssen vom Erzähler auf den Autor.

Was mich heute persönlich stark beschäftigt, d.h. gerade auch belastet und bedrückt, das ist entweder zu privat, als dass darüber hier etwas veröffentlicht werden könnte - oder es ist ohnehin ganz öffentlich, da es uns alle laufend angeht. Solches findest du in aller Breite - gerade auch von mir - hier im Forum Lupanum.

Schönen Abend
Arno
 

Anders Tell

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Jeder, der etwas veröffentlicht, gibt etwas von sich preis. Aber die Rezeption ist auf den Text gerichtet, nicht auf den Urheber. Die Biographie des Autors beantwortet nicht die Fragen, die einem der Text stellt. In einem Seminar habe ich einmal gewagt, eine Geschichte von Sherwood Anderson anders zu interpretieren als es allgemein üblich war. Aber nein, haben alle gesagt, es ist doch bekannt, dass Anderson Probleme mit dem Erwachsen werden hatte. Ich glaube dennoch, dass der Text, einmal veräußert, dem Leser gehört. Wenn ihn niemand liest, ist es keine Literatur.
 

petrasmiles

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Aber die Rezeption ist auf den Text gerichtet, nicht auf den Urheber.
So sollte es sein! Aber die vielen Geisteswissenschaftler, die ihren Broterwerb darin finden, jeden Krümel zusammenzutragen und Deutungshoheiten zu generieren, verleiden das eigene Denken und die Lust am Lesen.
Und wir sind alle potentielle Opfer.
Ich las in jungen Jahre ein Buch einer amerikanischen Autorin und Jahrzehnte später fällt mir ein Roman von ihr in die Finger. Darin ein umfangreicher Essay über die Person. Am Ende war sie mir nicht sympathisch ... Trine ich.

Wenn man das Gedankenkarrussel wirklich spielen möchte, sollte es ein Dialog zwischen Text und Leser sein, sonst wird es einfach nur 'akademisch'.

Liebe Grüße
Petra
 

Anders Tell

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So habe ich es auch erlebt, Petra. Ich habe mich oft gefragt, wie diese blutleeren Wissenschaftelchen über jemanden beraten wollen, dessen Schuhe sie selbst an ihrem besten Tag nicht für eine Stunde an den Füßen halten könnten.
 

petrasmiles

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Ich stand damals vor der Entscheidung, ob ich wirklich Germanistik studieren möchte; bei der Einschreibung erfuhr ich dann, dass Geschichte ohne NC war und so wählte ich das Fach, was mir wirklich am Herzen lag, und nahm Germanistik als Nebenfach. Außer den Meistern habe ich nichts gemacht - hauptsächlich Schiller. Ich fand es aber gut und wichtig, dass man die Zeitbezüge lernt, dass man die Epochen und ihre gesellschaftlichen Maßstäbe an ein Werk berücksichtigen kann - sonst arbeitet man sich daran ab, wer alles von den Alten Rassist gewesen sei ... Auch finde ich wichtig, dass man auch bei Werken, die man heute kaum noch lesen mag, erfährt, was denn das Neue an ihnen war im Hinblick auf die Art des Schreibens, die Hinweise auf die Art des Denkens gab.
Aber wenn sich ein Wissenschaftler versteigt, aufgrund seiner persönlichen Probleme müsse man einen Autor so und nicht anders lesen, dann haben sie ihren Beruf verfehlt.
 

Anders Tell

Mitglied
Ja, das war der spannende Teil, die Epochen und die Texte unter dem Einfluss ihrer Zeit zu erfassen. Für mich sind Fragen geblieben und die beschäftigen mich immer noch. Bei der Uraufführung von "Die Räuber" haben sich die Zuschauer weinend in den Armen gelegen. Es war wohl der Begriff der Freiheit sagen die Chronisten. Der Text ist keine leichte Kost. Worin besteht die Freiheit in dem Stück? Was hat die Leute so begeistert?
 

petrasmiles

Mitglied
Ich nehme an, das Durchbrechen der Norm - es ist denkbar geworden, sich aufzulehnen - wenn man auch dafür bestraft wird. Und natürlich die Gleichsetzung des Rechtsstaats - im Gegensatz zur Freiheit - mit dem Bösen. Die das Recht haben, sind nicht automatisch die Guten. Während ich das schreibe, fällt mir die Parallele zur Ampel auf - so aktuell ist das Stück.
 

Anders Tell

Mitglied
Kaum vorstellbar, dass ein Drama oder die Literatur heute noch so eine Bewegung auslösen könnten. Die Unfreiheit wird ja von sehr vielen nicht als solche wahrgenommen.
 

petrasmiles

Mitglied
Es kommt immer drauf an, wo man herkommt.
Ich bin noch zu Zeiten erwachsen geworden, wo einem jeder auf der Straße etwas 'sagen' durfte; was die Eltern nicht besorgten, machten dann die 'draußen'. Das Gefühl, sich anpassen zu müssen, entsprach einer Realität. Die Freiheit des Selbstausdrucks war eingeschränkt.
Wenn man aber permanent erzählt bekommt, wir würden das Freieste leben, was man sich vorstellen kann, dann erfährt man die Unfreiheit nicht als Unfreiheit, sondern denkt, es läge an einem selbst, wenn man unzufrieden ist.

Ich denke, es wird immer wieder zu solchen Impulsgebern kommen. Momentan bewegen wir uns in einer Art Zwischenzeit: Wir sind nicht mehr, was wir waren, aber noch nicht, was wir sein werden. Die Gegenwart kommt uns divers vor, ohne es wirklich zu sein. Wenn dieser Prozess weiter voranschreitet - und das sehe ich alles in Zusammenhang mit einer fortschreitenden Ökonomisierung der Gesellschaft - kommt es auch wieder zu Beschränkungen, die man als solche wahrnehmen kann und gegen die man sich auflehnen kann - und muss. Ob es dann ein 'altes' Medium sein wird, oder neue, wer weiß das schon, wie man die Massen erreichen wird.

Literatur ist Literatur und unersetzlich. Vielleicht entdeckt man irgendwann die Alten wieder und wundert sich, was die schon alles gewusst haben. Im Moment hat man es ja geschafft, dass die Weisheit, die auf Erfahrung gründet, als Auslaufmodell gilt. Selbst Alte gerieren sich ablehnend und halten sich für jung und 'mit der Zeit gehend', wenn sie dem Jugendwahn folgen.

Aber das sprengt jetzt so langsam den Rahmen hier :)
 



 
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