*** Entkommen ***
Es dauerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde und das jahrelange, harte Training, sowie der angeborene Instinkt eines Jägers übernahmen die Kontrolle über das Handeln der Barkerbrüder. Nur ein einziger, kurzer Blick war nötig, um sich zu verständigen.
Während Jim um die Theke eilte, entschied sich Ron für den direkten Weg. Mit einem Satz schwang er sich, geschmeidig wie eine Raubkatze, über den Tresen und landete auf der anderen Seite sicher auf den Beinen.
Jim ergriff ein herumliegendes Küchenmesser und stand bereits vor der immer noch schwingenden Tür. Der plötzliche Adrenalin-Schub stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Lunge trieb den Brustkorb sichtbar auf und ab. Das Herz pumpte auf Hochtouren, um Jims Körper, der sich auf einen Kampf vorbereitete, mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Das Messer in der Hand sah er zu Ron hinunter. Dieser hatte sich über Lilly gebeugt, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verletzt hatte. Durch ein Nicken signalisierte ihm Ron, dass die junge Frau zwar bewusstlos, aber sonst in Ordnung war.
Die Jäger standen jeder mit dem Rücken an einem der Pendeltürflügel. Ihre Gesichter waren konzentriert. Wieder übernahm Ron das Kommando. Mit einem explosiven Tritt bahnten sie sich einen Weg durch die Tür, um die Küche zu stürmen. Unter der Wucht rissen die Scharniere aus den Angeln und die beiden Türhälften stürzten zu Boden.
Beißender Qualm machte jeden Atemzug zur Tortur. Die Arme schützend vor ihre Gesichter gelegt, setzten die Jäger vorsichtig erste Schritte in den Raum. Dichte Rauchschwaden brannten in ihren Augen.
Ron eilte mit wenigen Schritten zu einem kleinen Fenster. Mit dem rechten Ellenbogen schlug er die Scheibe ein. Schon nach wenigen Minuten wurde die Luft erträglicher und die Sicht klar. Rons Blick wanderte über die Regale, die aufgestapelten Töpfe, Pfannen und Plastikdosen. Schließlich richteten sich seine Augen auf den Grill. Ein kurzes Stöhnen entwich seinen Lippen. Angeekelt wandte er sich ab.
„Was ist Ron? – Bist du ok?“ Jim konnte das Szenario nicht sehen. In seinem Flüstern bebte Unsicherheit.
„Wie Schrecklich …“, die mühsam hervorgepressten Worte des Bruder veranlassten Jim sich zu drehen.
Ein kurzer Blick über seine Schulter – und auch Jim schob bestürzt den Handrücken vor seine Lippen. Er schloss die Augen und schnaufte leise.
Ein verdorrter Körper lag auf dem Grill. Die rechte Gesichtshälfte brutzelte auf den kleinen blauen Flammen und verursachte den beißenden, nach angebranntem Fleisch stinkenden Qualm. Die Beine des Mannes waren weggeknickt. Verkrampft umschlossen die Hände des Toten die glühenden Gitterstäbe. Das Feuer hatte bereits das Fleisch abgesengt und legte blanke Knochen frei. Die ehemals weiße Jacke des Mannes war verrußt und teilweise verbrannt. Am mehreren Stellen entblößte sie einen bräunlich verfärbten Körper, der mit violetten Flecken übersät war.
„Gott …“, flüsterte Jim. Er wagte einen zaghaften Schritt in Richtung des Tatortes. Immer wieder musste er würgen.
„Hast du so was schon mal gesehen?“, wollte Ron wissen.
Jim schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein Arbeitsunfall“, keuchte er hinter vorgehaltener Hand.
„Sieht nicht danach aus“, stellte Ron fest. Er trat ebenfalls einen Schritt näher und betrachtete den Toten. Rons Brauen zogen sich in die Höhe. „Kann ein Körper so schnell verbrennen, dass er nach wenigen Minuten wie ein Stück Dörrfleisch aussieht?“, fragte er zweifelnd.
Jim stieß mit dem Messer gegen die Leiche. Wie eine Feder glitt sie lautlos zu Boden. „Als wäre er schon Jahre tot.“ Er sah Ron erstaunt an. Dieser hob ratlos seine Schultern.
Nach wenigen Sekunden entspannten sich die Gesichter der Jäger. Denn die Erfahrung lehrte sie, dass sie zu spät kamen. Wer oder was auch hier getobt hatte, es war weg.
„Wir können hier nichts mehr tun. Lass uns wenigstens dem Mädchen helfen“, sagte Ron und warf einen besorgten Blick auf Lilly, die immer noch bewusstlos am Boden lag. Er ging zu ihr zurück, sank auf seine Knie und hob vorsichtig ihren Kopf an. Ihr Gesicht war völlig entspannt. Zärtlich strich er eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn.
Gott – ich kenn nicht mal deinen Namen, dachte er und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihr Anblick verzauberte ihn. Behutsam, als hätte der Jäger Angst, das Mädchen zu zerbrechen, nahm er sie in die Arme.
„Was hast du vor?“, wollte Jim wissen. Neugierig beobachtete er seinen Bruder.
„Ich werde sie auf die Bank legen“, antwortete Ron. Mit einem Ruck war er auf den Beinen. „Auf dem Steinboden holt sie sich noch den Tod!“
Jim nickte verwirrt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Notrufes.
*** *** ***
Jeremy rannte wie ein gehetztes Tier. Die Menschen auf der Straße sausten als Schatten an ihm vorbei. Einige von ihnen hatte er bei seiner panischen Flucht angerempelt. Aber der Küchenjunge nahm es nicht wahr. Sämtliches Leben, das an diesem Morgen in den Straßen wimmelte, verwandelte sich in ein Gemisch aus pulsierenden Klecksen und unwirklichen Lauten. Jeremy konnte nicht schnell genug laufen, um den schrecklichen Bildern in seinem Kopf zu entkommen. Irgendwann sackte er in einer unbelebten Gasse zusammen. Sein Herz raste und er rang keuchend nach Luft. Stechende Schmerzen in der Brust quälten ihn. Sein Hals brannte von der staubigen Stadtluft. Mit aufgerissen Augen starrte er ins Leere. Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare, um diese Angst zu vertreiben. Das Erlebte erdrückte seinen Verstand. Mit einem gequälten Schrei versuchte sich sein Körper von der Erinnerung zu befreien, bevor der junge Mann, apathisch hin und her pendelnd, den Zugang zur Realität verlor.
*** *** ***
Angezogen durch die blitzenden Lichter des Krankenwagens und dem massiven Polizeiaufgebot hatten sich zahlreiche Schaulustige hinter dem gelben Signalband um das Drive-In Restaurant eingefunden.
Die Barkers standen abseits des Treibens und beantworteten die Fragen eines Officers.
„Nein – leider haben wir nicht gesehen, wie es passiert ist“, berichtete Jim. Seine Stirn zog sich in Falten als er den Polizisten ansah. „Wir haben nur den Schrei gehört und dann kam dieser Junge aus der Küche gestürzt“, fügte er hinzu.
„Welcher Junge?“, fragte der Beamte interessiert.
„Wir kennen ihn nicht. Aber er war sehr jung und sehr zierlich“, übernahm Ron das Gespräch. „Er kam aus der Küche und hat meinen kleinen Bruder fast über den Haufen gerannt.“ Die Ironie in seinen Worten war unüberhörbar. Ron sah spöttisch zu Jim hinauf. Dieser biss sich auf die Unterlippe und seufzte leise.
Der Police Officer konnte sich angesichts von Jims Größe ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. „Nun meine Herren, bitte bleiben Sie in der Stadt und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an.“ Er schob Ron seine Visitenkarte zu, bevor er sich umdrehte und zum Tatort ging.
„Machen wir“, rief der Ältere dem Officer nach und schielte auf das Kärtchen in seiner Hand: „Officer Miller.“
Kaum hatte sich der Beamte entfernt, verpasste Ron seinem Bruder einen Seitenhieb. „Bist ein bisschen aus der Form was?“, kicherte er und sah zu Boden.
„Alter“, Jim holte tief Luft. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. „Der Typ war schwerer als er aussah und als er stolperte, hat er nochmal ordentlich einen Zahn zugelegt!“ Vorwurfsvoll hoben sich seine schmalen Augenbrauen.
Die Sanitäter brachten Lilly auf einer Trage zum Krankenwagen. Sie war wieder bei Bewusstsein. Ihr Gesicht schimmerte blass in der Sonne.
Ron trat einen Schritt näher „Wie geht es ihr?“, fragte er einen Sanitäter.
„Sie hat einen leichten Schock, ist aber in Ordnung. Wir werden sie eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik behalten.“
Ron nickte. Er beugte sich etwas hinunter zu Lilly: „Ist wirklich alles okay?“ Die Frau lächelte und Ron konnte auf ihren Lippen das Wort Danke ablesen. Als sie in den Wagen gehoben wurde, hob er seine Hand und winkte ihr zum Abschied kurz zu.
Jim stand im Hintergrund, beide Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtete seinen älteren Bruder. Ein verklärtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie heißt übrigens Lilly“, rief er scheinheilig.
Nach einem Räuspern sagte Ron: „Ich glaube wir sollten das checken – das könnte was sein.“
Jims schmale Finger fuhren durch die langen Haare auf seiner Stirn. „Wenn es dir wirklich um den Fall geht!“ grinste er.
Die Jäger schritten auf ihren Wagen zu. Am Ford Mustang angelangt, konnte Ron die bohrenden Blicke seines Bruders nicht mehr ertragen.
„Was ist?“ Er schlug mit den Händen auf das Wagendach.
„Das frage ich dich!“ Jim hatte ebenfalls die Hände auf das Dach gelegt und musterte Ron. Als er keine Antwort bekam, griff er nach der Klinke und schwang sich in das Auto. Nachdem sich die Türen des Ford Mustangs geschlossen hatten, konnte sich Jim einfach nicht mehr zurückhalten. „Du magst sie“, platzte es aus ihm heraus. Sein Rücken presste sich gegen den Ledersitz als er Ron herausfordernd ansah.
Dieser kramte im Handschuhfach nach einer Kassette und murmelte vor sich hin. Ist das so offensichtlich? Er spürte, wie eine leichte Hitze in ihm aufstieg. „Wen?“, fragte er knapp.
„Lilly …! – Komm schon Ron… Ich habe doch bemerkt, wie du sie ansahst.“ Ein Grinsen überzog Jims Gesicht, als er seinen großen Bruder musterte.
Ron suchte nach Worten. Dann schob er die Kassette in den Schlitz des Radios. Nach einem Hüsteln drehte er den Zündschlüssel. Im Auto dröhnte AC/DC, als er den Rückwärtsgang einlegte, das Lenkrad scharf einschlug und das Gaspedal durchtrat.
„Ich kann dich leider nicht verstehen, Jimmy die Musik ist zu laut“, schrie er seinem Bruder zu. Mit quietschenden Reifen schoss der Ford Mustang aus der Parklücke, blies ein paar blaugraue Wölkchen in die Luft und bog in die nächstgelegene Straße ein.
Jim sah lächelnd auf die Straße.
*** *** ***
Die Luft im Motelzimmer war stickig heiß. Obwohl die Klimaanlage seit Stunden laut schepperte, gelang es ihr nicht, die Temperatur auf erträgliche Werte zu senken. Die zugezogenen, zerschlissenen Vorhänge ließen nur wenig Licht in den Raum. Eine vergilbte Blumentapete kräuselte sich an mehreren Stellen von den Wänden und hinterließ kahle, unansehnliche Stellen auf dem grauen Putz. Man hatte versucht, mit zusammen gewürfelten Möbelstücken jene Stellen zu kaschieren. Dieses Motel hatte seine besten Tage schon lange hinter sich.
Seit Stunden saß Jim in leicht gekrümmter Haltung an einem Tisch und starrte auf den flimmernden Laptop. Seine Finger flogen über die Tastatur und erzeugten ein leises Klicken. Es war das einzige Geräusch neben dem nervenden Klappern der Klimaanlage.
Schwüle Hitze hatte sein Shirt zu einer feuchten Kompresse werden lassen. Die Konturen seiner Muskeln zeichneten sich unter dem blaugrauen Stoff ab. Jim kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in seine Hände. Das unbequeme Sitzen hatte seine Rückenmuskulatur verkrampft und sein Körper ermahnte schmerzend eine Auszeit.
Mit einem offenen Gähnen streckte sich Jim, hob die Arme und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Als er sich wieder nach vorn beugte, strich er sich braune Haarsträhnen aus der Stirn. Aber die widerspenstigen Fransen weigerten sich gegen den Versuch, gebändigt zu werden und fielen augenblicklich in ihr geordnetes Chaos zurück.
Entmutigt und müde schlug Jim das Cover seines Laptops zu. Er hatte jedes Archiv durchforstet, war jedem noch so vagen Hinweis nachgegangen. Alles ohne Erfolg. Es gab Nichts, das mit dem, was die Brüder heute Morgen erlebt hatten, vergleichbar war. Kein einziger, ähnlich verwirrender Arbeitsunfall hatte sich bisher in dieser Stadt ereignet.
Ein Anruf bei Bill hatte auch nichts gebracht, außer der freudigen Gewissheit, dass es dem alten Jäger gut ging. Jim hoffte darauf, er würde bei seinen Recherchen vielleicht etwas herausfinden.
Jim erhob sich und trat in die Zimmermitte. Seine Silhouette zeichnete sich im schwachen Licht der Fenster ab. Gegen die alten, kleinen Möbel wirkte Jim wie ein Riese. Ein kühles Bier wäre jetzt eine gute Idee, dachte er und ging zum Kühlschrank.
Nachdem er eine Pappschachtel mit seltsam anmutendem Inhalt beiseite geschoben hatte, ergriff er eine der Flaschen im ansonsten leeren Eisschrank.
Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und wurde von der Kuhle die sich in der Matratze bildete, aus seiner Balance gerissen. Mit rudernden Armen und Beinen fing er sein Gewicht wieder auf und öffnete kopfschüttelnd die Flasche. Der Schluck tat ihm gut, vermochte aber nicht das Pochen hinter seinen Augen zu mildern. Vielleicht hatte ja Ron mehr Erfolg, überlegte er und stellte die Flasche neben den durchgetretenen Bettläufer.
Ein stechender Schmerz zwang Jim augenblicklich mit beiden Händen, seinen Kopf zu stützen. Flammen schienen ihm die Augen aus den Höhlen zu brennen. Stöhnend beugte er sich nach vorn, verzweifelt bemüht, eine Körperhaltung zu finden, die diese Schmerzen lindern würde. Das Stechen blieb jedoch und schwoll periodisch zu kaum noch erträglicher Intensität an. Völlig unkontrolliert glitt Jim vom Bettrand zu Boden.
Stöhnend kniff er die Augen zu, als er mit der Stirn aufschlug. In seinem Kopf erschienen seltsame Bilder. Sie wurden abwechselnd zerrissen von Dunkelheit und grellen, schmerzenden Lichtern. Klagende Laute erfüllten seine Ohren und ein Gefühl ohnmächtiger Angst griff nach seinem wild pochenden Herzen. Mit zusammengepressten Lippen riss Jim seinen Kopf in den Nacken. Als er mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken landete, irrten seine Augen weit geöffnet durch das Zimmer.
Aber die Bilder die Jim sah, kamen nicht aus diesem Raum.
*** *** ***
Leise klickte das Schloss als Ron den Schlüssel drehte und sich in das Motelzimmer schob.
„He Jim – es gibt Neuigkeiten“, rief er mit erfreutem Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er den Autoschlüssel auf eine kleine Kommode neben der Tür und sah sich suchend um.
„Jim? – wo steckst du?“ Rasch stellte er die Papiertüte mit dem soeben eingekauften Fastfood ab. Ron konnte Jim nirgends sehen, vernahm aber unvermittelt ein verzweifeltes Stöhnen. Mit einigen Schritten hatte er das Bett umrundet.
„Gott, was ist denn passiert?“ Sofort packte er Jim am Ausschnitt seines Shirts und zog ihn zu sich heran.
Noch halb benommen durch die soeben erlebte Tortur schwankte Jims Kopf haltlos hin und her. Er hatte die Augen geschlossen und seine Finger krallten sich in Rons Lederjacke.
Suchend wanderten Rons Blicke über den Körper seines Bruders. Als er keine Verletzungen erkennen konnte, schüttelte er ihn kräftig. „Jim – he Kleiner! … Komm zu dir!“
Jim’s Verstand schien klarer zu werden. „Ron?“, fragte er mit schmerzverzerrter Stimme.
Ein Lächeln huschte über Ron’s Gesicht: „He Jimmy – ja ich bin’s.“ Er schnippte mit seinen Fingern vor Jim’s Gesicht herum. „Bist du okay?“, wollte er wissen und rüttelte ihn abermals heftig.
„Hör auf mich so zu schütteln“, knurrte Jim. „Mir platzt gleich der Kopf.“
„Komm Kleiner – steh auf.“ Mit einem beherzten Ruck zerrte Ron seinen Bruder in die Höhe. Immer noch zittrig folgte Jim Rons Bemühungen. Als er schließlich erschöpft auf dem Bett Platz gefunden hatte, rieb er sich die Schleier aus den Augen und blinzelte Ron an.
„Meine Güte“, raunte dieser vorwurfsvoll. „Kann man dich denn nicht mal ein paar Stunden allein lassen?“ Er blickte besorgt in die Augen seines Bruders. „Hattest du wieder eine dieser … Visionen?“
Jim nickte betroffen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde allmählich schwächer.
„Was hast du gesehen?“ bohrte Ron nach. Er hatte sich neben Jim aufs Bett gesetzt und sah ihn erwartungsvoll an.
„Keine Ahnung“, keuchte Jim immer noch atemlos. „Einen Mann – er kniete vor einem leblosen Körper.“
„Kanntest du ihn?“, fragte Ron. Er hatte die Hände in seinem Schoß verschränkt. Seine Daumen kreisten ungeduldig um sich selbst.
„Ich weiß nicht“, presste Jim hervor. „Es war irgendwie … anders! … Anders als sonst.“
Sein Gesicht verbarg er immer noch in den Händen, die jetzt zudrückten, als versuchte er die letzten Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu quetschen. „Er hat schrecklich gelitten“, flüsterte er.
Ron sah ihn erstaunt an. „Gelitten? – War er verletzt?“
Jim schüttelte seinen Kopf „Nein – ich glaube nicht.“
„Wie kommst du dann darauf?“ Völlig verwundert hob der Ältere seine Brauen.
Langsam füllten sich Jims Augenwinkel mit Tränen: „Ich konnte seine Schmerzen fühlen. Ron - ich kannte sie!“
Verwirrt schüttelte Ron seinen Kopf. „Was soll das denn jetzt heißen?“
„Was weiß ich“, zischte Jim, wütend über sein Unvermögen, die Bilder und Empfindungen, die er durchlebt hatte, zu interpretieren. Er erhob sich und wanderte im Zimmer auf und ab. „Es hat Blüten geschneit…“, hauchte er.
Rons Gesicht wurde immer erstaunter. Er war auf dem Bett sitzen geblieben und musterte Jim, der offenbar kurz davor war zu explodieren.
Immer wieder raufte sich der junge Jäger die Haare und blickte verzweifelt an die Decke, als erhoffe er sich von dort eine Antwort. Entnervt sah er schließlich über seine Schulter auf Ron: „Alter, ich habe keine Ahnung - Ich gehe erst mal duschen – ich brauche einen klaren Kopf.“ Jim zog sein Shirt aus und schleuderte es in den Raum. Dann schmetterte er die Badezimmertüre hinter sich ins Schloss.
*** *** ***
„Iss was“, mit einer Hand schob Ron eine Pappschale in Jims Richtung. Mit der Anderen puhlte er genüsslich kauend in der undefinierbaren Masse der zweiten Schachtel und stopfte sich das Essen in den Mund.
Angewidert zuckte Jim vor dem farbig bedruckten Karton zurück. „Ron! … Das kann man doch nicht essen! Weißt du überhaupt was das ist?“ Er zog seine Stirn in Falten, beugte sich etwas nach vorn und beobachtete misstrauisch den bunten Inhalt, als hätte er Angst, ihm könnte daraus etwas entgegen springen. „Du hast also was herausgefunden?“, fragte er schließlich und lehnte sich mit verschränkten Arme zurück.
„Ja, stell dir vor – ich war nochmal auf der Polizeistation.“ Während Ron sprach, drohte ihm die Malzeit wieder aus dem Mund zu fallen. „Inspektor Miller sagte mir, dass sie in einer Nebenstraße einen verwirrten Jungen aufgriffen haben. Seine Beschreibung passt auf unseren vermissten Küchenboy.“
Jim beobachtete angeekelt und fasziniert zugleich, wie einige Nudeln zwischen Rons Lippen lebendig zu werden schienen.
„Was starrst du mich denn so an?“, wollte Ron wissen und riss Jim aus seinen Gedanken.
Räuspernd deutet dieser auf seine Lippen: „Du hast da was.“
Ron wischte sich den Mund ab und berichtete weiter: „Er ist in der hiesigen Nervenklinik. Ich denke wir sollten ihn dort morgen mal besuchen.“ Fragend sah er Jim an: „Magst du nicht?“ Sein Blick glitt gierig auf die zweite Schachtel.
Jim schüttelte den Kopf.
Sofort angelte sich Ron auch die zweite Portion und machte sich darüber her.
„Ja das sollten wir.“ Jim sah nach oben. „Wie geht es Lilly?“, fragte er leise.
„Alles bestens, sie wird morgen entlassen“, platzte Ron heraus, noch bevor ihm überhaupt bewusst geworden war, dass Jim ihn überrumpelt hatte.
Jim lachte: „Du hast sie also im Krankenhaus besucht. Weißt du denn schon, wo sie wohnt?“
Geschlagen sah Ron von seinem Essen auf: „Ja – ich habe sie besucht. Und – ja ich weiß wo sie wohnt.“
Versöhnlich neigte er den Kopf. „Und bevor du mich noch weiter nervst, Jimmy – ja, ich mag sie.“
Der Jüngere holte tief Luft. Ein triumphierendes Lächeln eroberte sein Gesicht. Es war ihm schon immer leicht gefallen, seinen älteren Bruder zu überlisten.
„Mann, du bist echt fies“, bemerkte Ron zerknirscht. Plötzlich erfüllte ein dumpfes Knurren den Raum. Erstaunt sah sich Ron um. „Was war denn das?“, flüsterte er mit erhobener Braue.
„Das - war mein Magen, Alter!“, antwortete Jim mit einem tiefen Seufzer und sah hungrig auf die leeren Pappschachteln.
„Zu spät…!“ bemerkte Ron und stieß die leeren Packungen vom Tisch.
Es dauerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde und das jahrelange, harte Training, sowie der angeborene Instinkt eines Jägers übernahmen die Kontrolle über das Handeln der Barkerbrüder. Nur ein einziger, kurzer Blick war nötig, um sich zu verständigen.
Während Jim um die Theke eilte, entschied sich Ron für den direkten Weg. Mit einem Satz schwang er sich, geschmeidig wie eine Raubkatze, über den Tresen und landete auf der anderen Seite sicher auf den Beinen.
Jim ergriff ein herumliegendes Küchenmesser und stand bereits vor der immer noch schwingenden Tür. Der plötzliche Adrenalin-Schub stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Lunge trieb den Brustkorb sichtbar auf und ab. Das Herz pumpte auf Hochtouren, um Jims Körper, der sich auf einen Kampf vorbereitete, mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Das Messer in der Hand sah er zu Ron hinunter. Dieser hatte sich über Lilly gebeugt, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verletzt hatte. Durch ein Nicken signalisierte ihm Ron, dass die junge Frau zwar bewusstlos, aber sonst in Ordnung war.
Die Jäger standen jeder mit dem Rücken an einem der Pendeltürflügel. Ihre Gesichter waren konzentriert. Wieder übernahm Ron das Kommando. Mit einem explosiven Tritt bahnten sie sich einen Weg durch die Tür, um die Küche zu stürmen. Unter der Wucht rissen die Scharniere aus den Angeln und die beiden Türhälften stürzten zu Boden.
Beißender Qualm machte jeden Atemzug zur Tortur. Die Arme schützend vor ihre Gesichter gelegt, setzten die Jäger vorsichtig erste Schritte in den Raum. Dichte Rauchschwaden brannten in ihren Augen.
Ron eilte mit wenigen Schritten zu einem kleinen Fenster. Mit dem rechten Ellenbogen schlug er die Scheibe ein. Schon nach wenigen Minuten wurde die Luft erträglicher und die Sicht klar. Rons Blick wanderte über die Regale, die aufgestapelten Töpfe, Pfannen und Plastikdosen. Schließlich richteten sich seine Augen auf den Grill. Ein kurzes Stöhnen entwich seinen Lippen. Angeekelt wandte er sich ab.
„Was ist Ron? – Bist du ok?“ Jim konnte das Szenario nicht sehen. In seinem Flüstern bebte Unsicherheit.
„Wie Schrecklich …“, die mühsam hervorgepressten Worte des Bruder veranlassten Jim sich zu drehen.
Ein kurzer Blick über seine Schulter – und auch Jim schob bestürzt den Handrücken vor seine Lippen. Er schloss die Augen und schnaufte leise.
Ein verdorrter Körper lag auf dem Grill. Die rechte Gesichtshälfte brutzelte auf den kleinen blauen Flammen und verursachte den beißenden, nach angebranntem Fleisch stinkenden Qualm. Die Beine des Mannes waren weggeknickt. Verkrampft umschlossen die Hände des Toten die glühenden Gitterstäbe. Das Feuer hatte bereits das Fleisch abgesengt und legte blanke Knochen frei. Die ehemals weiße Jacke des Mannes war verrußt und teilweise verbrannt. Am mehreren Stellen entblößte sie einen bräunlich verfärbten Körper, der mit violetten Flecken übersät war.
„Gott …“, flüsterte Jim. Er wagte einen zaghaften Schritt in Richtung des Tatortes. Immer wieder musste er würgen.
„Hast du so was schon mal gesehen?“, wollte Ron wissen.
Jim schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein Arbeitsunfall“, keuchte er hinter vorgehaltener Hand.
„Sieht nicht danach aus“, stellte Ron fest. Er trat ebenfalls einen Schritt näher und betrachtete den Toten. Rons Brauen zogen sich in die Höhe. „Kann ein Körper so schnell verbrennen, dass er nach wenigen Minuten wie ein Stück Dörrfleisch aussieht?“, fragte er zweifelnd.
Jim stieß mit dem Messer gegen die Leiche. Wie eine Feder glitt sie lautlos zu Boden. „Als wäre er schon Jahre tot.“ Er sah Ron erstaunt an. Dieser hob ratlos seine Schultern.
Nach wenigen Sekunden entspannten sich die Gesichter der Jäger. Denn die Erfahrung lehrte sie, dass sie zu spät kamen. Wer oder was auch hier getobt hatte, es war weg.
„Wir können hier nichts mehr tun. Lass uns wenigstens dem Mädchen helfen“, sagte Ron und warf einen besorgten Blick auf Lilly, die immer noch bewusstlos am Boden lag. Er ging zu ihr zurück, sank auf seine Knie und hob vorsichtig ihren Kopf an. Ihr Gesicht war völlig entspannt. Zärtlich strich er eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn.
Gott – ich kenn nicht mal deinen Namen, dachte er und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihr Anblick verzauberte ihn. Behutsam, als hätte der Jäger Angst, das Mädchen zu zerbrechen, nahm er sie in die Arme.
„Was hast du vor?“, wollte Jim wissen. Neugierig beobachtete er seinen Bruder.
„Ich werde sie auf die Bank legen“, antwortete Ron. Mit einem Ruck war er auf den Beinen. „Auf dem Steinboden holt sie sich noch den Tod!“
Jim nickte verwirrt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Notrufes.
*** *** ***
Jeremy rannte wie ein gehetztes Tier. Die Menschen auf der Straße sausten als Schatten an ihm vorbei. Einige von ihnen hatte er bei seiner panischen Flucht angerempelt. Aber der Küchenjunge nahm es nicht wahr. Sämtliches Leben, das an diesem Morgen in den Straßen wimmelte, verwandelte sich in ein Gemisch aus pulsierenden Klecksen und unwirklichen Lauten. Jeremy konnte nicht schnell genug laufen, um den schrecklichen Bildern in seinem Kopf zu entkommen. Irgendwann sackte er in einer unbelebten Gasse zusammen. Sein Herz raste und er rang keuchend nach Luft. Stechende Schmerzen in der Brust quälten ihn. Sein Hals brannte von der staubigen Stadtluft. Mit aufgerissen Augen starrte er ins Leere. Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare, um diese Angst zu vertreiben. Das Erlebte erdrückte seinen Verstand. Mit einem gequälten Schrei versuchte sich sein Körper von der Erinnerung zu befreien, bevor der junge Mann, apathisch hin und her pendelnd, den Zugang zur Realität verlor.
*** *** ***
Angezogen durch die blitzenden Lichter des Krankenwagens und dem massiven Polizeiaufgebot hatten sich zahlreiche Schaulustige hinter dem gelben Signalband um das Drive-In Restaurant eingefunden.
Die Barkers standen abseits des Treibens und beantworteten die Fragen eines Officers.
„Nein – leider haben wir nicht gesehen, wie es passiert ist“, berichtete Jim. Seine Stirn zog sich in Falten als er den Polizisten ansah. „Wir haben nur den Schrei gehört und dann kam dieser Junge aus der Küche gestürzt“, fügte er hinzu.
„Welcher Junge?“, fragte der Beamte interessiert.
„Wir kennen ihn nicht. Aber er war sehr jung und sehr zierlich“, übernahm Ron das Gespräch. „Er kam aus der Küche und hat meinen kleinen Bruder fast über den Haufen gerannt.“ Die Ironie in seinen Worten war unüberhörbar. Ron sah spöttisch zu Jim hinauf. Dieser biss sich auf die Unterlippe und seufzte leise.
Der Police Officer konnte sich angesichts von Jims Größe ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. „Nun meine Herren, bitte bleiben Sie in der Stadt und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an.“ Er schob Ron seine Visitenkarte zu, bevor er sich umdrehte und zum Tatort ging.
„Machen wir“, rief der Ältere dem Officer nach und schielte auf das Kärtchen in seiner Hand: „Officer Miller.“
Kaum hatte sich der Beamte entfernt, verpasste Ron seinem Bruder einen Seitenhieb. „Bist ein bisschen aus der Form was?“, kicherte er und sah zu Boden.
„Alter“, Jim holte tief Luft. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. „Der Typ war schwerer als er aussah und als er stolperte, hat er nochmal ordentlich einen Zahn zugelegt!“ Vorwurfsvoll hoben sich seine schmalen Augenbrauen.
Die Sanitäter brachten Lilly auf einer Trage zum Krankenwagen. Sie war wieder bei Bewusstsein. Ihr Gesicht schimmerte blass in der Sonne.
Ron trat einen Schritt näher „Wie geht es ihr?“, fragte er einen Sanitäter.
„Sie hat einen leichten Schock, ist aber in Ordnung. Wir werden sie eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik behalten.“
Ron nickte. Er beugte sich etwas hinunter zu Lilly: „Ist wirklich alles okay?“ Die Frau lächelte und Ron konnte auf ihren Lippen das Wort Danke ablesen. Als sie in den Wagen gehoben wurde, hob er seine Hand und winkte ihr zum Abschied kurz zu.
Jim stand im Hintergrund, beide Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtete seinen älteren Bruder. Ein verklärtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie heißt übrigens Lilly“, rief er scheinheilig.
Nach einem Räuspern sagte Ron: „Ich glaube wir sollten das checken – das könnte was sein.“
Jims schmale Finger fuhren durch die langen Haare auf seiner Stirn. „Wenn es dir wirklich um den Fall geht!“ grinste er.
Die Jäger schritten auf ihren Wagen zu. Am Ford Mustang angelangt, konnte Ron die bohrenden Blicke seines Bruders nicht mehr ertragen.
„Was ist?“ Er schlug mit den Händen auf das Wagendach.
„Das frage ich dich!“ Jim hatte ebenfalls die Hände auf das Dach gelegt und musterte Ron. Als er keine Antwort bekam, griff er nach der Klinke und schwang sich in das Auto. Nachdem sich die Türen des Ford Mustangs geschlossen hatten, konnte sich Jim einfach nicht mehr zurückhalten. „Du magst sie“, platzte es aus ihm heraus. Sein Rücken presste sich gegen den Ledersitz als er Ron herausfordernd ansah.
Dieser kramte im Handschuhfach nach einer Kassette und murmelte vor sich hin. Ist das so offensichtlich? Er spürte, wie eine leichte Hitze in ihm aufstieg. „Wen?“, fragte er knapp.
„Lilly …! – Komm schon Ron… Ich habe doch bemerkt, wie du sie ansahst.“ Ein Grinsen überzog Jims Gesicht, als er seinen großen Bruder musterte.
Ron suchte nach Worten. Dann schob er die Kassette in den Schlitz des Radios. Nach einem Hüsteln drehte er den Zündschlüssel. Im Auto dröhnte AC/DC, als er den Rückwärtsgang einlegte, das Lenkrad scharf einschlug und das Gaspedal durchtrat.
„Ich kann dich leider nicht verstehen, Jimmy die Musik ist zu laut“, schrie er seinem Bruder zu. Mit quietschenden Reifen schoss der Ford Mustang aus der Parklücke, blies ein paar blaugraue Wölkchen in die Luft und bog in die nächstgelegene Straße ein.
Jim sah lächelnd auf die Straße.
*** *** ***
Die Luft im Motelzimmer war stickig heiß. Obwohl die Klimaanlage seit Stunden laut schepperte, gelang es ihr nicht, die Temperatur auf erträgliche Werte zu senken. Die zugezogenen, zerschlissenen Vorhänge ließen nur wenig Licht in den Raum. Eine vergilbte Blumentapete kräuselte sich an mehreren Stellen von den Wänden und hinterließ kahle, unansehnliche Stellen auf dem grauen Putz. Man hatte versucht, mit zusammen gewürfelten Möbelstücken jene Stellen zu kaschieren. Dieses Motel hatte seine besten Tage schon lange hinter sich.
Seit Stunden saß Jim in leicht gekrümmter Haltung an einem Tisch und starrte auf den flimmernden Laptop. Seine Finger flogen über die Tastatur und erzeugten ein leises Klicken. Es war das einzige Geräusch neben dem nervenden Klappern der Klimaanlage.
Schwüle Hitze hatte sein Shirt zu einer feuchten Kompresse werden lassen. Die Konturen seiner Muskeln zeichneten sich unter dem blaugrauen Stoff ab. Jim kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in seine Hände. Das unbequeme Sitzen hatte seine Rückenmuskulatur verkrampft und sein Körper ermahnte schmerzend eine Auszeit.
Mit einem offenen Gähnen streckte sich Jim, hob die Arme und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Als er sich wieder nach vorn beugte, strich er sich braune Haarsträhnen aus der Stirn. Aber die widerspenstigen Fransen weigerten sich gegen den Versuch, gebändigt zu werden und fielen augenblicklich in ihr geordnetes Chaos zurück.
Entmutigt und müde schlug Jim das Cover seines Laptops zu. Er hatte jedes Archiv durchforstet, war jedem noch so vagen Hinweis nachgegangen. Alles ohne Erfolg. Es gab Nichts, das mit dem, was die Brüder heute Morgen erlebt hatten, vergleichbar war. Kein einziger, ähnlich verwirrender Arbeitsunfall hatte sich bisher in dieser Stadt ereignet.
Ein Anruf bei Bill hatte auch nichts gebracht, außer der freudigen Gewissheit, dass es dem alten Jäger gut ging. Jim hoffte darauf, er würde bei seinen Recherchen vielleicht etwas herausfinden.
Jim erhob sich und trat in die Zimmermitte. Seine Silhouette zeichnete sich im schwachen Licht der Fenster ab. Gegen die alten, kleinen Möbel wirkte Jim wie ein Riese. Ein kühles Bier wäre jetzt eine gute Idee, dachte er und ging zum Kühlschrank.
Nachdem er eine Pappschachtel mit seltsam anmutendem Inhalt beiseite geschoben hatte, ergriff er eine der Flaschen im ansonsten leeren Eisschrank.
Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und wurde von der Kuhle die sich in der Matratze bildete, aus seiner Balance gerissen. Mit rudernden Armen und Beinen fing er sein Gewicht wieder auf und öffnete kopfschüttelnd die Flasche. Der Schluck tat ihm gut, vermochte aber nicht das Pochen hinter seinen Augen zu mildern. Vielleicht hatte ja Ron mehr Erfolg, überlegte er und stellte die Flasche neben den durchgetretenen Bettläufer.
Ein stechender Schmerz zwang Jim augenblicklich mit beiden Händen, seinen Kopf zu stützen. Flammen schienen ihm die Augen aus den Höhlen zu brennen. Stöhnend beugte er sich nach vorn, verzweifelt bemüht, eine Körperhaltung zu finden, die diese Schmerzen lindern würde. Das Stechen blieb jedoch und schwoll periodisch zu kaum noch erträglicher Intensität an. Völlig unkontrolliert glitt Jim vom Bettrand zu Boden.
Stöhnend kniff er die Augen zu, als er mit der Stirn aufschlug. In seinem Kopf erschienen seltsame Bilder. Sie wurden abwechselnd zerrissen von Dunkelheit und grellen, schmerzenden Lichtern. Klagende Laute erfüllten seine Ohren und ein Gefühl ohnmächtiger Angst griff nach seinem wild pochenden Herzen. Mit zusammengepressten Lippen riss Jim seinen Kopf in den Nacken. Als er mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken landete, irrten seine Augen weit geöffnet durch das Zimmer.
Aber die Bilder die Jim sah, kamen nicht aus diesem Raum.
*** *** ***
Leise klickte das Schloss als Ron den Schlüssel drehte und sich in das Motelzimmer schob.
„He Jim – es gibt Neuigkeiten“, rief er mit erfreutem Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er den Autoschlüssel auf eine kleine Kommode neben der Tür und sah sich suchend um.
„Jim? – wo steckst du?“ Rasch stellte er die Papiertüte mit dem soeben eingekauften Fastfood ab. Ron konnte Jim nirgends sehen, vernahm aber unvermittelt ein verzweifeltes Stöhnen. Mit einigen Schritten hatte er das Bett umrundet.
„Gott, was ist denn passiert?“ Sofort packte er Jim am Ausschnitt seines Shirts und zog ihn zu sich heran.
Noch halb benommen durch die soeben erlebte Tortur schwankte Jims Kopf haltlos hin und her. Er hatte die Augen geschlossen und seine Finger krallten sich in Rons Lederjacke.
Suchend wanderten Rons Blicke über den Körper seines Bruders. Als er keine Verletzungen erkennen konnte, schüttelte er ihn kräftig. „Jim – he Kleiner! … Komm zu dir!“
Jim’s Verstand schien klarer zu werden. „Ron?“, fragte er mit schmerzverzerrter Stimme.
Ein Lächeln huschte über Ron’s Gesicht: „He Jimmy – ja ich bin’s.“ Er schnippte mit seinen Fingern vor Jim’s Gesicht herum. „Bist du okay?“, wollte er wissen und rüttelte ihn abermals heftig.
„Hör auf mich so zu schütteln“, knurrte Jim. „Mir platzt gleich der Kopf.“
„Komm Kleiner – steh auf.“ Mit einem beherzten Ruck zerrte Ron seinen Bruder in die Höhe. Immer noch zittrig folgte Jim Rons Bemühungen. Als er schließlich erschöpft auf dem Bett Platz gefunden hatte, rieb er sich die Schleier aus den Augen und blinzelte Ron an.
„Meine Güte“, raunte dieser vorwurfsvoll. „Kann man dich denn nicht mal ein paar Stunden allein lassen?“ Er blickte besorgt in die Augen seines Bruders. „Hattest du wieder eine dieser … Visionen?“
Jim nickte betroffen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde allmählich schwächer.
„Was hast du gesehen?“ bohrte Ron nach. Er hatte sich neben Jim aufs Bett gesetzt und sah ihn erwartungsvoll an.
„Keine Ahnung“, keuchte Jim immer noch atemlos. „Einen Mann – er kniete vor einem leblosen Körper.“
„Kanntest du ihn?“, fragte Ron. Er hatte die Hände in seinem Schoß verschränkt. Seine Daumen kreisten ungeduldig um sich selbst.
„Ich weiß nicht“, presste Jim hervor. „Es war irgendwie … anders! … Anders als sonst.“
Sein Gesicht verbarg er immer noch in den Händen, die jetzt zudrückten, als versuchte er die letzten Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu quetschen. „Er hat schrecklich gelitten“, flüsterte er.
Ron sah ihn erstaunt an. „Gelitten? – War er verletzt?“
Jim schüttelte seinen Kopf „Nein – ich glaube nicht.“
„Wie kommst du dann darauf?“ Völlig verwundert hob der Ältere seine Brauen.
Langsam füllten sich Jims Augenwinkel mit Tränen: „Ich konnte seine Schmerzen fühlen. Ron - ich kannte sie!“
Verwirrt schüttelte Ron seinen Kopf. „Was soll das denn jetzt heißen?“
„Was weiß ich“, zischte Jim, wütend über sein Unvermögen, die Bilder und Empfindungen, die er durchlebt hatte, zu interpretieren. Er erhob sich und wanderte im Zimmer auf und ab. „Es hat Blüten geschneit…“, hauchte er.
Rons Gesicht wurde immer erstaunter. Er war auf dem Bett sitzen geblieben und musterte Jim, der offenbar kurz davor war zu explodieren.
Immer wieder raufte sich der junge Jäger die Haare und blickte verzweifelt an die Decke, als erhoffe er sich von dort eine Antwort. Entnervt sah er schließlich über seine Schulter auf Ron: „Alter, ich habe keine Ahnung - Ich gehe erst mal duschen – ich brauche einen klaren Kopf.“ Jim zog sein Shirt aus und schleuderte es in den Raum. Dann schmetterte er die Badezimmertüre hinter sich ins Schloss.
*** *** ***
„Iss was“, mit einer Hand schob Ron eine Pappschale in Jims Richtung. Mit der Anderen puhlte er genüsslich kauend in der undefinierbaren Masse der zweiten Schachtel und stopfte sich das Essen in den Mund.
Angewidert zuckte Jim vor dem farbig bedruckten Karton zurück. „Ron! … Das kann man doch nicht essen! Weißt du überhaupt was das ist?“ Er zog seine Stirn in Falten, beugte sich etwas nach vorn und beobachtete misstrauisch den bunten Inhalt, als hätte er Angst, ihm könnte daraus etwas entgegen springen. „Du hast also was herausgefunden?“, fragte er schließlich und lehnte sich mit verschränkten Arme zurück.
„Ja, stell dir vor – ich war nochmal auf der Polizeistation.“ Während Ron sprach, drohte ihm die Malzeit wieder aus dem Mund zu fallen. „Inspektor Miller sagte mir, dass sie in einer Nebenstraße einen verwirrten Jungen aufgriffen haben. Seine Beschreibung passt auf unseren vermissten Küchenboy.“
Jim beobachtete angeekelt und fasziniert zugleich, wie einige Nudeln zwischen Rons Lippen lebendig zu werden schienen.
„Was starrst du mich denn so an?“, wollte Ron wissen und riss Jim aus seinen Gedanken.
Räuspernd deutet dieser auf seine Lippen: „Du hast da was.“
Ron wischte sich den Mund ab und berichtete weiter: „Er ist in der hiesigen Nervenklinik. Ich denke wir sollten ihn dort morgen mal besuchen.“ Fragend sah er Jim an: „Magst du nicht?“ Sein Blick glitt gierig auf die zweite Schachtel.
Jim schüttelte den Kopf.
Sofort angelte sich Ron auch die zweite Portion und machte sich darüber her.
„Ja das sollten wir.“ Jim sah nach oben. „Wie geht es Lilly?“, fragte er leise.
„Alles bestens, sie wird morgen entlassen“, platzte Ron heraus, noch bevor ihm überhaupt bewusst geworden war, dass Jim ihn überrumpelt hatte.
Jim lachte: „Du hast sie also im Krankenhaus besucht. Weißt du denn schon, wo sie wohnt?“
Geschlagen sah Ron von seinem Essen auf: „Ja – ich habe sie besucht. Und – ja ich weiß wo sie wohnt.“
Versöhnlich neigte er den Kopf. „Und bevor du mich noch weiter nervst, Jimmy – ja, ich mag sie.“
Der Jüngere holte tief Luft. Ein triumphierendes Lächeln eroberte sein Gesicht. Es war ihm schon immer leicht gefallen, seinen älteren Bruder zu überlisten.
„Mann, du bist echt fies“, bemerkte Ron zerknirscht. Plötzlich erfüllte ein dumpfes Knurren den Raum. Erstaunt sah sich Ron um. „Was war denn das?“, flüsterte er mit erhobener Braue.
„Das - war mein Magen, Alter!“, antwortete Jim mit einem tiefen Seufzer und sah hungrig auf die leeren Pappschachteln.
„Zu spät…!“ bemerkte Ron und stieß die leeren Packungen vom Tisch.