Er (Was ich liebe)

Liv Shiwa

Mitglied
Ich liege auf meiner Decke und sehe mich um. Er spielt Volleyball mit seinen Freunden – jetzt sehe ich ihn an. Immer wenn ich Zeit habe, schaue ich ihn mir ganz genau an. Ich mag Sommertage wie diese, weil er dann eine kurze Hose trägt: Ich bleibe an seinen Beinen hängen, mein Blick schweift von seinen blassen Knöcheln über seine Knie bis zu seinen Oberschenkeln. Sie sind leicht muskulös geworden, früher war er ganz schlank. Wenn wir früher schwimmen waren, konnte man seinen Brustkorb und Rippen genau durch seine Milchhaut sehen. Er ist älter geworden, erwachsener. Eine unserer Biologielehrerinnen sagte immer, dass die Jungs in diesem Alter aus allen Nähten platzen, so formulierte sie es. Die Mädchen lachten nur, die Jungs seien Stängel geblieben, aber er nicht. Er war über die letzten Sommer aufgeblüht, gereift. Ein bisschen anders als eine gewöhnliche Frucht an einem Baum. Ich würde sagen, wie eine Aprikose. Das Wort für diese Frucht kommt vom lateinischen ,,praecox’’, das bedeutet frühreif, denn Aprikosen werden geerntet, bevor sie reif sind. Ich sage deshalb frühreif, weil er der erste von allen Jungen ist. Er muss also früh dran sein, während alle anderen Früchte noch in den Bäumen hängen und auf ihre Ernte warten.
Er zieht sein Shirt aus – nicht nur seine Beine haben Muskeln bekommen. Seine Brust ist rund, als würde er sie trainieren. Es gibt bei uns einen Jungen, der viel Sport macht und tatsächlich muskulös ist, dennoch ist seine Brust flach. Deshalb wundere ich mich manchmal, wie er zu solchen Muskeln gekommen ist. Auch gerade darum muss ich mich zusammenreißen, ihn nicht anzustarren.
Sein Bauch ist nicht mehr so definiert wie früher, aber das gefällt mir. Er sieht jetzt mehr aus wie ein gesunder Mensch. Sein Gesicht wird die meiste Zeit von einem breiten Lächeln geschmückt, er ist eigentlich nie etwas anderes als fröhlich. Wir unterhalten uns manchmal, dann erzählt er mir von seinen Klavierstücken, die er komponiert oder er zeigt mir einen Kartentrick. Davon ist er in diesen Tagen geradezu besessen – letztes Jahr war es der Zauberwürfel. Ich mag das unbekümmerte Strahlen in seinen Augen, wenn er von seinen Interessen spricht. Dabei sieht er aus wie ein Kleinkind.
Er fährt sich dauernd durch seine dunkelblonden Haare und legt sich danach seinen Mittelscheitel zurecht, dabei schaue ich ihm am liebsten zu. Oder beim Klavierspielen oder wenn er anderen Leuten Mathematik erklärt. Er sieht ernst aus, doch man merkt, dass er dafür brennt. Ich bewundere seine Leidenschaftlichkeit.
Ich kümmere mich in seiner Gegenwart nicht um mein Aussehen, ich gebe mir keine Mühe, hübsch oder sexy zu sein. Er kommt auf mich zu und will, dass ich mitspiele, meine Angaben seien die besten. Ich lehne ab, ich sei müde. Er geht zurück, doch nur einen Moment später spüre ich einen Ball an meiner Schulter, er hat ihn auf mich geworfen. Ich drehe mich zu ihm, um ihn lachen zu sehen. Weil ich nicht mitspielen wolle, kommt von ihm als Antwort. Ich stehe auf und nehme den Ball mit. Ich werfe ihn an seinen Kopf, jetzt spiele ich mit – drei gegen drei. Ich habe kein Problem damit, dass sonst nur Jungs da sind, ich verstehe mich mit ihnen. Die Mädchen liegen auf ihren Decken, seine Freundin ist eine von ihnen. Sie stört mich nicht. Die beiden hatten eine lange Vorgeschichte, mal getrennt, mal zusammen. Ich glaube, mittlerweile haben sie sich gefestigt. Von Zeit zu Zeit machten wir uns über sie lustig, denn sie waren anders als die übrigen Schulpärchen. Es gab nur ein einziges Foto von ihnen und sonst benahmen sie sich ziemlich distanziert. Ich sah einmal, wie sie versuchte, in der Öffentlichkeit seine Hand zu nehmen, doch er zog seine nur weg und lief schneller. Es tat mir leid für sie und ich wunderte mich, warum er so gemein zu ihr war.
Nach all meinen Worten könnte man denken, dass ich ihn liebe. Ich liebe ihn nicht. Es ist schwer zu beschreiben, ich kann es kaum beschreiben. Ich sehe ihn einfach gern an. Wohl so ähnlich wie Leute, die sich gern Sterne ansehen oder Blumen oder das Meer. Er ist also mein Stern, hier auf der Erde statt im All. Er ist ein Stern, weil uns Welten trennen, wir gehören nicht zusammen. Würde er morgen auf mich zukommen und mich ausführen wollen oder zu irgendwas einladen, würde ich ablehnen. Ich würde keinen Kuss erwidern, keine Willst-du-Frage mit ja beantworten. Er soll nur noch eine Weile da sein und ab und zu mit mir reden. Er soll weiter kurze Hosen tragen und sein Shirt ausziehen. Er soll sich weiter durch die Haare fahren. Er soll weiter Klavier spielen. Er soll sich seine Träume erfüllen und in die Welt hinausziehen, weit weg von mir. Und wenn wir uns vielleicht irgendwann bei einem Klassentreffen in zehn Jahren wiedersehen, können wir reden und ich würde keinen Kuss erwidern, ich würde keine Willst-du-Frage mit ja beantworten. Ich würde wieder in mein Leben zurückkehren und er würde weiter blühen… Heiraten, Kinder bekommen. Alles, was er will, mit wem er will. Es wäre mir egal.
Das Volleyballspiel haben wir gewonnen. Er und sein Freund schreien und springen Brust an Brust gegeneinander, als hätten sie die Volleyball-WM gewonnen. Das war eben so eine Art von ihm – wenn er sich freute, übertrieb er total. Ich schaute einfach nur weiter zu. Sie wollen jetzt Baden gehen, ich gehe zu meiner Decke zurück. Ich lege mich neben die anderen Mädchen. Nun habe ich wieder die Gelegenheit, ihn anzusehen. Meine Augen bleiben diesmal bei seinem Gesicht hängen: Er lacht so ausgelassen, dass ich es trotz der Entfernung noch höre. Er stapft mit Mühe durch das flache Wasser, um vor seinen Freunden wegzulaufen, die ihn mit Wasser bespritzen. Seine Oberschenkel sind in meiner Sicht nur verschwommen zu erkennen, doch sie sehen noch immer wunderschön aus. Sein nasses Haar hängt ihm ins Gesicht, sodass er sich durch die Haare fährt. Ich könnte stundenlang weiter über ihn reden, über jeden Zentimeter seines Körpers. In meinem Kopf schwärme ich gern für ihn. Wie komisch, dass ich ihn nicht liebe. Eigentlich finde ich es gar nicht komisch. Es ist einfach so, er ist einfach so.
Ich werde ihn weiter anschauen, aus der Ferne betrachten.
Das ist das, was ich liebe.
 

Rachel

Mitglied
Hei, liebe Liv, ich vermute, deine jungendliche Erzählerin macht sich einiges vor. Leider überträgt sich das in meinen Augen auf den Text insgesamt, der wie ein langer passiver Blick nicht von der Stelle kommt. Sehr schade, weil gut geschrieben.

Als ich anfangs nicht wusste, wer spricht, fand ich es noch interessanter. Ich dachte, vielleicht beobachtet ihn seine Mutter, sein Vetter, der Bademeister ... diese Offenheit ließ dem Leser, der offensichtlich mehr Erleben will, als die Erzählerin, mehr Raum.

Es ist einfach so, er ist einfach so, sagt deine Erzählstimme. Aber ich glaube ihr nicht.

Liebe Grüße
 

Liv Shiwa

Mitglied
Hei, liebe Liv, ich vermute, deine jungendliche Erzählerin macht sich einiges vor. Leider überträgt sich das in meinen Augen auf den Text insgesamt, der wie ein langer passiver Blick nicht von der Stelle kommt. Sehr schade, weil gut geschrieben.

Als ich anfangs nicht wusste, wer spricht, fand ich es noch interessanter. Ich dachte, vielleicht beobachtet ihn seine Mutter, sein Vetter, der Bademeister ... diese Offenheit ließ dem Leser, der offensichtlich mehr Erleben will, als die Erzählerin, mehr Raum.

Es ist einfach so, er ist einfach so, sagt deine Erzählstimme. Aber ich glaube ihr nicht.

Liebe Grüße
Hey Rachel! Das ist mein zweiter Beitrag hier und ich freue mich richtig, dass ich mal eine Rückmeldung bekomme :)
Der Text ist genau so gedacht: Er steht still und hat kein Ziel, keine wirkliche Handlung. Denn die ,,Beziehung'' zwischen der Erzählerin und ihm steht ebenfalls still. Beides soll sich nirgendswo hinbewegen. Ich verstehe aber sehr, dass man sich von so einem Text mehr erwartet...
Ich finde es toll, dass du meinen Schreibstil mochtest! Danke!
 
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