Erinnerungen an ein Südufer

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„Wir brauchen gar nicht über die Brücke zu gehen, die nächste Bahn drüben kriegen wir nicht mehr.“ Die Drei, Endstation Schlachthof, fuhr nur in großen Abständen, wir würden zu Fuß ins Zentrum gehen müssen. („Dafür sparen wir dann das Umsteigen.“) Oma, mit mir wieder auf Besuch im Hüttenhof, hatte sich bei ihrer ältesten Schwester festgeplaudert. Sehe ich mir heute den denkmalgeschützten Wohnblock im Netz an, erkenne ich staunend: Das ist dezent expressionistisch, recht ansprechend. Damals kannte keiner von uns den Stilbegriff und der grauschwarze Eisenhüttenstaub verdeckte noch die Feinheiten der Fassade. Es waren Werkswohnungen der Hütte. Den Onkel, ein ausgemergeltes altes Männchen, das wenig sprach, sah man selten. Nachmittags hieß es oft: „Er ist in seinem Garten.“ Die Schrebergartenkolonie lag auf der anderen Straßenseite. War der Onkel am Vormittag daheim, dämpften wir unsere Stimmen besser: „Er hat Nachtschicht gehabt und schläft noch.“ Ich sah mich in der Wohnung um: Wie klein diese Räume waren … und hier hatten sie vier Kinder großgezogen. Drei waren längst fort, eine Tochter lebte weit entfernt. Die Sage ging, sie sei da Platzanweiserin an der Oper und geleite manchmal den berühmten Staatsmann zu seiner Loge. Eine Tochter war unverheiratet und noch im Haus, ging putzen, machte Probleme, war meistens abwesend. Oma und die Tante hechelten ihre übrigen fünf Schwestern durch, selten die drei Brüder. Es ging um schwesterliche Konflikte oder Versöhnungen. „Und dann hat sie ihr diesen entrüsteten Brief geschrieben und ihr Heuchelei und ein christliches Mäntelchen vorgeworfen, kannst du dir das vorstellen!“ Oma lachte schallend. Die Tante berichtete von einem ihrer Hühner, das auch Probleme mache: „Es legt keine Eier und verhält sich wie ein Hahn. Wir werden es vielleicht doch schlachten …“ Ich sah durchs Fenster ins Blockinnere, da waren Schuppen, Ställe für Kleinvieh, winzige Gärten.

In diesem Hof hatte ich in den Schulferien manchmal ungewollt meinen Auftritt. Die Eltern nahmen mich ab und zu mit, wenn sie dort ihre Landprodukte zum Verkauf anboten: Eier, Kartoffeln, Obst, Schnittblumen. Wir rasselten durch die Toreinfahrt, vorneweg der Unimog und ich auf dem Anhänger ohne Verdeck, zwischen den Waren. Sogleich waren die Buben des Viertels zur Stelle, liefen johlend nebenher, feixten zu mir herauf: „Stripp, strapp, strolle, ist der Eimer noch nicht volle …“ Dazu charakteristische Bewegungen der Hände und Finger, es war mir peinlich. Im Hof sollte der gehänselte Bauernjunge beim Verkauf für Mama Äpfel in die Waagschale legen, für Papa Gladiolen aus einer Kanne herausziehen. Ich war wenig anstellig, glaube ich.

Die Straßenbahn war also weg und wir mussten gut einen Kilometer zu Fuß ins Zentrum gehen, entlang dem Südufer. Oma liebte dieses Wort – Südufer! Der Fluss war als Kanal tiefer gelegt, sehr tief. Man sah ihn nicht zwischen den dicht stehenden Bäumen neben uns, hörte ihn nur. Da unten rauschte leise und gebändigt, was in unserem Dorf sich natürlich wand, oft die Wiesen überschwemmte. Jedermann bei uns sagte Dorf, obwohl es längst ein Arbeitervorort war; an seinem Rand produzierten meine Eltern Nahrungsmittel und Blumen für die Stadt.

Die Süduferstraße wechselte unterwegs zweimal den Namen. Wir passierten ein neueres Gebäude, das Oma gern aufsuchte, den Großhandelsmarkt für Textilien, meist in Begleitung einer ihrer jüngeren Schwestern, die Marktfrau war – oder Oma ging einfach, die Identität wechselnd, mit der Karte der Schwester ins Geschäft. Sich gut kleiden und die Kleidung sorgfältig auswählen, waren Hauptvergnügungen meiner Großmutter, meine nicht. Ungern ging ich mit in den Großhandel. So kam es, dass Oma dort allein für mich einkaufte und wenn die Jeans nicht passten, wurden sie von ihr daheim passend gemacht. Wenigstens versuchte sie es und wenn das fehlschlug, brachte sie die umgenähte Ware zum Umtausch zurück.

Die Talaue ist hier schmal und der Hang steigt gleich hinter den Häusern der anderen Straßenseite an. Der größere Teil der Stadt liegt auf diesen Hügeln südlich vom Fluss und blickt doch nach Norden. Auf der untersten Bodenterrasse thronte damals eines der Krankenhäuser. Ihm hatte ich einmal einen Besuch abzustatten, besser gesagt, meiner Mutter, die auf der Frauenstation lag. Man hatte ihr irgendetwas weggeschnitten. Wenn ich zu Hause in Hörweite war, wurden die Stimmen gedämpft und die Details lieber nicht erörtert. Der Schuljunge, allein unter Frauen bei seinem Pflichtbesuch, wollte es jetzt auch nicht genau wissen. Er saß eine Stunde ab, sah gelangweilt durchs Fenster auf den gegenüberliegenden Südhang – dort ein besseres Viertel am Waldrand - und zählte die auf der Talstraße durchfahrenden Omnibusse.

Die Busse fuhren zur Lindenallee und das war auch Omas und mein Ziel. An Linden erinnere ich mich nicht, es war eine steinerne Schlucht, frühe und hohe Nachkriegsbauten, auch ein kleines Hochhaus mit Arkaden. Hier warteten wir auf den Trolleybus, hinter uns Bierlokale, Imbissläden, gegenüber das Bankenviertel, zur Seite die Hauptachse der Stadt mit der Straßenbahn, bevor sie ihre steile Auffahrt begann: wie Lissabon und das Ruhrgebiet in enger Verzahnung. Begrenzt wurde das Panorama im Westen durch gestaffelte Hochöfen, die nie erloschen, immerzu rumorten, zischten, rauchten, dampften. (Sie sind längst stillgelegt.) Und da war neben dem Hochhaus die Brücke über den Fluss, hier begann der Kanal auf furiose Weise: Die dampfenden und stinkenden Abwässer von Hütte und Stahlwerk stürzten mit dem Fluss einen Katarakt hinunter ins Kanalbett. Im Hochhaus, hörte ich an der Oberschule einen Kameraden sagen, sei eine spezielle Klinik, seine Mutter sei da Hilfsschwester und bekomme Unheimliches zu sehen: Fehlbildungen, Missgeburten aller Art, Monstrositäten. Oma schleppte mich oft in ein Geschäft im Parterre, kaufte mir Jacken, Hosen, Pullover, einen Kamelhaarmantel. Viel Wesen machte sie, als es darum ging, mich zur Konfirmation einzukleiden. „Der Preisunterschied liegt immer in der Ware“, sagte sie triumphierend zum Verkäufer, als ich den schwarzen Anzug anprobiert hatte. (Allerbester Stoff, dickes Tuch, nicht billig.) Später trug ich ihn nie mehr, auch damit noch Oma enttäuschend. Bei meinen Besuchen von Berlin aus beklagte sie sich: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein Herr.“ Oder sie schrieb mir danach einen Brief: „Wie du wieder angezogen warst! Ich habe immer so gut für dich gesorgt, aber auf Künstlerkleidung verstehe ich mich nicht.“

Damals an der Haltestelle wies Oma nach Osten: „Vielleicht werden wir diesen Weg nicht mehr so oft machen … Der Onkel geht nächstes Jahr in Rente, sie suchen schon was anderes fürs Alter. So ist das mit Werkswohnungen. Ich bin froh, dass … Ah, da kommt der Trolleybus. Bald sind wir wieder daheim.“ Er fuhr gerade langsam einen Hügel herab auf uns zu, vorbei an den Hochöfen, deren Feuer heute schon lange erloschen sind.
 

Matula

Mitglied
Hallo @Arno Abendschön !
Mangels Ortskenntnis habe ich kein eigenes Bild, kann mir aber die Gegend gut vorstellen, weil Du sie so penibel schilderst. Ein bisschen traurig ist die Fremdheit, die sich durch den Text zieht. Da scheint es keinen Punkt zu geben, in dem sich Großmutter und Enkel treffen. Man weiß nicht, ob es an ihr oder ihm liegt. Sie ist dominant, diktiert Ort, Richtung und Verweildauer. Er lässt es geschehen, ohne sie in die Schranken zu weisen. Man spürt, wie die stumme Verachtung wächst.
Sprachlich wie immer sehr gekonnt.

Schöne Grüße,
Matula
 
Danke, Matula, für eingehenden Kommentar und günstige Bewertung. Die Tendenz "Fremdheit" siehst du richtig - nur ist es eben eine Tendenz aus viel späterer Erzähler-Perspektive. In der damaligen Gegenwart war das Verhältnis zwischen Großmutter und Enkel (also den Urbildern der Figuren) gar nicht so einseitig. Zwar hatte die alte Frau klar dominante Züge (auch gegenüber ihrem Mann), doch sie war auch so klug, sich laufend in die Gedanken- und Gefühlswelt des Enkels zu versetzen. Tatsächlich war sie seine Hauptgesprächspartnerin in der Familie. Das kommt hier nicht zum Zug, da der Text nicht vorrangig Oma-Porträt sein will.

Die Tendenz dachte ich mir so: die schon damals angelegten Brüche andeuten und damit unausgesprochen den späteren vollständigen Bruch (Fortgang) begründen. Das Milieu wird als bäuerlich-proletarische Kleinbürgerhölle vorgeführt, mit noch weiteren Figuren, die beobachtet werden, aber nicht zur Identifikation einladen. So war diese Welt auch, aber eben nicht nur.

Daneben geht es auch um die Vergänglichkeit aller Lebensumstände. Die Straßenbahnendstation heißt nicht Sehnsucht, sondern Schlachthof. Der Fluss wird denaturiert zum Kanal. Ein unangepasstes Huhn soll getötet werden. Der Junge wird von der Stadtjugend dafür verspottet, dass er Bauernsohn ist. Die Verwandten müssen die Werkswohnung aufgeben, die Hochöfen werden stillgelegt und auf den Krankenstationen geschieht Rätselhaft-Unheimliches usw.

Schöne Ostern
Arno
 
Hallo Arno,
da hängt ja jemand mehr an seiner Heimat, als er zugeben will. Nenn doch mal den Namen der Stadt. Ist es Duisburg? Mannheim? Ich sehe öfter mal die Benz-Baracken auf RTL2. Das sind wohl Werkswohnungen. Ich komme auch aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ob ich mich wirklich daraus gelöst habe, da bin ich mir nicht so sicher. Das haftet doch irgendwie, auch wenn man noch so sehr versucht, das abzuschütteln. Der Text hat viele gute Schilderungen der Umgebung, die irgendwie in Auflösung begriffen scheint. Die Hochöfen werden abgeschaltet, der Fluss führt nur noch Industrieabwässer. Im Ruhrgebiet, darum handelt es sich doch, passierten ja viele Umwälzungen, was das Arbeitsleben anging. Dort schlug ja mal das Herz der Industrienation Deutschland. Was machen Deine Landsleute heute dort eigentlich. Sie werden ja nicht alle den Drogen verfallen sein. Scheiß Globalisierung. Früher ging es ja auch ohne Stahl aus China. Bemalt mal alle schön Ostereier. Gruß Friedrichshainerin
 
Danke, Friedrichshainerin, für deine Anmerkungen und die Nachfragen. Da will ich mal nicht kneifen und den Ortsnamen nennen, man wird mich hoffentlich nicht steinigen, falls ich noch einmal dort auftauchen sollte ... Die Stadt ist Neunkirchen / Saar, jahrhundertelang Standort von Montanindustrie (auch Kohlengruben). Goethe und Joseph Roth waren da und haben etwas darüber geschrieben. Erich Honecker ist dort geboren und aufgewachsen. Was die Leute dort heute so denken und treiben, kann ich dir nicht sagen - ich war seit 1998 nicht mehr da und es gibt keine Verbindungen mehr dahin.

Ja, gewiss ist das so, die Einflüsse der unmittelbaren Vorfahren prägen einen lebenslang. Die Frage ist dann nur, wie man sie modifiziert, transponiert. In meinem Fall war die Herkunft eine agrarisch-proletarische Mischung, mehr oder weniger gut in kleinbürgerlichen Lebensverhältnissen etabliert.

Schöne Ostergrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

da möchte ich mich Matulas Lob anschließen. Sehr feine Schilderung - und Du gibst eine Idee davon, wie wenig Platz der Individualismus hat angesichts der Dominanz der vorhandenen Ordnung. Für mich ist diese Industrielandschaft ein Spiegelbild, wie die Notwendigkeit der ursprünglichen Geneigtheit Gewalt antut, auch bei den Menschen. Etwas Alltägliches also.
Ich finde es sehr wichtig, diese Ursprünge zu reflektieren und ihnen ihren Platz zu lassen. Da ist nichts, was man abschütteln sollte (oder könnte), man öffnet nur das Einfallstor dafür, dass andere einem den eigenen Wert beimessen, wenn man es versuchte. Vielleicht finge so an, dass man nicht für sich selbst einstehen kann. Der Blick zurück muss nicht liebevoll sein (oder gar verklärend), aber er darf rational anerkennend sein, und das hast Du sehr anschaulich gemacht, indem Du keine Wertung vorgenommen hast.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Arno,
habe nach Deiner Heimatstadt mal gegoogelt. Das nimmt ja gar kein Ende. Bei der Industrialisierung hätte Dein Ur-Urgroßvater mindestens der Mitbegründer der KPD gewesen sein müssen. Kennst Du Eduard Senz? Seine Geschichte, ein städtisches Original, das unter die Euthanasie geriet, ist ja tragisch. Aber was Anderes. Mal Hand auf´s Herz. In die Aufstellung der größten Söhne Deiner Stadt möchtest Du bestimmt auch kommen. Scherz. In Punkto Ursprungsort kann ich mit Dir nicht mithalten. Mein Heimatdorf bei Grimmen hat nach der Schließung der LPG nur noch 169 Einwohner, wovon die Hälfte die AfD gewählt haben. Sogar der einzige Konsum hat dicht gemacht. Der nächste Laden ist vier Kilometer weiter. Sie wollen sogar die Schule schließen, die sowieso nur noch eine Grundschule ist.
Bei Euch in Neunkirchen hat ja ein Riesenstrukturwandel stattgefunden. War Deine Familie auch davon betroffen?
Gruß Friedrichshainerin
 
Liebe Petra,

danke für verständnisvolle Aufnahme und gütige Bewertung des Textes.
wie wenig Platz der Individualismus hat angesichts der Dominanz der vorhandenen Ordnung. Für mich ist diese Industrielandschaft ein Spiegelbild, wie die Notwendigkeit der ursprünglichen Geneigtheit Gewalt antut,
Ja, das ist ein wesentlicher Punkt. Dazu passt, was Joseph Roth über Topographie und Stadtbild dort geschrieben hat: Die Natur habe alles getan, damit sich in dieser Landschaft keine Stadt entwickeln könne, es habe ihr, der Natur, aber nichts genutzt.

Noch einen schönen Restpfingstmontag
Arno
 
Geschätzte Mitbürgerin aus Berlin, werte Friedrichshainerin,

über Sense-Eduard (Eduard Senz) hörte ich in meiner Kindheit tatsächlich manchmal reden, allerdings nur über den noch Aktiven und seine besondere Art, sich zu geben. Sein Ende war entweder kein Thema oder es drang mir nicht ins Bewusstsein. Das spätere Denkmal habe ich gar nicht mehr gesehen. - Zur KPD gab es nur einen Berührungspunkt in der Familie: Mein Großvater mütterlicherseits war lange Zeit Mitglied, auch persönlich bekannt mit der Honecker-Familie. Im Übrigen war man entweder sozialdemokratisch eingestellt oder unpolitisch. - Der Strukturwandel ab Ende der 1950er Jahre hatte in unserer Familie keine Auswirkungen, da zu der Zeit in ihr keiner Bergmann oder Hüttenarbeiter war.

Dein Heimatdorf in Mecklenburg, das ist freilich eine ganz andere Welt. Den äußeren Anschein der von dir geschilderten Verhältnisse kenne ich jedoch von vielen kleinen Orten in Brandenburg. Von den Defiziten scheint mir der Arztmangel das drückendste zu sein. Dennoch dürften die meisten dort sich ein Leben in Berlin nicht vorstellen können. Es gibt ja neuerdings wieder eine Abwanderung junger Leute in diese ländlichen Gebiete.

Schöne Abendgrüße
Arno
 



 
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