Arno Abendschön
Mitglied
„Wir brauchen gar nicht über die Brücke zu gehen, die nächste Bahn drüben kriegen wir nicht mehr.“ Die Drei, Endstation Schlachthof, fuhr nur in großen Abständen, wir würden zu Fuß ins Zentrum gehen müssen. („Dafür sparen wir dann das Umsteigen.“) Oma, mit mir wieder auf Besuch im Hüttenhof, hatte sich bei ihrer ältesten Schwester festgeplaudert. Sehe ich mir heute den denkmalgeschützten Wohnblock im Netz an, erkenne ich staunend: Das ist dezent expressionistisch, recht ansprechend. Damals kannte keiner von uns den Stilbegriff und der grauschwarze Eisenhüttenstaub verdeckte noch die Feinheiten der Fassade. Es waren Werkswohnungen der Hütte. Den Onkel, ein ausgemergeltes altes Männchen, das wenig sprach, sah man selten. Nachmittags hieß es oft: „Er ist in seinem Garten.“ Die Schrebergartenkolonie lag auf der anderen Straßenseite. War der Onkel am Vormittag daheim, dämpften wir unsere Stimmen besser: „Er hat Nachtschicht gehabt und schläft noch.“ Ich sah mich in der Wohnung um: Wie klein diese Räume waren … und hier hatten sie vier Kinder großgezogen. Drei waren längst fort, eine Tochter lebte weit entfernt. Die Sage ging, sie sei da Platzanweiserin an der Oper und geleite manchmal den berühmten Staatsmann zu seiner Loge. Eine Tochter war unverheiratet und noch im Haus, ging putzen, machte Probleme, war meistens abwesend. Oma und die Tante hechelten ihre übrigen fünf Schwestern durch, selten die drei Brüder. Es ging um schwesterliche Konflikte oder Versöhnungen. „Und dann hat sie ihr diesen entrüsteten Brief geschrieben und ihr Heuchelei und ein christliches Mäntelchen vorgeworfen, kannst du dir das vorstellen!“ Oma lachte schallend. Die Tante berichtete von einem ihrer Hühner, das auch Probleme mache: „Es legt keine Eier und verhält sich wie ein Hahn. Wir werden es vielleicht doch schlachten …“ Ich sah durchs Fenster ins Blockinnere, da waren Schuppen, Ställe für Kleinvieh, winzige Gärten.
In diesem Hof hatte ich in den Schulferien manchmal ungewollt meinen Auftritt. Die Eltern nahmen mich ab und zu mit, wenn sie dort ihre Landprodukte zum Verkauf anboten: Eier, Kartoffeln, Obst, Schnittblumen. Wir rasselten durch die Toreinfahrt, vorneweg der Unimog und ich auf dem Anhänger ohne Verdeck, zwischen den Waren. Sogleich waren die Buben des Viertels zur Stelle, liefen johlend nebenher, feixten zu mir herauf: „Stripp, strapp, strolle, ist der Eimer noch nicht volle …“ Dazu charakteristische Bewegungen der Hände und Finger, es war mir peinlich. Im Hof sollte der gehänselte Bauernjunge beim Verkauf für Mama Äpfel in die Waagschale legen, für Papa Gladiolen aus einer Kanne herausziehen. Ich war wenig anstellig, glaube ich.
Die Straßenbahn war also weg und wir mussten gut einen Kilometer zu Fuß ins Zentrum gehen, entlang dem Südufer. Oma liebte dieses Wort – Südufer! Der Fluss war als Kanal tiefer gelegt, sehr tief. Man sah ihn nicht zwischen den dicht stehenden Bäumen neben uns, hörte ihn nur. Da unten rauschte leise und gebändigt, was in unserem Dorf sich natürlich wand, oft die Wiesen überschwemmte. Jedermann bei uns sagte Dorf, obwohl es längst ein Arbeitervorort war; an seinem Rand produzierten meine Eltern Nahrungsmittel und Blumen für die Stadt.
Die Süduferstraße wechselte unterwegs zweimal den Namen. Wir passierten ein neueres Gebäude, das Oma gern aufsuchte, den Großhandelsmarkt für Textilien, meist in Begleitung einer ihrer jüngeren Schwestern, die Marktfrau war – oder Oma ging einfach, die Identität wechselnd, mit der Karte der Schwester ins Geschäft. Sich gut kleiden und die Kleidung sorgfältig auswählen, waren Hauptvergnügungen meiner Großmutter, meine nicht. Ungern ging ich mit in den Großhandel. So kam es, dass Oma dort allein für mich einkaufte und wenn die Jeans nicht passten, wurden sie von ihr daheim passend gemacht. Wenigstens versuchte sie es und wenn das fehlschlug, brachte sie die umgenähte Ware zum Umtausch zurück.
Die Talaue ist hier schmal und der Hang steigt gleich hinter den Häusern der anderen Straßenseite an. Der größere Teil der Stadt liegt auf diesen Hügeln südlich vom Fluss und blickt doch nach Norden. Auf der untersten Bodenterrasse thronte damals eines der Krankenhäuser. Ihm hatte ich einmal einen Besuch abzustatten, besser gesagt, meiner Mutter, die auf der Frauenstation lag. Man hatte ihr irgendetwas weggeschnitten. Wenn ich zu Hause in Hörweite war, wurden die Stimmen gedämpft und die Details lieber nicht erörtert. Der Schuljunge, allein unter Frauen bei seinem Pflichtbesuch, wollte es jetzt auch nicht genau wissen. Er saß eine Stunde ab, sah gelangweilt durchs Fenster auf den gegenüberliegenden Südhang – dort ein besseres Viertel am Waldrand - und zählte die auf der Talstraße durchfahrenden Omnibusse.
Die Busse fuhren zur Lindenallee und das war auch Omas und mein Ziel. An Linden erinnere ich mich nicht, es war eine steinerne Schlucht, frühe und hohe Nachkriegsbauten, auch ein kleines Hochhaus mit Arkaden. Hier warteten wir auf den Trolleybus, hinter uns Bierlokale, Imbissläden, gegenüber das Bankenviertel, zur Seite die Hauptachse der Stadt mit der Straßenbahn, bevor sie ihre steile Auffahrt begann: wie Lissabon und das Ruhrgebiet in enger Verzahnung. Begrenzt wurde das Panorama im Westen durch gestaffelte Hochöfen, die nie erloschen, immerzu rumorten, zischten, rauchten, dampften. (Sie sind längst stillgelegt.) Und da war neben dem Hochhaus die Brücke über den Fluss, hier begann der Kanal auf furiose Weise: Die dampfenden und stinkenden Abwässer von Hütte und Stahlwerk stürzten mit dem Fluss einen Katarakt hinunter ins Kanalbett. Im Hochhaus, hörte ich an der Oberschule einen Kameraden sagen, sei eine spezielle Klinik, seine Mutter sei da Hilfsschwester und bekomme Unheimliches zu sehen: Fehlbildungen, Missgeburten aller Art, Monstrositäten. Oma schleppte mich oft in ein Geschäft im Parterre, kaufte mir Jacken, Hosen, Pullover, einen Kamelhaarmantel. Viel Wesen machte sie, als es darum ging, mich zur Konfirmation einzukleiden. „Der Preisunterschied liegt immer in der Ware“, sagte sie triumphierend zum Verkäufer, als ich den schwarzen Anzug anprobiert hatte. (Allerbester Stoff, dickes Tuch, nicht billig.) Später trug ich ihn nie mehr, auch damit noch Oma enttäuschend. Bei meinen Besuchen von Berlin aus beklagte sie sich: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein Herr.“ Oder sie schrieb mir danach einen Brief: „Wie du wieder angezogen warst! Ich habe immer so gut für dich gesorgt, aber auf Künstlerkleidung verstehe ich mich nicht.“
Damals an der Haltestelle wies Oma nach Osten: „Vielleicht werden wir diesen Weg nicht mehr so oft machen … Der Onkel geht nächstes Jahr in Rente, sie suchen schon was anderes fürs Alter. So ist das mit Werkswohnungen. Ich bin froh, dass … Ah, da kommt der Trolleybus. Bald sind wir wieder daheim.“ Er fuhr gerade langsam einen Hügel herab auf uns zu, vorbei an den Hochöfen, deren Feuer heute schon lange erloschen sind.
In diesem Hof hatte ich in den Schulferien manchmal ungewollt meinen Auftritt. Die Eltern nahmen mich ab und zu mit, wenn sie dort ihre Landprodukte zum Verkauf anboten: Eier, Kartoffeln, Obst, Schnittblumen. Wir rasselten durch die Toreinfahrt, vorneweg der Unimog und ich auf dem Anhänger ohne Verdeck, zwischen den Waren. Sogleich waren die Buben des Viertels zur Stelle, liefen johlend nebenher, feixten zu mir herauf: „Stripp, strapp, strolle, ist der Eimer noch nicht volle …“ Dazu charakteristische Bewegungen der Hände und Finger, es war mir peinlich. Im Hof sollte der gehänselte Bauernjunge beim Verkauf für Mama Äpfel in die Waagschale legen, für Papa Gladiolen aus einer Kanne herausziehen. Ich war wenig anstellig, glaube ich.
Die Straßenbahn war also weg und wir mussten gut einen Kilometer zu Fuß ins Zentrum gehen, entlang dem Südufer. Oma liebte dieses Wort – Südufer! Der Fluss war als Kanal tiefer gelegt, sehr tief. Man sah ihn nicht zwischen den dicht stehenden Bäumen neben uns, hörte ihn nur. Da unten rauschte leise und gebändigt, was in unserem Dorf sich natürlich wand, oft die Wiesen überschwemmte. Jedermann bei uns sagte Dorf, obwohl es längst ein Arbeitervorort war; an seinem Rand produzierten meine Eltern Nahrungsmittel und Blumen für die Stadt.
Die Süduferstraße wechselte unterwegs zweimal den Namen. Wir passierten ein neueres Gebäude, das Oma gern aufsuchte, den Großhandelsmarkt für Textilien, meist in Begleitung einer ihrer jüngeren Schwestern, die Marktfrau war – oder Oma ging einfach, die Identität wechselnd, mit der Karte der Schwester ins Geschäft. Sich gut kleiden und die Kleidung sorgfältig auswählen, waren Hauptvergnügungen meiner Großmutter, meine nicht. Ungern ging ich mit in den Großhandel. So kam es, dass Oma dort allein für mich einkaufte und wenn die Jeans nicht passten, wurden sie von ihr daheim passend gemacht. Wenigstens versuchte sie es und wenn das fehlschlug, brachte sie die umgenähte Ware zum Umtausch zurück.
Die Talaue ist hier schmal und der Hang steigt gleich hinter den Häusern der anderen Straßenseite an. Der größere Teil der Stadt liegt auf diesen Hügeln südlich vom Fluss und blickt doch nach Norden. Auf der untersten Bodenterrasse thronte damals eines der Krankenhäuser. Ihm hatte ich einmal einen Besuch abzustatten, besser gesagt, meiner Mutter, die auf der Frauenstation lag. Man hatte ihr irgendetwas weggeschnitten. Wenn ich zu Hause in Hörweite war, wurden die Stimmen gedämpft und die Details lieber nicht erörtert. Der Schuljunge, allein unter Frauen bei seinem Pflichtbesuch, wollte es jetzt auch nicht genau wissen. Er saß eine Stunde ab, sah gelangweilt durchs Fenster auf den gegenüberliegenden Südhang – dort ein besseres Viertel am Waldrand - und zählte die auf der Talstraße durchfahrenden Omnibusse.
Die Busse fuhren zur Lindenallee und das war auch Omas und mein Ziel. An Linden erinnere ich mich nicht, es war eine steinerne Schlucht, frühe und hohe Nachkriegsbauten, auch ein kleines Hochhaus mit Arkaden. Hier warteten wir auf den Trolleybus, hinter uns Bierlokale, Imbissläden, gegenüber das Bankenviertel, zur Seite die Hauptachse der Stadt mit der Straßenbahn, bevor sie ihre steile Auffahrt begann: wie Lissabon und das Ruhrgebiet in enger Verzahnung. Begrenzt wurde das Panorama im Westen durch gestaffelte Hochöfen, die nie erloschen, immerzu rumorten, zischten, rauchten, dampften. (Sie sind längst stillgelegt.) Und da war neben dem Hochhaus die Brücke über den Fluss, hier begann der Kanal auf furiose Weise: Die dampfenden und stinkenden Abwässer von Hütte und Stahlwerk stürzten mit dem Fluss einen Katarakt hinunter ins Kanalbett. Im Hochhaus, hörte ich an der Oberschule einen Kameraden sagen, sei eine spezielle Klinik, seine Mutter sei da Hilfsschwester und bekomme Unheimliches zu sehen: Fehlbildungen, Missgeburten aller Art, Monstrositäten. Oma schleppte mich oft in ein Geschäft im Parterre, kaufte mir Jacken, Hosen, Pullover, einen Kamelhaarmantel. Viel Wesen machte sie, als es darum ging, mich zur Konfirmation einzukleiden. „Der Preisunterschied liegt immer in der Ware“, sagte sie triumphierend zum Verkäufer, als ich den schwarzen Anzug anprobiert hatte. (Allerbester Stoff, dickes Tuch, nicht billig.) Später trug ich ihn nie mehr, auch damit noch Oma enttäuschend. Bei meinen Besuchen von Berlin aus beklagte sie sich: „Du siehst ja gar nicht aus wie ein Herr.“ Oder sie schrieb mir danach einen Brief: „Wie du wieder angezogen warst! Ich habe immer so gut für dich gesorgt, aber auf Künstlerkleidung verstehe ich mich nicht.“
Damals an der Haltestelle wies Oma nach Osten: „Vielleicht werden wir diesen Weg nicht mehr so oft machen … Der Onkel geht nächstes Jahr in Rente, sie suchen schon was anderes fürs Alter. So ist das mit Werkswohnungen. Ich bin froh, dass … Ah, da kommt der Trolleybus. Bald sind wir wieder daheim.“ Er fuhr gerade langsam einen Hügel herab auf uns zu, vorbei an den Hochöfen, deren Feuer heute schon lange erloschen sind.