Erinnerungen an einen Kuss

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Anmerkung: Da ich mich nicht dazu durchzuringen vermag, meine Erzählung einer – durchaus nicht unpassenden – Kategorie wie Humor/Satire
oder Lust/Liebe zuzuordnen, überlasse ich dies leichten Herzens und ohne Vorbehalt dem Forenredakteur.


ERINNERUNGEN AN EINEN KUSS


Misslingt mir aber mein Bemühen, dem Leser zu gefallen,
so würde mir dies eingestandenermaßen leidtun,
freilich nicht so sehr, dass mich das Schreiben reute,
denn auf jeden Fall habe ich mich dabei unterhalten.
Giacomo Casanova

Die Verantwortung für die Niederschrift dieser Geschichte muss ich selbstverständlich übernehmen, nicht jedoch die Verantwortung für ihre Herkunft: Ich habe sie nämlich – nun, geträumt, jedenfalls zum größten Teil, und dafür kann ich nichts, wie jeder halbwegs kompetente Psychoanalytiker bestätigen wird. Zu mehr werde ich mich nicht äußern, etwa welche Anstöße der Alltag zu jenem Traum gegeben haben mag und schließlich, warum ich ihn überhaupt niederschreibe. Wer mehr darüber wissen will, einen Psychoanalytiker kennt und ihn dazu bringt, diese Geschichte zu lesen, der möge ihn danach befragen.
Natürlich ist ein Traum ebenso eine Geschichte wie jede andere auch, erfunden oder nicht. Man sollte jedoch wissen, dass sich eine solche Geschichte, sowohl während der Niederschrift als auch danach, zwangläufig gängigen Geboten des Aufbaus sowie des Ablaufs der Handlung entziehen wird, was das Recht des Autors auf sprachliche Freiheiten, grammatikalische Improvisationen und metaphorische wie syntaktische Kunststücke logischerweise miteinschließt. Dieses Recht beanspruche ich hiermit ausdrücklich.
Wer also auf gewohnte, alltagstaugliche Syntax und Morphologie nicht verzichten will, der möge sich Fachliteratur, Reportagen, Reise- oder sonstigen Tatsachenberichten in den entsprechenden Foren, Büchern, Tageszeitungen und Illustrierten zuwenden und hoffen, dort genügend Realität und Ernsthaftigkeit geboten zu bekommen. Hier wird er diese nicht finden.

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Sie hat sich also für den frühen morgigen Nachmittag angekündigt, was bei ihr praktisch jeden Zeitpunkt zwischen Mittag und fünfzehn Uhr bedeuten kann. Sie gab an, es ginge um eine spezielle Übung, die sie während unserer letzten Unterrichtsstunde nicht richtig verstanden hatte, die sie liebend gerne und so schnell wie möglich beherrschen wolle, weil sie ihr so gut gefiel, und weil sie mir damit eine Freude machen wolle, und ich würde doch bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie mich außerhalb des üblichen Unterrichts beanspruchen würde, entsprechende Vergütung – sie verwand tatsächlich diesen Begriff! – selbstverständlich inbegriffen.
Sie, Henriette, ist die knapp zwanzigjährige Tochter einer (ursprünglich) entfernten Bekanntschaft meiner Gattin, deren (später) Lebenszweck wiederum weitgehend im Schließen und der Pflege ebensolcher Bekanntschaften besteht, blieben sie auch noch so entfernt. In diesen Zeiten technisch mühelos zu verwaltender Adress- und Telefondateien widmet sich meine Frau nämlich täglich mehrere Stunden lang der fantasievollen Verwaltung bzw. Nutzung ihres Mailkontos sowie des umfangreichen Angebots ihres Smartphones.
Aber dies nur am Rande.
Die Freundschaft zwischen jener Bekannten und meiner Frau wurde jedenfalls enger, als nämliche Bekannte einen Gitarrenlehrer für ihre Tochter suchte und meine Frau (aus für mich nur teilweise nachvollziehbaren Gründen) mich vorschlug. Zwar ist es richtig, dass ich seit Jahrzehnten mit Leidenschaft Gitarre spiele und auch eine gewisse Qualifikation erreicht habe; ein Lehrer bin ich jedoch nicht. Ich habe, abgesehen von freundschaftlichen Tipps und ungeduldigen, bisweilen ungehaltenen Anweisungen gegenüber Gleichgesinnten, niemals irgendeine Art von Unterricht erteilt, ja nicht einmal selbst genossen. Meiner Erfahrung nach geht mir jegliches pädagogische Geschick ab, welches dafür nötig ist, gar nicht zu reden von charakterlichen Eigenschaften wie Geduld sowie einer gewissen Demut, über die ein Lehrer vermutlich verfügen sollte. Als überzeugter Autodidakt sehe ich überdies mit milder Verachtung auf die Lehrtechniken der professionellen Gitarrenschulen herab, soweit sie mir denn bekannt sind. Als gewichtigsten Grund für meine ablehnende Haltung muss jedoch genannt werden, dass ich schlichtweg keine Lust hatte.
Also zeigte ich mich tagelang abwechselnd widerspenstig und offen abweisend, was auf meine wie stets die Problematik völlig ignorierende Gattin allerdings ähnlich geringen Eindruck machte, als wenn ich versucht hätte, ihr die Quantenphysik zu erklären. (Nicht, dass ich dies könnte.) Doch auch ihr sarkastischer Hinweis, dass es durchaus angebracht wäre, wenn ich auch einmal ein wenig Geld zur Haushaltskasse beisteuern würde, ließ mich zu ihrer wachsenden Verärgerung nicht einknicken. So besann sie sich schließlich auf ihre bewährte Taktik: Einwände, wann immer ihr diese nicht in den Kram passen, einfach zu ignorieren und so zu verfahren, wie ihr der Sinn steht. Wonach ihr der Sinn stand, erfuhr ich einen Tag später zwischen Tür und Angel, nämlich, dass sie ihre Bekannte nebst Tochter für den Abend zwecks eines Vorgesprächs über Inhalt, Verlauf sowie Ziel des Gitarrenunterrichts eingeladen hatte. (Immerhin hat sich mich vorab darüber informiert, dass sie den Unterricht quasi schon bestätigt hatte, soviel muss ich ihr zugestehen.)
Nun bin ein kein ausgesprochen willensstarker Charakter. Ich neige dazu, unter energischem, dauerhaftem Druck nachzugeben. Um dennoch irgendwie im Gleichgewicht zu bleiben, verfüge ich zum Glück über einen funktionierenden Intellekt sowie genug Fantasie, um jenen Abteilungen meines Gehirns, welche für Reflektion zuständig sind, entsprechende Ausreden und Rechtfertigungen zur Verfügung zu stellen, damit diese wiederum ein stabiles Konstrukt aus Beschwichtigungen und Sachzwängen errichten können. Wie sich jedoch herausstellte, war dies im vorliegenden Fall überflüssig, denn schon nach einem flüchtigen Blick auf meine zukünftige Schülerin erübrigte sich nicht nur jedwede Ausrede, sondern ließ eine solche geradezu obsolet erscheinen.
Sie ist eine Wucht. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte, versuchte ich sie ausführlicher zu beschreiben. Sagen wir einfach, sie hat von allem das Beste, abgesehen vielleicht vom Fehlen eines Schmollmunds etwa einer Angelina Jolie, und auch ihre Füße, mit den merkwürdig unproportionierten Zehen, den extrem kurz gehaltenen Nägeln und dem stark gekrümmten Rist, der eine Nuss aufnehmen könnte, erinnern daran, dass es Vollkommenheit selbst (oder gerade?) in Träumen nicht gibt, und wohl auch nicht in der Wirklichkeit. Allerdings überschreitet sie, würde man versuchen, ihr Aussehen auf einer Skala von Null bis Einhundert auszudrücken, mühelos die neunziger Marke. Selbst die Farbe ihrer Fingernägel passt zu den Steinen ihrer Ohrringe und ihrer Halskette, und ihr ganzer Auftritt lässt vermuten, dass sie einen halben Tag zum Anziehen braucht und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit mindestens ein Abendessen mit allem Drum und Dran in einem Nobelrestaurant kostet.
Ihre Mutter erläuterte, dass Henriette schon vor ein paar Jahren einige wenige Unterrichtsstunden erfolglos hinter sich gebracht und sich mit dem Lehrer nicht verstanden hatte, und obendrein durch die Schule zu sehr in Beschlag genommen war. Nun aber möchte sie gerne wieder mit der Musik beginnen, die sie im Übrigen sehr lieben würde. (Obendrein hielt die Mutter das Spielen eines Instruments für eine den Charakter bildende Maßnahme.) Also vereinbarten wir erst einmal einen ein halbes Jahr dauernden Unterricht, mit jeweils einer, gegebenenfalls zwei wöchentlichen Stunden. Ich habe tatsächlich nie danach gefragt, welchen Preis sie für die einzelnen Stunden zu entrichten gedenkt. Überdies war es mir egal, denn meine wahre Vergütung ließ sich ohnehin nicht in Zahlen ausdrücken; das Geld würde sowieso meine Frau kassieren. (Mein gegenwärtiges Leben verläuft ansonsten in gleichförmiger Langeweile, ich habe Zeit im Überfluss, und in meinem separaten Kellerstudio – meiner privaten Klause – würden wir ungestört sein.)
Man denke übrigens nicht, dass mir gleich zu Beginn von einem möglichen Techtelmechtel träumte. Obwohl beileibe kein klassischer Aufreißer, bin ich immerhin ein gut erhaltener End-Fünfziger mit normalen Instinkten und Sinnen, und der Leser wird bestimmt verstehen, dass ein Zusammensein mit einer solchen Prachtfrau nicht nur eine wunderbare, sondern auch sinnvolle Ablenkung vom täglichen Einerlei darstellt, auch wenn solch ein Zusammensein nicht in eine Affäre münden sollte. Augen, Ohren und Nase wollen ebenso zufrieden gestellt sein wie andere Teile des Körpers (und können auch unabhängig voneinander für angenehmen Zeitvertreib und unverbindliches Entzücken sorgen).
Nun, der Unterricht ließ sich gut (und in mancherlei Hinsicht vielversprechend) an. Meine Schülerin ist zwar nur mäßig talentiert, aber wenigstens nicht begriffsstutzig, wenn ich auch rasch bemerkte, dass sie ihre Schwierigkeiten mit den Fingerübungen offensichtlich übertrieb, sodass – damit? – ich ihr vermehrt körperliche Hilfestellungen geben musste, meine Hand also die ihre auf dem Hals der Gitarre zu führen hätte. Zu diesem Zweck setzte ich mich ihr zu Anfang gegenüber, nahm aber bald darauf, als sich, wie von mir erwartet, nur zähe Fortschritte zeigten, dicht hinter ihr Platz.
Ah, wie sie roch! Wie weich ihre Haut war! Es konnte nicht ausbleiben, dass meine Wange des Öfteren die ihre berührte – ich machte auch keine Anstalten, dies zu verhindern –; und nicht nur, dass sie nie zurückzuckte, sie schien sie mir auch hin und wieder ganz wie eine Katze zu schnurren! Dass ihr jenes Schnurren nicht zu offensichtlich entschlüpfte – sie gab sich übrigens nie übertrieben kokett –, lag an folgendem: Zu meiner Unterrichtsmethode gehört, dass ich dem Schüler möglichst rasch vollständige Lieder zum Begleiten und Singen beibringe. Meiner Ansicht nach erlernt man das Instrument auf diese Weise schneller, freudiger und damit müheloser. (Dazu kommt, dass der Schüler dem neugierigen respektive misstrauischen Kostenträger rascher Ergebnisse vorweisen kann. Noten und dergleichen würden irgendwann später folgen; die meisten Leute haben ohnehin keine Ahnung davon und verzichten nur allzu gern auf Fragen danach, wenn sie ein ganzes Lied vorgetragen bekommen und davon beeindruckt sind.)
Henriette jedenfalls war von dieser Art des Unterrichts augenscheinlich begeistert und suchte sich als Einstieg Every Breath You Take aus (wie passend!), dem rasch weiteren ähnlich anspruchslosen Schmachtfetzen folgen sollten. Ich bin kein unbedingter Anhänger dieser Art von Wohlfühl-Liedern; meine Führstimme direkt hinter ihrem Ohr wie meine Hand auf der ihren entschädigten mich jedoch mehr als genug für die Provokation meines empfindlichen Musikergemüts, und es war offensichtlich, dass meine sanfte Stimme in ihrem Gehörgang ihr eben jenes Schnurren ermöglichte, das mich so entzückte. Nach ungefähr einem Vierteljahr waren wir bei gefühlvolleren Liedern wie Lay Lady Lay – in G-Dur; ein Barré-Griff sollte für den Anfang genügen – sowie Abschiedsküsschen auf die Wange angekommen.
Inzwischen war es Sommer geworden, und meine Schülerin hatte durchaus (musikalische) Zugewinne zu verzeichnen – wenn auch nicht ihre Bekleidung. Nun, das kann man betrachten und bewerten, wie man will. Mir genügte der Anblick ihrer langen, bloßen Beine und Arme und des tiefen Ausschnitts, auf den sie sichtlich – und mit Recht! – stolz war. Natürlich haben wir schon bald miteinander geflirtet, jedoch auf eine spielerische, ironische Art, die zu nichts verpflichtet. Überdies erzählte sie mir häufig von ihrem aktuellen Freund – ein Wunder, wenn so ein Geschöpf keinen Freund gehabt hätte! –, meist bevor er sie nach einer Unterrichtsstunde mit dem Motorrad abholte. Ihre Erzählungen hatten zu meiner Verblüffung jedoch etwas Vages, Routiniertes, manchmal sogar ein klein wenig Herablassendes, was zugegeben meinerseits das Vergnügen an unseren Flirts eher noch steigerte. Also genoss ich und wartete in der Zwischenzeit einfach ab, als sie sich außerplanmäßig für den frühen morgigen Nachmittag ankündigte. –

Trotz ihrer durchaus überzeugenden Begründungen für die Notwendigkeit einer Extrastunde glaubte ich ihr kein Wort. (Mal ehrlich: hätten Sie dies?) Auf jeden Fall habe ich genug Zeit, um mir eine Strategie im Umgang mit der Tatsache zurechtzulegen, dass sie mich während der letzten Unterrichtsstunde vor zwei Tagen überraschend auf den Mund geküsst hatte, mit Zunge. Zu diesem Zweck erscheint es mir geboten, die Ereignisse, welche dazu geführt haben, nochmals zu rekapitulieren, auch wenn ich dabei die eine oder andere Schwierigkeit einkalkulieren muss, wie zum Beispiel meine Fantasie zu zügeln, die häufig mit mir durchgeht, wenn mich etwas bewegt und meine Sinne berührt – also beim Thema Frauen, um die Sache beim richtigen Namen zu nennen. In diesem Zusammenhang musste ich ebenso des Öfteren erfahren, dass mein Erinnerungsvermögen mit jedem erotisch aufgeheizten Tag und jeder schwärmerisch durchträumten Nacht an Schärfe verliert, gleich dem Objektiv einer Kamera, das – zufällig oder absichtlich – vom Fotografen derart eingerichtet ist, dass es lediglich das erwählte Motiv scharf zeichnet und alles andere im erweiterten Blickfeld bestenfalls verschwommen. (Zum besseren Verständnis – und um eine Analogie zu bemühen – müsste mein Gehirn also die Kamera sein; wer oder was aber der Fotograf? Mein Unterbewusstsein? Mein Bauchgefühl? Etwa mein Penis?)
Wie dem auch sei – die Stunde meiner Prüfung schlug am Ende eines gewöhnlichen, typischen Nachmittags im Juli, heiß und ereignislos, so recht zum Faulenzen oder Davonlaufen, je nach Gusto und Veranlagung. Ich hatte mich wie immer auf die Stunde gefreut, die für achtzehn Uhr angesetzt war. Meine Kellerklause ist der kühlste Raum weit und breit, und ich hatte mich in der letzten Stunde mit zwei eisgekühlten Bieren sowie zwei entsprechenden Wodka-Lemon in Form gebracht. Für meine Schülerin hatte ich eine Karaffe gefüllt mit Calimocho vorbereitet, ihr angebliches Lieblingsgetränk. Eine Dusche, Haare föhnen und kunstvoll verstrubbeln, Rasierwasser, Deodorant, und dann werfe ich mich – alles in schwarz; meine Lieblingsfarbe, und, wie ich denke, dem Anlass angemessen – in eine dünne, halblange Sommerhose sowie ein Hemd, das ich bis knapp über dem Bauchnabel aufknöpfe, auch weil ich keinen Grund habe, meine Brustbehaarung zu verbergen, stolz wie ich auf sie bin.
Zu meiner Überraschung erscheint sie ausnahmsweise pünktlich, und für eine Sekunde lang macht sich eines jener mulmigen Gefühle in meinen Eingeweiden breit, welches in der Regel auf bevorstehendes Ungemach hindeutet. Wie ich sie jedoch entzückt von oben bis unten mustere, schenke ich dem keine Beachtung mehr. Sie trägt eine höchstens drei Hand breite, schwarze Shorts, sowie ein ärmelloses schwarzes T-Shirt, das locker an ihrem Oberkörper hängt (soweit dies ihre enormen Brüste zulassen.) Dazu trägt sie Badelatschen an den bloßen Füssen, die sie sofort in eine Ecke kickt. Obwohl auf ihrem Rücken deutlich die Träger eines BHs zu sehen sind, kann man Form und Ausmaße ihrer Brüste mühelos erkennen, und ich frage mich, was für eine Art BH dies wohl sein mag. Ich bin da kein Experte.
Wir machen es uns zuerst auf der Couch in meiner Sitzecke gemütlich, rauchen und tratschen ein wenig; sie trinkt ihr erstes Glas Calimocho und ich ein weiteres eiskaltes Bier. Sie scheint mir (wie stets) gut gelaunt zu sein, vielleicht ein klein wenig zurückhaltender als sonst, obwohl sie sich eifrig an unserem lustigen Wortgeplänkel beteiligt. Bald gehen wir zu den Stühlen hinüber und beginnen mit einem neuen Lied, Suzannezwei Barré-Griffe –, von dem es heißt, es lasse Frauen jeder Herkunft und jeden Alters schwach werden. Als wir jedoch Akkorde sowie Rhythmik üben, scheint sie mir nicht ganz bei der Sache zu sein, und so nehme ich früher als üblich meine erprobte, spezielle Hilfestellung ein. Wie ich sie frage, was los sei, ob etwas nicht stimme, antwortet sie lediglich mit einem leisen Seufzer, dreht ihren Kopf zu mir und legt diesen etwa eine Sekunde lang auf meine Schulter. Ich könnte schwören, dass ihre Augen feucht schimmern, wie sie den Kopf plötzlich wieder anhebt und mich leicht auf den Mund küsst. (Ich verneige mich vor dem Komponisten von Suzanne.) Dies geschieht so rasch, praktisch in einer Bewegung, dass ich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht mehr hätte ausweichen können. Verblüfft, überwältigt, verunsichert und entzückt, wie ich gleichzeitig bin, beschließe ich, den Moment einfach nur zu genießen, ohne mich zu rühren, obwohl mir alle möglichen Beschäftigungen durch den Kopf schießen, von Mundarbeit über den Missionar bis zum Cowgirl. Der Kuss konnte ja nicht lange dauern; jede Sekunde musste sie sich von mir lösen und irgendeine Erklärung oder Entschuldigung stammeln (oder schnurren, je nach dem). Als sie jedoch weiter auf meinem Mund verharrt – ich habe keine Ahnung wie lange, wahrscheinlich waren es ganze Minuten! –, öffne ich eben meine Lippen und suche ihre Zungenspitze, finde sie (oder sie die meine), und den Rest mag sich der Leser denken.
Na schön. Der eine oder andere vorwurfsvolle Gedanke erreicht mich schon während des Schreibens, also will ich wenigsten noch hinzufügen, dass die Küsse bestimmt eine Viertelstunde gedauert und ich mich mit eiserner Selbstbeherrschung von ihren Brüsten wie ihrem Hintern ferngehalten habe (was sie mir, wie ich hoffe, hoch angerechnet haben müsste). Irgendwann steht sie auf, haucht Ich muss gehen und verschwindet auf einen Rutsch, ohne sich nochmals umzusehen, und ich blicke noch minutenlang wie ungläubig und, zugegeben, erregt wie selten auf ihre Badeschlappen in der Ecke.
Und nun – habe ich die Prüfung bestanden?
Von welcher Art war diese, und war es überhaupt eine solche? Ich habe das Gefühl, dass mir diese Sache vollständig über den Kopf wachsen könnte, und trotzdem freue ich mich unbändig auf morgen. Dann wieder hämmern eine Unmenge Gedanken an meine Synapsen, fast alle drehen sich darum, was morgen passieren könnte (oder was nicht) oder…verdammt, es war doch sie, die um die Stunde gebeten hatte! Und dabei klang sie fröhlich, neckisch und bestimmt – aber warum dann die Ausreden? Denn das sind sie doch offensichtlich, oder? Oder? Vielleicht war alles nur Spaß, ein kindisch-jugendlicher Ulk, und sie kommt gar nicht! Zuzutrauen wäre es ihresgleichen bestimmt – aber was weiß ich schon! Ich kenne sie eigentlich gar nicht; ich weiß beinahe mehr über ihren Freund als über sie selbst!
Wie viel Verantwortung muss denn jemand wie ich für seine Fantasien übernehmen?
Schon gut, schon gut, ich hab verstanden: Der Stein des Anstoßes sind in diesem Fall nicht die Fantasien, es ist deren Umsetzung in die Tat! Junges Ding und alternder Möchtegern-Casanova! Lolita-Komplex und Torschlusspanik! Aber dies erscheint mir nun wieder heuchlerisch, unlogisch und albern zugleich; als entsprängen nicht zahllose gute, schöne, wertvolle, ja auch anständige Dinge der Fantasie, um sie danach mit der gebührenden Unschuld und Ernsthaftigkeit in die Tat umsetzen zu können! Ein Kuss ist doch lediglich ein Kuss und kaum der entrüsteten Aufregung wert (nun gut, es waren schon ein paar mehr!). Was denn, wenn ich nun einfach Lust und Gelegenheit habe, noch mehr zu küssen, so verbindlich wie nötig und so unverbindlich wie möglich? Wenn ich mich nun noch einmal verliebe, oder mich schon (wieder) verliebt habe? Wenn ich –

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Ich habe mir ein paar Dinge von der Seele geschrieben – eher aus dem Bauch (oder tiefer, werden manche sagen) –, die mir bedeutsam erschienen, und nun, da ich sie vor mir geschrieben sehe, sind sie es schon nicht mehr. Seltsam, denkst Du, lieber Leser? Verschroben? Besorgniserregend? Nun, ich verspüre keine Lust auf entsprechend tiefschürfende Erläuterungen, bei denen wer weiß was ans Tageslicht kommen könnte. Im Übrigen: Warum sollten mich Verständnis und Mitgefühl der Leser zu diesem Zeitpunkt meines Lebens überhaupt noch kümmern?
Einen Rat, geschätzter Leser, will ich dennoch erübrigen: Hör Dir wieder einmal Lay Lady Lay sowie Suzanne an. Solltest Du diese Lieder bislang nicht gekannt haben (oder es nicht für nötig halten, sie zu kennen), so fürchte ich, lieber Leser, dass ich nichts weiter für Dich tun kann.
Abschließend verweise ich auf die Einleitung zu diesem Text. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass in einem Land, welches sich zunehmend auf abschließbare (Straßen-) Mülleimer versteift, achtundvierzig Stunden wirkende Deodorants anpreist und vermeintlich jede Person, die sich einen vage fundamentalistisch anmutenden Bart wachsen lässt, neuerdings mit staatsbürgerlicher, rechtsstaatlicher, legislativer Aufmerksamkeit überschüttet, auch die Psychoanalytiker und Traumdeuter mit Vorsicht zu genießen sein dürften.

2021
 

onivido

Mitglied
Wow, Gerold Senftle. Das ist das einzige das mir einfaellt , um meiner Bewunderung Ausdruck zu geben. Nicht alle Tage liest man eine Geschichte mit so viel Wortgewandtheit geschrieben und ausserden sogar noch mit einem verstaendlichen Inhalt.
Beste Gruesse///Onivido
 
Wow, Gerold Senftle. Das ist das einzige das mir einfaellt , um meiner Bewunderung Ausdruck zu geben. Nicht alle Tage liest man eine Geschichte mit so viel Wortgewandtheit geschrieben und ausserden sogar noch mit einem verstaendlichen Inhalt.
Beste Gruesse///Onivido
Ein Lob, das ganz besonders wohltut (und für das ich mich herzlich bedanke), beinhaltet es doch die Wertschätzung an der Freude am Umgang mit der Sprache und dem freien Spiel der Fantasie - im Gegensatz zu der häufigen Mahnung, möglichst einfache und kurze Sätze zu verwenden -, ohne die die Geschichte nicht geschrieben worden wäre.
Grüße, Gerold
 



 
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