Erkentnisse

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AZI

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Um 4:30 klingelte der Wecker. Völlig verschlafen öffnete Ahanit die Augen, zwar war der Alptraum nicht zurückgekehrt, doch wirklich erholsam war der Schlaf auch nicht mehr gewesen. Es nütze nichts, sie musste aufstehen und während sie sich noch im Halbschlaf über den Wecker beschwerte, drang langsam in ihr Bewusstsein, welch ein großer Tag heute war.

Wenn alles gut ging, würde sie am Ende des Tages wissen, was die Träume bedeuteten.
Etwas verschlafen ging sie in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein und ging anschließend ins Bad.
Sie wusste, sie hatte nur eine Dreiviertel Stunde, um sich fertig zu machen und alles vorzubereiten.

Um 5.16 begann die Dämmerung. Das Frühjahrsäquinoktium, oder auch Tag und Nacht Gleiche genannt, war der Tag des Jahres, an dem der Sonnengott sich, von Todesschlaf und Wiedergeburt erholt, anschickte, erneut die Macht über den Himmel zu übernehmen. Im alten Ägypten brachte dieser Tag die lebenswichtige Nil Überschwemmung mit sich, und sorgte damit für das Überleben und auch für den Reichtum Ägyptens. Die Söhne des Sonnengottes, die Pharaonen, begingen diesen Tag mit rituellen Zeremonien, die Fruchtbarkeit und Aufstieg bedeuteten. Doch auch die Lösung von Problemen und Geheimnissen nahm nam an diesem Tag in Angriff, denn viele Probleme und Sorgen stauten sich in der Zeit der Dürre.

Somit war der 21.März der ideale Tag, ihr Problem mit den Alpträumen zu lösen.

Wie es in früherer Zeit üblich war, sprach sie den Segen über Natron und Wasser, ehe sie sich damit wusch. Auch wenn man es nicht für möglich hielt, so war ihre Haut doch viel gesünder geworden, seit sie auf das chemische Zeug verzichtete. Das Natron machte die Haut weich und geschmeidig und die nach alten Rezepturen selbst hergestellten Salben aus Fett und frischen Kräutern taten ihr Übriges.

Nach gründlicher Reinigung und sorgfältigem Eincremen zog sie ihren Bademantel über und ging in die Küche. Der Kaffee war mittlerweile durchgelaufen und sie stellte ihn auf ein Tablett. Am Abend zuvor hatte sie ein paar Küchlein gebacken aus Mehl, Eiern, Datteln und Honig, die sie nun dem Ofen entnahm, in dem sie zugedeckt gestanden hatten, holte Milch aus dem Kühlschrank und stellte beides ebenfalls auf das Tablett.

Mit dem Tablett ging sie zum Altar und stellte es neben diesem auf den Boden. Aus einer Schublade nahm sie ein spezielles Geschirr, feines weißes Porzellan mit breitem kobaltblauem Rand, auf dem goldene Sterne prangten . Dazu noch eine goldfarbene Schale. Sie stellte das Service auf den Altar, so dass Tasse und Untertasse auf dem Teller standen, dadurch ergab sich beim Blick von oben der Eindruck eines Sternenhimmels, was im übertragenen Sinne für die Himmelsgöttin Nut stand, auf deren Rücken der Sonnengott tagsüber fuhr, um die Erde zu erhellen. Die goldene Schale symbolisierte den Sonnengott selbst und Ahanit stellte sie direkt vor das Räuchergefäß. Den Kelch, an dessen Stelle nun das Service stand, legte sie in die Schublade. Noch einmal ging sie in die Küche, denn sie hatte die Blumen auf dem Tisch vergessen, welche nun den Altar schmücken sollten. Sie trennte die Blüten ab und nahm sie mit zum Altar, um sie dort zu verteilen. Nun war alles soweit vorbereitet, sie musste sich nur noch anziehen.

Im Gegensatz zu den neumodischen Magieformen kannte das Ägyptische keine unbekleideten Rituale. Vielmehr war ein reinweißes oder aber farblich auf die Gottheit abgestimmtes Kleid üblich. Ahanit hatte sich eines genäht, aus weißem Leinen, leider nicht sonderlich knitterfrei , wie sie feststellte, denn egal, wie oft sie es bügelte, ständig waren wieder Knitter drin. Naja, so schlimm werden ein Paar Knitter schon nicht sein, sagte sie sich und zog es an.

Zurück beim Altar blickte sie auf die Uhr, 5:13, noch drei Minuten, ehe die Dämmerung einbrach.

Sie entzündete ein einzelnes Teelicht, und hielt dann Räucherkohle an die Flamme. Die Kohle begann zu bitzeln und zischen, als der Selbstzünder sich entflammte. Ahanit blies noch ein wenig Luft zu, ehe sie die Kohle in das Räuchergefäß legte, wo sie langsam von selbst zu glühen begann.

Die Dämmerung begann und mit ihr das Ritual.

Zuerst wandte sie sich gen Norden, der die Dunkelheit repräsentierte, die Himmelsrichtung, in der die Sonne niemals stand.
"Oh Hapi, Pavianköpfiger Sohn des Horus, Hüter der nördlichen Winde, ich rufe dich, mich in diesem Ritual zu schützen." Auch ein Unterschied zur modernen Magie. Das Altägyptische kannte keine Elemente, stattdessen wurden die Söhne des Horus, die Kanopengötter, gerufen, um ein Ritual zu schützen.

Ahanit drehte sich in Richtung Westen. Diese Himmelsrichtung stand für das Sterben und den Tod, da die Sonne dort unterging.
"Oh Qebsenuf, Falkenköpfiger Sohn des Horus, Hüter der westlichen Winde, ich rufe dich, mich in diesem Ritual zu schützen."

Dann wandte sie sich gen Süden, der Richtung des Lichts, hatte doch die Sonne im Süden ihren höchsten Stand und damit auch die meiste Kraft.
"Oh Amset, Menschenköpfiger Sohn des Horus, Hüter der südlichen Winde, ich rufe dich, mich in diesem Ritual zu schützen."

Zuletzt schaute sie gen Osten, wo auch der Altar stand. Erneuerung und Wiedergeburt des Sonnengottes waren die Dinge, für die diese Richtung stand.
"Oh Duamutef, Schakalköpfiger Sohn des Horus, Herr der östlichen Winde, ich rufe dich, mich in diesem Ritual zu schützen."

Ahanit trat an den Altar heran.
"Wie ich aus einer kleinen Flamme das Licht der Kerzen entzünde, so entzündet das kleine Feuer, das die Dunkelheit erhellte, nun die Sonne in ihrer ganzen Pracht"
Während sie sprach, entzündete sie zuerst die beiden großen Kerzen und hernach die Teelichter im Kerzenständer mit einem Stück Holz.
"Ra, mein Vater, erhebe dich und lass aus kleiner Flamme mächtiges Licht werden."
"Ra, mein Vater, schenke uns das Licht, damit das, was im Dunkeln liegt, erhellt wird."

Sie nahm ein wenig Weihrauch, Drachenblut (ebenfalls ein Baumharz), und Styrax und gab alles in die Räucherschale. Die Harze zischten und mit dem roten Rauch stieg ein angenehm süßlicher Duft auf.

"So wie dieser Rauch sich lichtet, so lichte sich auch der Schleier, der über der Erkenntnis liegt. So wie die Süße meine Lungen belebt, so belebe das Wissen meinen Geist."

Ahanit kniete sich nun vor den Altar und nahm eine meditative Haltung ein. Sie leerte ihren Geist, um ohne eigene Gedanken zu sein, denn ein altes ägyptisches Sprichwort sagte:
"Wenn du ständig redest und denkst, wie willst du dann die Götter hören".
Eine ganze Weile verharrte sie in der Meditation, ohne dass was geschah, doch dann kam es plötzlich über sie.

Projekt Seelenfänger, schwere Komplikationen bei den Objekten 133 und 134.
Objekt 133 vollständig behandelt, Kontrollinstrumente eingesetzt, verstirbt im Laufe der Nacht.
Objekt 134 vollständig behandelt, Kontrollinstrument eingesetzt, schwere Abstoßungsreaktionen...

Völlig verwirrt riss Ahanit die Augen auf und kippte hintüber.
Was war das? Was hatte das mit ihren Alpträumen zu tun? Was war das Projekt Seelenfänger?

Ahanit merkte, dass sie Schweißgebadet war. Was immer diese Worte auch zu bedeuten hatten, sie hatte auf jeden Fall erfolgreich einen Zugang erhalten. Da das Ritual heute noch zwei mal wiederholt werden musste, ließ sie es bei diesem kryptischen Ergebnis erst einmal bewenden.

Sie schüttete Kaffee in die Tasse des Porzellangeschirrs und gab ein Küchlein in die goldene Schale.
"Ra, mein Vater, ich danke dir für das Licht, das du schenktest, die Schleier zu lüften. Nimm diese Opfergabe an, auf dass dein Feuer noch stärker brenne."
Kaffee zählte zwar nicht zu den klassischen Opfergaben, doch Ahanit war der Meinung, dass das, was man selbst gern verzehrte, als Opfer gerade gut genug war und wenn es etwas gab, was sie gerne mochte,dann war das Kaffee.
Noch ein wenig Weihrauch und Styrax auf die Räucherkohle gebend, verneigte sich vor dem Altar.
"Ra, mein Vater, so gehe ich nun, da dein Angesicht die Erde erhellt, doch kehre ich wieder, wenn du die Mitte des Himmels überschreitest, auf dass in der klaren Sonne auch der letzte Schatten verfliegt."

Sie nahm das Tablett und ging nun in ihr Wohn/Schlafzimmer. Sich des Kleides entledigend, dachte sie weiter über die Vision nach. Projekt Seelenfänger hörte sich irgendwie nach einem wissenschaftlichen Experiment an, doch was hatte das bloß mit dem Mann zu tun, der ihr so oft im Traum das Schwert in den Bauch rammte?
Irgendwie hatte das Ganze mehr Fragen aufgeworfen, als es beantwortete. Was soll's, der Tag war noch lang und es konnte noch viel passieren, was den Schleier lüften könnte.
Sie kleidete sich in ein schwarzes T-Shirt und eine warme Leggings, holte sich eine Tasse und einen Teller aus der Küche, und begann zu frühstücken...

Nach dem Frühstück schaltete Ahanit den Computer ein. Vielleicht konnte sie im Internet etwas über das Projekt Seelenfänger herausfinden. Nach Aufsuchen der üblichen Verdächtigen, Google, Yahoo und Co, kam sie jedoch zu dem Schluss, dass das nicht der richtige Ansatz war.

Der Begriff Seelenfänger kam in Tausenden von Romanen, Geschichten und auch Computerspielen vor, daneben gab es noch eine ansehnliche Zahl von Esoterik, Hermetik und Schwarz Magischen Seiten, die den Begriff enthielten.
Der Versuch, Seelenfänger gepaart mit Experiment zu suchen, brachte genauso viel Ergebnis, so dass sie frustriert aufgab.

Sie überlegte sich, ob sie nicht das Projekt beim Mittagsritual mit einer schamanischen Reise ergründen sollte, anstelle der Meditation. Vielleicht erfuhr sie über Bilder mehr als über die reinen Worte?

Um 11:45 Uhr begann Ahanit mit den Vorbereitungen des zweiten Rituals im Zyklus, Opfer vorbereiten, das alte Opfer vom Morgen entfernen und die Utensilien reinigen.
Das Porzellangeschirr kam wieder in die Schublade und der Glaskelch erhielt seinen Platz zurück. Die goldene Schale verblieb auf dem Altar.

Dann reinigte Ahanit sich selbst mit Wasser und Natron und kleidete sich erneut in das weiße Leinenkleid. Pünktlich 12:30, denn als Anbeterin des Sonnengottes wusste sie, dass der so genannte Mittag nicht wirklich der höchste Stand der Sonne war, sondern er sich nach Jahreszeit verschob, stand sie vor dem Altar und begann erneut, den Sonnengott zu rufen.

Sie rief die Söhne des Horus, sprach zu den Flammen und dem Rauch, wie auch am Morgen schon, doch anstatt erneut die Meditationshaltung einzunehmen, legte sie sich dieses mal auf den Boden, den Kopf zum Altar mit einem kleinen Kissen darunter.

Sie wollte dieses Projekt sehen, zwar hatte sie vorher schon schamanische Reisen zu den Träumen erfolglos durchgeführt, doch nun hatte sie ja eine Art Codewort, das sie leiten sollte, anstatt einfach in der Gegend rum zu suchen.

Ahanit schloss die Augen und beruhigte ihren Geist, indem sie zuerst einmal eine einfache Atemübung vollzog. Dabei folgte ihr Geist dem Atem auf dem Weg in den Körper und dann den Energiebahnen, die aus dem Atem gespeist wurden.

Als sie ruhig genug war, leitete sie ihren Geist in den Tunnel, ein übliches Symbol für den Übergang von dieser Welt in die Zwischenebenen von Raum und Zeit.
"Projekt Seelenfänger, Projekt Seelenfänger,..." wiederholte sie eine Weile für sich selbst, damit der Geist den richtigen Weg fand.

Auf einmal sah sie Licht am Ende des Tunnels und unversehens fand sie sich in einem nur spärlich beleuchteten Kellergang wieder. Nackte Glühbirnen hingen von der Decke, die Verkabelung entsprach garantiert nicht der DIN Norm, der Gang war grau, schmutzig und irgendwie roch es nach altem erloschenem Feuer.

Nicht gerade das, was Ahanit erwartet hatte. Heute Morgen hatte es sich nach wissenschaftlichen Experimenten angehört, entsprechend hatte sie eigentlich irgendwie Klinik-Atmosphäre erwartet,
Und jetzt war sie in einem schäbigen Kellergang...

Sie ging den Gang entlang und fand am Ende eine alte brüchige Holztür. Dahinter war ein Gemurmel zu hören. Jemand sagte etwas, doch sie konnte es nicht genau verstehen. Es schien, als wäre sie nun nicht mehr weit vom Ziel entfernt und wollte schon voller Erwarten durch die Tür treten, doch als sie die Tür berührte, spürte sie auf einmal einen grauenvollen Schmerz.

Ahanit krümmte sich, und als sie versuchte, aufzublicken, war die Kellertür verschwunden. Sie stand in einem kleinen, dunklen Raum, der von einer Fackel erhellt wurde, und in dem auf einem wundervoll verzierten Podest eine goldene Statue stand. Darüber erhob sich die goldene geflügelte Sonne.

Der Schmerz er war unerträglich und sie merkte, dass sie sich den Bauch hielt. Ahanit sah an sich herunter und entdeckte das Blut, das zwischen ihren Fingern hindurch sickerte. Auch wenn sie das nie in ihrem Alptraum gesehen hatte, wusste sie, dass sie hier die Fortsetzung des Traumes erlebte.

Ahanit drehte sich um und erfasste, dass sie sich im Heiligsten eines ägyptischen Tempels befand, im Naos, dem Gemach des Sonnengottes, dem dieser Tempel geweiht war. Aus der Tür, die zum Naos führte, hinausblickend, zeigte sich die grauenvolle Szene eines Schlachtfeldes, und die Priesterinnen und Priester waren die Opfer. Wer nur wagte es, einen Tempel zu schänden. War Ägypten von Fremden angegriffen worden, oder war der Pharao gestürzt worden, die Priesterschaft würde nie einem falschen Pharao die Würde des Sonnengottes verleihen...
Sie wusste, sie würde nie erfahren, weshalb man den Tempel zerstörte.

Ihre Lider waren schwer, der unerträgliche Schmerz ließ sie zusammensacken und dann wurde es dunkel um sie herum.

Plötzlich blendete sie ein grelles Licht und während sich ihre Augen noch daran gewöhnten, hörte sie, wie man zu ihr sprach:
"Ahanit Sat Ra, Tochter des Sonnengottes, Hüterin des Allerheiligsten. Ihr verlangt Einlass in das Reich der Toten?"
"Osiris, Herr der Totenwelt, ich stehe vor Euch, geleitet von Isis und Nephthys, den Hüterinnen der Toten, gebunden in die Leinen des Anubis, ging ich den Weg gen Westen, euch zu bitten, meine Seele gegen die Feder der Maat zu wiegen. Ich habe mein Leben Ra geweiht und immer in Maat gelebt, meine Seele ist rein wie die Feder der Maat. Wird dies bewiesen, so bitte ich um Einlass in das Duat, das Reich der Toten, um ewig zu leben für Ra meinen Vater, Herrn und Gott. Doch sollte ich Schuld auf mich geladen haben und meine Seele zu leicht sein, so akzeptiere ich das Urteil des Gerichtes, meine Seele Amaunet der Seelenfresserin vorzuwerfen, auf dass ich niemals wiederkehren kann, weder in der Welt der Toten, noch der Lebenden."

Ahanit hörte die Worte aus ihrem eigenen Mund und hatte das Gefühl, sie selbst dereinst gesprochen zu haben, doch irgendwie erschien ihr die Szene unwirklich.
Sie sah, wie man ihre Seele auf die Wagschale legen wollte, doch in der Sekunde zerriss sie ein erneuter Schmerz. Die Seele wurde fortgerissen und mit ihr sie selbst. Ein Strudel erfasste sie, sie versuchte sich zu halten, doch sie hatte keine Chance. Ihr letzter Eindruck war, dass auch die Götter verwirrt warenüber das Geschehen. Nein, das war eindeutig nicht normal. Und dann...
War es wieder dunkel..

Ein Pochen war zu hören, wie Herzschlag, und dann fühlte sie ein Pressen und Zerren. Ahanit bekam Panik, versuchte zu schreien, doch erst gelang es nicht, die Schreie blieben stumm, es war als hätte sie keine Luft zum atmen. Weiteres Pressen und Zerren. Jemand zog an ihrem Kopf, an ihren Armen...
Sie öffnete die Augen und erkannte, dass sie gefangen war. Gefangen im Körper eines Babys. Sie versuchte Nein zu schreien, sich zu wehren, zu sagen, dass sie zurück wollte, einkehren in das Duat, dass das, was hier geschah, falsch war, doch heraus kam nur der unartikulierte Schrei eines Babys...

In der Sekunde kehrte ihr Geist zurück ins Jetzt . Und sie hörte sich schreien und spürte, dass ihre Wangen feucht waren von Tränen.
"Nein, das kann nicht sein, das ist unmöglich, niemand kann eine Seele zwingen, in einen neuen Leib zu gehen"
Ahanit spürte immer noch die Schmerzen des Schwertes und die der gewaltsamen Reinkarnation.

"Niemand kann eine Seele zwingen, und warum sollte man das auch wollen"
Selbstverständlich war ihr das Konzept der Reinkarnation bekannt, doch erfolgte diese immer freiwillig, bzw. durch den Weg, den eine Seele ging, vorherbestimmt. Aber eine gewaltsame Rückkehr? Welch ein grauenvoller Akt sollte dies möglich machen?
Doch so sehr sie sich auch bemühte, das Erlebte als Ausdruck ihrer Phantasie hinzustellen, so wusste sie doch in ihrem Innersten, dass es die Wahrheit war. Sie war gezwungen worden, zurückzukehren.

Ahanit konnte sich nur mühsam bewegen, alles tat weh, doch ehe sie sich vollends der Erinnerung und dem Leid hingeben würde, ehe sie die Gefühle überwältigten, vollendete sie das Ritual mit der Opferung und dem Abschied...

Dann ging sie zu ihrem Bett. Sie war zu fertig, das Kleid auszuziehen und so legte sie sich einfach hin und ergab sich dem Schmerz, in Physe und Psyche.

Ein grüner Raum war um sie herum, in der Mitte zwei Tische, auf denen festgeschnallt zwei Kinder lagen. Zwei Mädchen, eines etwa sechs oder sieben, das andere vielleicht drei oder vier, beide hatten aschblondes Haar, die gleichen Stupsnäschen und dieselben graublauen Augen. Unverkennbar, diese Mädchen waren Schwestern.
Und sie hatten Angst, grauenvolle Angst. Ein paar Männer in Kitteln und mit Mundschutz machten sich an ihren Köpfen zu schaffen, die an einer Stelle rasiert waren. Die Mädchen wimmerten vor Angst, riefen nach ihrer Mutter.
Was die Männer taten, konnte Ahanit nicht genau erkennen. Sie stand auf der anderen Seite des Raumes und aus irgendeinem Grund kam sie nicht von der Stelle.
"Mami ist ja da", hörte sie aus dem Mund einer Frau, die neben ihr stand.
"Keine Angst, meine Lieben, es ist bald vorbei und dann könnt ihr stolz sein, denn ihr helft, die Freiheit der Welt zu erhalten. Ihr werdet Heldinnen sein."
Die Szene bekam etwas Surreales, sie verschwamm, Ahanit erwachte.

Verschlafen versuchte sie, sich an alles zu erinnern. Die Stimme, sie kam ihr bekannt vor, es erschien ihr fast, als wäre es dieselbe gewesen, die sie auch hinter der Tür gehört hatte, am Mittag, ehe sie den Schmerz spürte, der sie fortriss.

Ahanit wurde bewusst, dass sie eine Schleuse geöffnet hatte, und dass der Zugang zu den Erinnerungen nicht länger an das Ritual gebunden sein würde. Einzig die richtigen Stichworte musste sie finden, um auch gezielt auf diese Informationen zugreifen zu können. Und das bedeutete, dass sie genau definieren musste, um nicht wieder ihren eigenen Todeskampf und die Schmerzen der Reinkarnation erleben zu müssen.

17:30 Noch hatte sie Zeit, Sonnenuntergang war um 18:39, also schaltete sie den Computer an und begann, sich genaue Notizen zu machen. Um herauszufinden, wie und warum das Ganze geschehen war, es sie derart quälte, musste sie versuchen, einen besseren Überblick zu erhalten. Sie erstellte zwei Zeitlinien, auf die sie in Stichworten das bisher Gesehene einordnete. Noch war es nicht viel, einmal altes Ägypten, und der Keller, es fehlten ihr genaue Anhaltspunkte für den Zeitraum, doch die Aussage mit der Freiheit der Welt hörte sich wie Krieg an, die Instrumente, die Kleidung der Menschen im Keller ließ auf das 20jh schließen, so dass sie kurzerhand ab 1901 als Basis nahm. Sie hoffte, dass sich das von selbst klären würde, wenn sie mehr Informationen hatte.

Aus den Stichworten formulierte sie dann das Ziel für das abschließende Ritual. Sie wollte wissen, wie die Kinder mit dem Seelenfänger zusammenhingen. Irgendwo musst es eine Verbindung geben, denn in einem war sie sicher, sie selbst war es nicht, die im Keller lag, doch gleichzeitig war sie diejenige, die die Seele erhalten hatte, oder war sie die Seele und hatte den Körper erhalten? Ein verwirrendes Konzept, das sie zu diesem Zeitpunkt lieber nicht formulieren wollte.

Kurz und prägnant hatte ein Code zu sein, mit dem man auf Reisen ging. War er zu lang, könnte es zu Verwicklungen führen, weil nur ein Teil vom Unterbewusstsein aufgenommen wurde, war er zu kurz, erreichte sie ggf. gar nichts, zumindest nicht das, was sie erreichen wollte.

Da die Kinder in einem Keller gewesen waren und man eindeutig etwas mit ihnen vor hatte, dezimierte sie die Reisevorschrift kurzerhand auf "Die Kinder des Seelenfängers" in fester Überzeugung, dass derjenige, der etwas mit der Reinkarnation zu tun hatte, auch etwas mit den Mädchen machen würde. Hoffentlich war das prägnant genug.

Kurz nach 18.00 eilte sich Ahanit, das abschließende Ritual des Zyklus vorzubereiten. Sie spülte schnell Kelch und Schale, schmierte ein paar Brote für das Opfer sowie für sich selbst, und öffnete einen guten Wein.
Den Altar schnell wieder in Ordnung gebracht, reinigte sie sich noch ein wenig. Leider war das Kleid nun noch mehr verknittert, aber daran konnte sie jetzt nichts ändern.

Sie begann das Ritual pünktlich um 18:39 zum Sonnenuntergang. Die Eröffnung war die selbe, wie bei den anderen beiden Ritualen, was auf den ersten Blick langweilig anmutete, jedoch notwendig war, damit sie sich auf den eigentlich wichtigen Teil, die Suche, konzentrieren konnte.

Ahanit legte sich erneut auf den Boden, beruhigte sich mit der Atemübung und betrat im Moment der größten Ruhe den Tunnel.

"Die Kinder des Seelenfänger, Die Kinder des Seelenfänger,..."
Schon nach kurzer Zeit sah sie wieder das helle Licht am Ende des Tunnels. Doch anstatt im Gang zu landen, war sie in dem grünen Zimmer, das sie am Nachmittag bereits im Traum gesehen hatte. Doch der Raum war bis auf die Liegen und einen unscheinbaren Schrank leer, kein Mensch war zu sehen. Hatte sie vielleicht den Code falsch gewählt?

Im Gegensatz zur Traumsequenz war sie dieses Mal in der Lage, sich zu bewegen und sie nutzte das aus, um sich in dem Raum einmal näher umzusehen. Vielleicht konnte man ihn irgendwie identifizieren.
Der Raum war fast quadratisch und in zwei verschiedenen Grüntönen gestrichen. Das dunklere Grün war am Boden zu finden, sowie bis zur halben Höhe der Wände. Ein helleres Grün bildete den oberen Teil der Wände und die Decke.
Das dunkle Grün schien eine Art Lackfarbe zu sein, glatt, glänzend, gut abwaschbar . Wäre eine bessere Lampe und eine ordentliche Tür in dem Raum gewesen, wäre er ideal für einen OP Raum.
Wie Ahanit bereits am Mittag festgestellt hatte, bestand die Tür aus alten morschen Brettern. Von der Decke baumelten, wie schon im Kellergang, nur nackte Glühbirnen.
Dominant waren die beiden nebeneinander stehenden Liegen, die die Mitte des Raumes einnahmen. Auf einer einfachen Metallkonstruktion mit feststellbaren Rollen waren Bretter befestigt, die mit einem Lederbezogenen Polster versehen waren. Am Polster waren mehrere Ledergurte angenäht, die sich mit Schnallen schließen ließen.

Links neben der Tür stand ein Schrank, der ebenfalls grün gestrichen war. Er hatte vier Türen, wobei die oberen durchsichtig waren. Ahanit sah viele Instrumente, wie sie in der Chirurgie verwendet wurden, Tücher, Medikamente...
War das hier vielleicht doch ein Operationssaal?

Als sie um die Liegen herumging, entdeckte sie einen Tisch an der Wand gegenüber der Tür. Dadurch, dass er etwas niedriger war als die Liegen, war er von der Tür aus nicht zu sehen gewesen.
Erst dachte Ahanit, es sei wohl ein kleiner Beistelltisch, doch es stach ins Auge, dass er im Gegensatz zum Rest des Raumes schwarz war. Er hatte eine kleine Schublade unter der Tischfläche, soweit sie erkennen konnte.

Sie ging hinüber zum Tisch, um ihn genauer zu betrachten. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass auf dem Tisch ein Tuch lag, ein schwarzes Tuch mit einer silbernen Stickerei. Doch erst, als sie fast davor stand, erkannte sie, was diese feinen silbernen Linien bedeuteten. Auf dem Tuch waren mehrere magische Symbole eingestickt. Ein Doppel-Pentagramm, ein Doppel-Hexagramm, der kabbalistische Lebensbaum, verschiedene andere Symbole und magische Quadrate.
Nein, das hatte eindeutig nichts in einem Operationssaal zu suchen, passte jedoch zum Seelenfänger, denn wie anders, als auf magische Weise, hätte es auch funktionieren sollen.

Plötzlich waren aus dem Kellergang Geräusche zu hören. Ahanit drehte sich um und blickte zur Tür. Dabei entdeckte sie über der Tür eine Uhr. Nach der war es 15.00. Sie hatte das dumme Gefühl, dass man sie hier nicht sehen sollte, andererseits war sie hier auf einer schamanischen Reise, wie könnte man sie da sehen.
Doch ihr war klar, dass hier ein magisch Begabter am Werk war und es kam durchaus vor, dass solche die Anwesenheit von Besuchern wahrnahmen.

Da der Schrank zur seitlichen Wand eine Lücke aufwies, beschloss sie, sich dorthin zu begeben. Im Schatten würde selbst ein gut ausgebildeter Schamane sie nicht entdecken.

Das Türschloss ging, die Tür öffnete sich. Ein Mann und eine Frau traten ein.
"Hier werden wir das Ganze durchziehen.", sagte er zu ihr.
"Das sieht ja aus wie ein Operationssaal, die Kinder werden Angst haben."
"Die sollen sich nicht so anstellen. Außerdem bist du dabei, um sie zu beruhigen."
Die beiden waren nun weit genug in den Raum getreten, so dass Ahanit sie sich ansehen konnte. Die Frau war wohl Mitte bis Ende 20, trug einen weiten Rock mit einem leichten Petticoat darunter. Das dunkelblonde Haar war relativ kurz und mit Locken versehen, die garantiert nicht Natur waren. Nach modernen Maßstäben war die Frau dicklich, doch wenn Ahanit sich so die Kleidung anschaute, musste sie wohl in den 50ern sein und für diese Zeit hatte die Frau Idealmaße. Als sie sich zur Seite drehte, um die Liegen zu umrunden, konnte Ahanit ihr Gesicht sehen. Und da wurde ihr klar, diese Stupsnase, war die selbe wie bei den Mädchen, das musste die Mutter sein...
Also irgendwie kam die Frau ihr bekannt vor, vom Vergleich mit den Kindern abgesehen.
Der Mann war älter , Mitte dreißig, Anfang vierzig schätzte Ahanit. Sein Gesicht war hart, als er die Frau mit dem Blick verfolgte. In den Augen schwelte jedoch ein Feuer. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Hatte die blonden Haare militärisch kurz.

"Warum unsere Kinder? Ich weiß, es ist für den Frieden, gegen die Kommunisten, aber kannst du nicht andere Kinder dafür nehmen?"
"Jetzt hör mir mal zu, Edeltraud, den Kindern wird schon nichts passieren. Sie werden ein paar Tage Kopfschmerzen haben und du musst sie drinnen behalten, bis die Haare nachgewachsen sind, aber das ist auch schon alles."
Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm.
"Ich weiß, das alles ist nicht einfach für dich und ich bedaure es sehr, dass es keine Möglichkeit gibt, mich als Vater der Mädchen einzutragen, aber es ist sicherer so, würden sie meinen Namen tragen, wäre die Gefahr viel zu groß, dass man sie mit dem Projekt in Verbindung bringt.
Ja, es ist schwer für dich, als alleinstehende Frau zwei Kinder zu haben, doch sobald die Wunden verheilt sind, werdet ihr alle drei nach Amerika gebracht. Sie werden ein schönes Leben haben und nur die beste Ausbildung genießen. Was könntest du dir mehr wünschen?"
"Nur, dass es einen anderen Weg gibt.", sagte sie still und konnte kaum die Tränen zurückhalten.
"Du hast recht, die Freiheit der Welt wiegt mehr, als die paar Minuten Angst. Rita und Elisabeth sind stark, sie werden darüber hinweg kommen."
"Mach dir nicht so viele Sorgen, wir haben bereits über 130 Eingriffe dieser Art vorgenommen. ES WIRD gut gehen."

Irgendetwas an dem Dialog machte Ahanit stutzig, sie kam nur leider nicht darauf(Komma) was es war. In dem Moment wurde die Szene surreal, verschwamm immer mehr und Ahanit erwachte wieder vor dem Altar.

Eigentlich hatte sie gehofft zu sehen, wie man den Seelenfang durchgeführt hatte, doch auch diese Informationen waren schon sehr aufschlussreich. Immerhin wusste sie nun, dass sich das Ganze in den 1950ern abgespielt hatte, die Mutter der Kinder Edeltraud hieß und sie die Kinder unverheiratet, also allein durchbrachte. Ahanit stellte sich das vor, in einer Zeit zu leben, wo die Moralvorstellungen der Kirchen noch ausschlaggebend waren. Heutzutage war eine aleinerziehende Frau kein Drama, aber in den Fünfzigern war das eine Katastrophe . Selbst wenn sie in der Stadt gelebt hätte, wäre sie eine Außenseiterin, fast eine Aussätzige gewesen. Flittchen dürfte da noch eines der harmloseren Schimpfworte gewesen sein. Ja,Ahanit konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese arme Frau unter der Moralvorstellung der damaligen Welt gelitten haben musste.

Ahanit stand auf, vollzog Opfer und Dank und ging dann mit den restlichen Broten und Wein zu ihrem Bett, das ihr auch als Couch diente.
Also irgendetwas kam ihr an dem Dialog komisch vor. Und die Frau, Edeltraud, irgendwoher kannte sie sie, ob sie vielleicht schon mal ein Bild von ihr gesehen hatte??

Ahanit stand auf, um in der Küche ein wenig Wasser zu holen. Sie trank kaum Alkohol, und deswegen wollte sie sich den Schluck Wein mit Wasser verdünnen. Auf dem Weg in die Küche stolperte sie über irgendetwas. Um nicht zu fallen, hielt sie sich am Bücherregal fest, das dadurch ein wenig wackelte.
Von ganz oben fiel auf einmal ein Kasten herab. Das Plastik des Kastens brach und hunderte von Fotos verteilten sich auf dem Boden. Alte Fotos, Aus der Kindheit ihrer Mutter..
Ahanit bückte sich und ihr Blick fiel auf ein Foto ihrer Großmutter. Aber das war doch die Frau in dem Keller, deswegen war sie ihr so bekannt vorgekommen. Und nun wurde ihr auch klar, was ihr am Dialog so komisch vorgekommen war, Rita und Elisabeth. Der Name ihrer Mutter war Rita, und sie hatte eine Schwester gehabt, die schon als Kind verstarb. Ahanit wusste es nicht mit Bestimmtheit, doch sie glaubte(Komma) deren Name war Elisabeth.
Aber das hieße, dass ihre Mutter und ihre Tante die Objekte 133 und 134 waren....

Ahanit vergaß das Wasser, auf den Schock musste sie erst einmal was trinken und da kam ihr der Wein pur eindeutig als die bessere Wahl daher.
 



 
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