Erwartung

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Shallow

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Der Gastgeber steht vor dem Grill, die Schürze spannt über seinem Bauch, die Zange hält er in der rechten Hand, links eine Flasche. Seine Frau sitzt am Gartentisch in einem Kleid mit Blumenmuster, an den Füßen Sandalen. Das gefüllte Glas vor ihr ist unberührt. Der Rasen ist frisch gemäht, auf der Terrasse sind Pflanzen in verschieden großen Töpfen platziert, eine Gießkanne steht am Rand. Der Schlauch an der Fassade des Hauses ist auf eine Kunststoffhalterung gewickelt. Ein Sonnenschirm bewegt sich leicht im Wind, der Rauch des Grills lässt den Gastgeber blinzeln. Schweiß perlt auf seiner Stirn. Eine Mücke landet auf seiner Wade. Der Gast hat Shorts an, sein Polohemd nasse Flecken unter den Achseln. Er hat ein Bein über das andere geschlagen, die Leinenschuhe sind beige. Vor ihm steht ein Glas mit einer Flüssigkeit. Durch die Streuung des Lichtes am Nachmittag wirkt der Himmel blau, Wolken sind nicht zu sehen. Der Gast setzt eine Sonnenbrille auf, die einen Rahmen aus Titan hat. Drei Teller stehen auf dem klappbaren anthrazitfarbenen Tisch, der heiß ist. Daneben liegt das Besteck aus einer Chrom-Nickel-Legierung. In der Mitte steht eine Schale aus Keramik mit Salat. Eine Ameise läuft am Rand des Tisches.
„Schön hier“, sagt der Gast.
Der Gastgeber nickt. Seine Frau auch. Die Ameise hat die Schale erreicht.
 
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N. Valen

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Ein Text wie ein unbarmherziger Sommertag: alles liegt offen, alles ist sichtbar – und doch bleibt das Entscheidende unausgesprochen. Die Präzision der Sprache, die Detailversessenheit der Beschreibung, die beinahe entleerte Atmosphäre – all das schafft eine Spannung, die nicht durch Handlung, sondern durch das bloße Nebeneinander von Dingen und Menschen entsteht. Es ist ein Stillleben, das nicht still ist.

Der entscheidende Satz „Schön hier“, gesprochen nach minutiöser Aufzählung der Umgebung, wirkt fast wie ein Hohn – oder wie die letzte mögliche Kontaktaufnahme in einer Welt, die bereits im Zerfall begriffen ist. Die einzige Bewegung mit Ziel scheint von einer Ameise auszugehen. Der Rest: Stillstand, Formalität, vielleicht Leere.

„Erwartung“ ist keine Geschichte im klassischen Sinne. Es ist ein Moment – aber ein Moment, der trägt, der sich einbrennt. Und der lange nachwirkt.

N. Valen
 

Shallow

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Hallo @N. Valen,

herzlichen Dank für deine Einschätzung! Zumindest meine Intention hätte ich besser nicht beschreiben können. Ein Stilleben, wie ein Hockney-Bild als Text, mit möglichst wenig Bewegung und den einzig gesprochenen Satz als Kontrapunkt. Ob das intereressant ist, steht vermutlich auf einem anderen Blatt, aber deine Zeilen machen Mut, vielen Dank dafür! (Sollte ich jemals einen Klappentext gebrauchen, würde ich dich gern anfragen!)

Einen schönen Abend wünscht

Shallow
 

N. Valen

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Lieber Shallow,
danke für deine Worte – sie haben mich lächeln lassen.
Das Bild, das du gemalt hast – still, konzentriert, klar umrissen – hat für mich genau diesen Reiz: Es spricht ohne Bewegung, mit all dem, was ungesagt bleibt.
„Schön hier“, sagst du. Ich finde, ja: Das ist es.
Und wenn es irgendwann einen Klappentext braucht – ich wäre sehr geehrt.

Herzliche Grüße
N. Valen
 
Hallo Shallow,

der Text hat etwas, trotzdem sind mir ein paar Unstimmigkeiten aufgefallen.

Der Gastgeber steht vor dem Grill, die Schürze spannt über seinem Bauch, die Zange hält er in der rechten Hand, links eine Flasche.
Wenn er keine Hand frei hat, wie hebt er dann den Deckel vom Grill hoch?


Seine Frau sitzt am Gartentisch in einem blumigen Kleid und Sandalen.
Was ist ein „blumiges" Kleid? „Ein Kleid mit Blumenmuster" würde sprachlich besser klingen.

Das gefüllte Glas vor ihr ist unberührt.
Kann nicht sein, sonst wäre es nicht gefüllt. Sie hat es vielleicht nicht berührt.

LG SilberneDelfine
 

Ubertas

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Lieber Shallow,
mit deinen Worten geht es mir so, als würde ich länger und länger auf eine Postkarte blicken. Erst nehme ich die groben Umrisse wahr, dann bleibt mein Blick haften, ich suche nach einer Mimikry. Nachdem die Ameise die Schale erreicht, weiß ich, ich bin nicht im Film, nicht auf einer Postkarte und gewiss nicht mehr innerhalb der Fassade.
Ich gebe dem Text mindestens fünf Sterne und nochmal fünf plus für die Freilegung der Erinnerung an diesen Text.
Da steht kein blubb-blubb.

Das ist hervorragend.
Lieben Gruß ubertas
 
Hallo Shallow,

ich wollte noch etwas hinzufügen. Auch wenn deine Intention vielleicht eine andere war (ein Stillleben, das nicht still ist), ich finde es interessant, wie du eine Atmosphäre schaffst. Es ist tatsächlich so, als betrachte man ein Bild, das man vielleicht kaufen will und studiert genau, was darauf zu sehen ist.
Sehr schön gemacht.

LG SilberneDelfine
 

Shallow

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Hallo @SilberneDelfine,

Wenn er keine Hand frei hat, wie hebt er dann den Deckel vom Grill hoch?

Warum sollte er? Es gibt viele Möglichkeiten, warum der Grill (vorausgesetzt er hat überhaupt einen Deckel) in der Momentaufnahme offen ist. Zumal der Gastgeber eine Zange in der Hand hat, also aus meiner Sicht etwas beabsichtigt, was nur im offenen Zustand möglich ist. Ich denke, das Bild ist stimmig und sehe da keinen Handlungsbedarf.

Was ist ein „blumiges" Kleid? „Ein Kleid mit Blumenmuster" würde sprachlich besser klingen.

Stimmt, ist besser und passt auch stilistisch sehr schön! Habe ich überarbeitet.

Kann nicht sein, sonst wäre es nicht gefüllt. Sie hat es vielleicht nicht berührt.

OK, ein bisschen spitzfindig, aber nicht falsch. Bei einem Getränk von "unberührt" zu reden, ist m.E. aber sowohl gebräuchlich, als auch verständlich (im Sinne von "Es ist noch nicht daraus getrunken worden"). Jedes Glas ist berührt worden, schließlich hat es jemand gefertigt, verpackt, verkauft etc. Ich denke trotzdem darüber nach.

Danke für deine Gedanken und schönen Gruß

Shallow
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Ubertas,

vielen Dank für deine Zeilen und Einschätzung! Das geht natürlich runter wie Öl; ich würde lügen, wenn ich etwas anderes sagen würde und freue mich außerordentlich, dass du den Text magst und er bei dir angelandet ist. Ich denke, das würde jedem Autoren so gehen.

Einen schönen Abend und beste Grüße von

Shallow
 



 
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