Es ist schon wieder Herbst.

5,00 Stern(e) 1 Stimme

mortisha

Mitglied
Die Bäume, die an der Strasse stehen behaupten das jedenfalls. Es ist Zeit, sich in ein Cafe zu setzen und darüber nachzudenken, was du letzten Herbst getan hast. 20er Jahre-Bossa-Chillout. Das Licht, das von irgendwo am Himmel kommt, tut so, als hätte es keinen Sommer gegeben und du weißt, es wird regnen. Nach den Tagen, an denen es morgens so neblig ist, dass die Straßenlaternen Milch verströmen, aber sicher kein Licht, wird es die Tage geben, an denen es regnet. Und du wirst zum tausendsten Mal die Strasse hinuntergehen und dein Spiegelbild in den Pfützen zertreten und froh sein, dass es wieder Herbst ist. Du warst einfach im Sommer zu glücklich zum Schreiben. Weißt du noch? Echot es hinter den Augen gegenüber, wenn sie lächeln, weißt du noch, was du letzten Herbst getan hast? Und wie wenig dich die Zukunft interessiert hat, genau vor einem Jahr, an meinem Geburtstag, weißt du noch. Je belangloser sich die Gegenwart ausbreitet, in deinem Mund, in deinem Kopf und, viel wichtiger, in deinen Händen, desto interessanter macht es sich aus, darüber nachzudenken, was du getan hast. Oder was du tun wirst, in einem Jahr oder in zehn. Du sitzt dann in diesem Cafe, schaust den Menschen zu oder nicht und denkst darüber nach, was passiert ist. Mein Gott, denkst du, wenn mir das jemand erzählt hätte, denkst du, das hätte ich niemandem geglaubt. Schau an, wo ich stehe, denkst du. Es ist schon wieder Herbst und ich bin immer noch hier, ich trage dieselben Schuhe, ich bin immer noch hier. Aber es ist doch gut, denkst du und trinkst einen Schluck Kaffee, dass ich nicht der bin, der ich war. Es ist Herbst und wenn du genug darüber nachgedacht hast, was vor einem Jahr war, letzten Herbst, welche Platten du gehört hast, wohin du mit dem Fahrrad gefahren bist und was dich fast umgebracht hätte, dann irgendwann stehst du auf und gehst. Dann gehst du aus dem Cafe, auf die Straße zwischen die Bäume, die Jahreszeiten inszenieren, als bekämen sie's bezahlt, aber du weißt, dass das Unsinn ist und gehst einfach an ihnen vorbei. Und du überlegst nicht, was du nächsten Herbst machst. Du gehst die Straße hinunter zum Bus.
 

Andrea

Mitglied
8 von 10 Punkten

Dein Text gefällt mir richtig gut: er ist flüssig geschrieben und daher gut zu lesen und er verknotet so viele Gedanken, daß sich ein komplexes Mosaik bildet. Schade, daß er so kurz ist, obwohl ich befürchte, wenn man ihn länger macht, macht man ihn damit nicht unbedingt besser.
 

mortisha

Mitglied
Re: 8 von 10 Punkten

vielen dank. das rätsel des schreibens - also die leserin -
zu lösen, also sie zu erreichen wird irgendwann wichtig, wenn du schreibst. und es ist heilsam zu wissen, dass mein herbst sich mit anderen deckt... ;-)
mort*
 

mortisha

Mitglied
herbst

dein herbst? oder im allgemeinen?
LE: vielen dank für jeglichen zuspruch. bin ziemlich begeistert von deinen texten... bleibe am ball...
mort*
 
L

LE

Gast
Hallo mortisha,

"...Das Licht, das von irgendwo am Himmel kommt, tut so, als hätte es keinen Sommer gegeben und du weißt, es wird regnen. Nach den Tagen, an denen es morgens so neblig ist, dass die Straßenlaternen Milch verströmen, aber sicher kein Licht, wird es die Tage geben, an denen es regnet. Und du wirst zum tausendsten Mal die Strasse hinuntergehen und dein Spiegelbild in den Pfützen zertreten und froh sein, dass es wieder Herbst ist. Du warst einfach im Sommer zu glücklich zum Schreiben. ..."

Mein herbst oder im allgemeinen? Ich empfinde etwas, von dem ich vermute, daß es das ist, was mehr ist, als nur mein herbst zu sein. Keinen querschnitt durch alle vorstellungen von herbst; (das wäre das banale klischee) nein, den kern, dieses gefühl; jedes jahr gefühlt.
Kein mensch empfindet wie der andere. Aber eigentlich sind wir schon nach einem "ursprungsbauplan" gemacht.
In was mich deine geschichten und gedichte (die ich hier gelesen habe) hineinziehen, ist dieses unendlich tröstende aufblitzen, wirklich nicht abgeschnitten und 100% individuum zu sein. Ein kribbeln. Mehr kann literatur nicht erreichen.
Also mein herbst und der herbst im allgemeinen. Oder:
Das ist der herbst.
 

mortisha

Mitglied
genau...

<In was mich deine geschichten und gedichte (die ich hier gelesen habe) hineinziehen, ist dieses unendlich tröstende aufblitzen, wirklich nicht abgeschnitten und 100% individuum zu sein. Ein kribbeln. Mehr kann literatur nicht erreichen.>

du hast so unglaublich recht! schön, das mal in worte gefasst zu sehen, was da chemisch passiert, wenn man einen text liest, der wirklich berührt. und das ist so magisch, dass ich einen text schaffen kann, der so etwas bei jemand anders auslösen kann. wow.
mort*
 



 
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