Evolution einer Wiese

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Evolution einer Wiese

Ich verliebe mich mehrmals im Jahr in den Fensterausblick. Aus dem großen Küchenfenster eröffnet sich der Blick auf unseren Innenhof, der hinten in eine Wiese übergeht. Es ist immer wieder der Fall, dass ich morgens früh, nachdem ich den ersten Blick aus dem Fenster geworfen habe, gleich alles stehen und liegen lasse und mit meiner Kamera auf den Hof renne. Seit vielen Jahren lässt die Begeisterung nicht nach. Ich fotografiere den Hof aus allen Winkeln, vom Holzhaufen oder vom Kirschbaum aus, von hinten und von vorne, schräg und gerade, im Stehen und im Liegen sowie „im Kopfstand".

Im Frühjahr ist das ganze Gelände voller Kirschbaumblüten. Im Herbst verfärbt sich alles in ein intensives Gelb. Im Winter liegt der Hof, mit ein bisschen Glück, unter der weißen Schneedecke. Mal ist die Grünfläche mit Reif bedeckt. Mal ist alles mit Nebel überzogen. Die Wiese stand auch schon mal unter Wasser, vom vielen Regen überflutet. Die Sonnenaufgänge sind einfach unbeschreiblich.

Fenster haben wir mehr als genug, im Haus und in den Nebengelassen. Die Meisten davon sind selbstverständlich mit außenliegenden Sprossen versehen. Das „begeistert“ mich beim Putzen wieder und wieder. Das große „Panoramafenster“ in der Küche putze ich dagegen gern. Das Bild muss perfekt sein. Mein Fleiß wurde schon mit Komplementen belohnt: „…als ob dort kein Glas wäre…“. So übertreibe ich aber mittlerweile immer seltener.

Der Weg zur „Perfektion“ war lang und wurde zum Ziel. Der ganze Hof war richtig aufgewühlt. Die alte Jauchegrube aus Beton samt unbrauchbare Bauten mussten wortwörtlich weg vom Fenster. Der Hof brauchte dringend Licht und Luft.

Hinter der vielen Arbeit verlief die Zeit wie im Fluge. Die Wiese wucherte. So schnell konnten wir uns nicht umsehen. Schon standen die Unkräuter bis an die Knie. Auf einer Baustelle durfte logischerweise nur ein Bauleiter, mein Mann, sein. Meine von vornherein als fehlerhaft betrachteten Vorschläge fanden keinen fruchtbaren Boden. Meine beste Hälfte wollte unbedingt eigene Fehler machen. Die „clevere Bürste“, ich, musste erst einmal nachgeben.

Und so durften wir alle Mähgerätschaften von klein bis groß kennenlernen. Eine stinkeinfache Sense kam als erstes zum Einsatz. Die Menschheit wusste sich damit Jahrzenten lang zu helfen. Wir waren eine Ausnahme. Aus meinem Mann ist bedauerlicherweise kein professioneller „Sensenmann“ geworden. Erst nachdem wir mit der andauernd stumpfen, billigen Sense genug gespielt haben, wurde die Motorisierung in Betracht gezogen.

Mit Schwung ließ sich die ganze Wiese schnell abmähen. Das Heu wurde, wie es jeder Großstädter so kennt, auf ein schnell zusammengeschustertes Holzgestell gestapelt. Die Heuernte verlief bestens. Angesichts des Gelingens konnte man denken, dass wir keine Anfänger waren, sondern dies hier unser tägliches Brot wäre. Einen Haken gibt es wohl immer. Wir unterschätzten das Gewicht des frischen Heus. Die ausgedienten, nachgiebigen Holzsparren erwiesen sich als ungeeignet für solche Konstruktion. Die sich seit langem bewehrten Gesetze der Physik bekamen eine nochmalige Bestätigung. Die „Pyramide“ kippte irgendwann um.

Die Zeit lief gnadenlos schnell. Wir hatten Hände voll zu tun. Der Herbst wechselte den Sommer ab. Dem Herbst folgte der Winter. Unser Plan war, noch im selben Jahr einzuziehen. Der Plan ist aufgegangen. Wir zogen am 30. Dezember ein.

Der Winter brachte das Gefühl der Sauberkeit und Frische. Der Hof war schön zugeschneit. Abgesehen von solchen Unannehmlichkeiten wie das Schneeschieben freute sich das Auge über den tollen Ausblick sowie über die Glitzer auf dem Schnee an sonnigen und frostigen Tagen. Das war die Liebe auf den ersten Blick. Ich war andauernd mit meiner Kamera unterwegs. Ich durfte keinen Sonnenstrahl, kein Licht-Schatten-Spiel und keinen einzigen Diamanten ähnlichen Glitzer auf dem Schnee verpassen. Das war meine Welt, auch wenn der Weg zur „Perfektion“ erst eingeschlagen wurde.

Alle Jahre wieder… Ähnlich wie im ersten Jahr singe ich jeden Frühling die Ode der Liebe zu unserer Wiese. Ob jetzt schon ziemlich kultiviert oder damals noch verwildert begeistern mich die pure Natur und die Idylle. Ich komme mir wie im Paradies vor. Niemand pikst mich, damit ich wach werde. Das bezaubernde Gelbrot der Sonnenaufgänge im frühen Frühjahr fasziniert mich. Das intensive Blau des wolkenlosen Himmels fesselt meinen Blick. Das saftige Grün ist wunderschön. Das wird trocknen, aber erst später. Im Frühjahr erfreut sich meine Seele sogar über den Löwenzahn, der sich wie Feuer blitzschnell auf der Wiese verbreitet.

Der Höhepunkt jedes Frühjahrs ist das strahlende Weiß der blühenden Obstbäume, das Summen der Bienen und Hummeln an den Blüten und das fröhliche Singen der Vögel. Das Leben kann so unendlich schön sein.

An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich für das Verständnis meines Verwandten- und Freundeskreises zu bedanken. Die unzähligen Fotos werden von mir weiterhin in sozialen Netzwerken veröffentlicht, auch wenn sie nicht auf alle so berauschend wirken wie auf mich.

Zurück zu dem saftigen Grün. Im Frühjahr und am Anfang des Sommers kann man fast zusehen, wie das Gras wächst. Es gibt zwei Möglichleiten. Man wird zum Sklaven des Rasenmähers oder man schafft sich Schafe an, die fleißigen Helfer. Zur Schönheit der Wiese tragen Schafe bedauerlicherweise kaum bei. Egal wie niedlich die kleinen Lämmchen sind, hinterlassen Schafe im Allgemeinen viel Dreck. So schnell, wie sie Gras vernichten, scheiden sie genauso schnell die Produkte der Verdauung auf die Wiese aus. Dieses Zeug verrottet nie. Wenn man es etwas ansehnlicher haben will, nimmt man einen großen Eimer und sammelt vertrocknete Schafsköttel auf. Das war schon immer meine „Lieblingsbeschäftigung“.

Besorgniserregend ist die zunehmende Trockenheit in unserer Gegend. Brandenburg versteppt langsam. Es regnet im Sommer kaum. Man schleppt sich im Garten mit der Gießkanne ab. Bäume vertrocknen. Unser Wäldchen hat mittlerweile lichte Stellen. Ich nenne sie Ufo-Landeplätze.

Wenn endlich mal der lang ersehnte Regen kommt, erfreuen sich Mensch und Tier. Die Luft wird rein und stark ozonhaltig. Wir sitzen gewöhnlich auf der Treppe unter Überdachung und blicken in Richtung unserer Wiese. Der Regenbogen ist kein seltener Gast bei uns. Die Welt ist wieder in Ordnung.

Mein Mann war früher faszinierter Wildcamper im Zelt und sehnt sich immer noch manchmal danach. Die Zeiten und der Lebensstil ändern sich leider. Die Frau, echte Spielverderberin, teilt seine Begeisterung nicht. Das Equipment und die Wiese sind aber da. Wo ein Wille ist, ist auch ein Campingplatz. Und schon steht das Zelt auf der Wiese. Und schon schnarcht der Mann im Zelt… Die Kühe machten meinem Mann einen Strich durch die Rechnung. Dank dem Krach im naheliegenden Kuhstall war die idyllische Abenteuernacht gegen 4:00 Uhr in der Früh vorbei.

Der Kalender ist gnadenlos. Der Herbst schleicht sich wieder ran. Es ist jedes Mal sehr schade, dass der Sommer vorbei ist und dass die langanhaltende graue Zeit vorprogrammiert ist. Vor der trostlosen Zeit haben wir, mit etwas Glück, einen warmen September und einen goldenen Oktober. Auf den Altweibersommer ist auch jedes Jahr Verlass. Unsere Wiese erstrahlt in bunten Herbstfarben. Auch dieser Anblick ist für mich zum Verlieben. Ich finde keine Ruhe. Ich bemühe mich, den Zauber in Bildern festzuhalten. Die Wiese bekommt den ersten Frost ab. Der Kirschbaum verfärbt sich langsam gelb. Das Gelb des Laubes und das Blau des Himmels ist für mein Auge eine Farbkombination, die an Vollkommenheit grenzt.

Der richtige Winter ist seltener Gast bei uns. Die depressionsfördernde Zeit zieht sich über mindestens vier Monate. Man schmiedet die Pläne, wie man zumindest für drei Wochen der nassen Kälte entkommen könnte. Man träumt vom Urlaub in den warmen Ländern. Wir sehnen uns nach Südafrika. Das Coronavirus verdirbt uns erst einmal den Spaß.

Der Kreislauf des Lebens wird immer weiter gehen. Jedes Jahr im Frühling, spätestens, wenn der Kirschbaum wieder in Blüte steht, werde ich mich nicht mehr zurückhalten können. Meine Sinne werden erwachen und ich werde aufs Neue mit der Kamera in der Hand meine Liebe zu meinem kleinen dörflichen Paradies gestehen.
 
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