Evolution im Alltag

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petrasmiles

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Da war im Spätherbst, die Bäume hatten schon ihre Blätter abgeworfen, so ein Flattern, ein ständiges Kommen und Gehen am Dach eines entfernteren Nachbarhauses, und das erregte meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin und machte ein kleines Dachfester aus, das offenstand. Tauben hatten dies entdeckt und ein steter Flugverkehr - rein und raus - zeigte an, dass sie dort ihr Winterquartier bezogen hatten.
Über Monate blieb dieses Fenster geöffnet, den ganzen Winter hindurch.
Ich dachte, das wird niemand absichtlich gemacht haben, einen Taubenschlag richtet man doch auf dem Dach ein, und nicht darin. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es da wohl aussah. Den Hauseigentümer ausfindig zu machen, ist in städtischer Bebauung nicht möglich; was von der Straßenseite noch als einzeln abgeschlossene Häuser erscheint, geht in der Rückansicht in schwer abzugrenzende Reihenbebauung über, in der sich roter Backstein mit weiß getünchten Wänden abwechselt und eine Front bildet.
Eines Tages, bevor noch die Bäume ihr Blätterkleid wieder angezogen hatten, sah ich, dass viele Tauben das nunmehr geschlossene Fenster umflatterten. Das alte Fenster, das wohl kaputt gewesen war, war durch ein neues, größeres ersetzt worden und auch ein paar Dachschindeln waren ausgetauscht worden.
Anfangs saßen die Tauben noch auf dem First; abwechselnd flog eine zum Fenster, drei und vier weitere kamen hinzu, äugten und warteten. In unregelmäßigen Abständen erkundeten vier bis fünf von ihnen die Sachlage. Geduldig in Erwartung, dass es irgendwann wieder offen sein würde.
Jeden Morgen sehe ich sie, wie sie dieses Dach umflattern, das einmal ihre Heimat war, wo sie vielleicht geschlüpft sind, und wo sie wie magisch angezogen Einlass begehren.
Sie kommen immer wieder, und ich frage mich, wie lange noch?
 
Zuletzt bearbeitet:
Schönes Beispiel, liebe Petra, für die Entdeckungen, die man mit Geduld im Lauf der Zeit machen kann, wenn man seine reale Umwelt beobachtet.

Hier gab es ein Gegenbeispiel: Stockente fängt auf Nachbarbalkon (dritter Stock) mit Nestbau und Eiablage an, dabei zum Teil Verwüstung der Bepflanzung. Ich drohte nur mit dem Finger, erfolglos. Vielleicht wusste die Nachbarin Bescheid und tolerierte es? Dem war nicht so. Als sie ans Großaufräumen ging, suchte ich das Gespräch. Sie hatte den Vogel nicht mal gesehen und war von Taubeneinquartierung ausgegangen.

Schöne Wochendgrüße
Arno
 

Matula

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Na ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie wollen halt auch ein Zuhause mit Brutplatz haben. In Wien hat man ihnen in der Nähe des Hauptbahnhofs einen großen Taubenschlag eingerichtet. Dort gibt's auch artgerechtes Futter, was ihre Gesundheit verbessert. Ganz nebenbei werden regelmäßig klammheimlich einige Eier entfernt und gegen Kunststoffattrappen ausgetauscht. Ich frage mich, welche "evolutionären" Auswirkungen dieses Vorgehen zeigen wird. Vielleicht die Einsicht, dass man für gutes Futter auf Nachkommenschaft verzichten muss ...

Schöne Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

dieses Vorgehen der Stockenten ist nicht ganz nachvollziehbar - denn wie ich kürzlich las, ist zwar der Platz auf dem Balkon 'sicher', aber nur für die Brüterin. Die Brut ist gar nicht in der Lage, aus dieser Höhe ins Leben abzuheben und ihre Versuche enden meist unglücklich. Deshalb gibt es in Berlin so eine Art 'Enten-Taxi' einer Tierschutzorganisation, die einen Umzug organisieren. Was in diesen Entinnen-Köpfen vorgeht?
Meine Schwiegermutter hatte auch einmal diesen Besuch - im 8. Stock (Allende-Viertel in Köpenick), sie hat sie gewähren lassen; da wusste ich das mit der Brut noch nicht und ich weiß auch nicht, was daraus geworden ist. Auf jeden Fall kam die Ente nicht wieder - vielleicht dann doch etwas gelernt?

Dir auch noch ein schönes Wochenende!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Matula,

an Einsicht würde ich nicht gerade denken :) ob sie überhaupt bemerken, dass sie auf Kunststoff sitzen? Und ob sie überhaupt bemerken würden, ob sie weniger werden - oder mehr werden müssten? Das ist der Vorteil von Instinktsteuerung, sie können sich fühlen wie im Schlaraffenland - in Wien! Obwohl ... wie viel Bewusstsein braucht man dafür? Auf jeden Fall ein charmanter Zug der Wiener!

Liebe Grüße
Petra
 
Die Brut ist gar nicht in der Lage, aus dieser Höhe ins Leben abzuheben und ihre Versuche enden meist unglücklich.
Liebe Petra, dazu hatte ich dann auch gleich recherchiert und widersprüchliche Aussagen gefunden. Die Mehrheit entsprach dem von dir Dargelegten. Einige aber sehen doch gute Chancen zum Überleben und schildern auch die Techniken der Jungvögel beim Sturz in die Tiefe (der Mama hinterdrein) - geht aber nur bis zu einer gewissen Stockwerkhöhe. Einmal wurde ausdrücklich der 4. Stock als noch möglich genannt. Entscheidend sei in solchen Fällen vor allem, dass zwischen dem Landeplatz unten und dem nächsten Gewässer keine vielbefahrene Straße verlaufe. Ich fand auch genaue Anweisungen, wie man als Herbergswirt der Enten die gesamte Familie zum Wasser bringen könne; las sich ziemlich kompliziert.

Das Problem scheint gar nicht so selten zu sein. Neulich sah ich in der Berliner Zeitung eine Titelzeile zum Brüten von Enten auf Balkonen, der Beitrag war aber nicht gratis.

Liebe Grüße
Arno
 
Hallo Petra, Hallo Arno,
ich glaube, bei den Tauben hat das mit den Plasteeiern nicht so richtig gegriffen. Das sehe ich daran, was jetzt ständig auf meinem Fensterbrett los ist. Ständig ertönt Gurren und Flügelschlagen. Von der Scheiße nicht zu reden. Kaum einer mag Tauben. Sie sollen auch Taubenzecken verbreiten. Gegen Spätzchen bin ich dagegen nicht eingestellt. Leider kommen nur ihre größeren Verwandten. Die Härte ist ja, dass oben auf öffentlichen Gebäuden, wo sie immer sitzen, Scherben angebracht werden, damit sie sich die Füße zerschneiden. Das sind keine Mittel der Tauben Herr zu werden. Vielleicht mehr Bäume im Stadtbild. Da haben alle was davon. Auch die Berliner ohne Flügel. Gruß Friedrichshainerin
 

Matula

Mitglied
Guten Abend !

Ach, die Instinktsteuerung, was wissen wir schon darüber ? Sie scheinen jedenfalls ein ganz gutes Gedächtnis zu haben und können Portraitfotos vom Menschen auseinanderhalten.
Der Eierbetrug hat hierzulande Wirkung gezeigt: nur mehr zwischen 50.000 und 60.000 Exemplare auf rd 400km²; im mehr als doppelt so großen Berlin angeblich nur rd 19.000.

Schöne Grüße,
Matula

 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Petra, Hallo Arno,
ich glaube, bei den Tauben hat das mit den Plasteeiern nicht so richtig gegriffen. Das sehe ich daran, was jetzt ständig auf meinem Fensterbrett los ist. Ständig ertönt Gurren und Flügelschlagen. Von der Scheiße nicht zu reden. Kaum einer mag Tauben. Sie sollen auch Taubenzecken verbreiten. Gegen Spätzchen bin ich dagegen nicht eingestellt. Leider kommen nur ihre größeren Verwandten. Die Härte ist ja, dass oben auf öffentlichen Gebäuden, wo sie immer sitzen, Scherben angebracht werden, damit sie sich die Füße zerschneiden. Das sind keine Mittel der Tauben Herr zu werden. Vielleicht mehr Bäume im Stadtbild. Da haben alle was davon. Auch die Berliner ohne Flügel. Gruß Friedrichshainerin
Liebe Friedrichshainerin,
ich wollte eigentlich mal mehr die Perspektive der Tauben einnehmen.
In den letzten Tagen waren es nur noch drei, die auf dem First sitzen und äugen. Dass sie das Fenster anfliegen, kann ich nicht mehr sehen, weil jetzt ein dichtes Blätterkleid die Sicht versperrt, aber anhand der Flugrichtung mutmaße ich es. Was wohl mit den anderen ist?
Mich beschäftigt das. Wie man so schön sagt: Da fliegt man zum Mond, aber alle Geheimnisse hier unten haben wir noch nicht entschlüsselt.

Liebe Grüße
Petra
 

Sandra Z.

Mitglied
Hallo Petra,
ich glaube, die werden noch eine ganze Weile zu diesem Fenster kommen. Wir hatten mal ein Taubennest in einem Kirschbaum vor unserem Schlafzimmerfenster. Eines Tages wurden die Jungen von einem Raben aus dem Nest gezerrt und getötet. Immer wenn ich danach morgens den Rollladen hochgezogen habe, saß die Taube schon im Kirschbaum und hat um ihre Jungen geweint und das ging über Monate! Das war unglaublich traurig, hat mich total runtergezogen. Das hast du schön beschrieben. LG, Sandra
 

ikarus-1975

Mitglied
Hallo Petra
Ich habe deinen Text, anders als die anderen Kommentatoren, als Metapher für das den Verlust von Heimat verstanden. Es fügte sich alles, sodass ich am Ende in den Tauben Menschen gesehen habe, die vor verschlossenen Türen stehen. Sie suchen nach dem EInlass, den es für sie nicht mehr gibt. Bestätigt fühlte ich mich, als ich las, wo deine Schwiegermutter wohnt. Verlust von Heimat durch den grassierenden Bauwahn. Da wird dann die Zerstörung der Umwelt - grüne Innenhöfe müssen Mietskasernnen weichen - zur Notwendigkeit. Den Verlust können viele nicht hinnehmen und trauern dem nach. Aber wie lange geht das gut, ehe man an diesem Unrecht zerbricht?

So habe ich's gelesen. Zugegeben, eine sehr persönliche Sicht auf deinen Text. Doch auch wortwörtlich genommen lässt sich deine Geschichte in die allgemeine Stdtentwicklung einordenen. Da werden an den Häusern die Schlupflöcher für Feldermäuse und Mauersegler versiegelt. Dass auch ja kein Getier mehr in die Häuser hinein kriecht. Alles muss hübsch ordentlich und sauber sein.

Mir gefällt dein Text - schon allein deswegen, weil sein Deutehorizont sehr groß ist.

LG
ikarus
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Ikarus,

bitte verzeih meine späte Reaktion - ich war in Urlaub und da klinke ich mich immer ein bisschen aus ...

Danke für Dein Lob und Deine Sterne.
Du hast mich zum Nachdenken gebracht. Ich finde das vollkommen in Ordnung, dass Du diese Parallele zur Heimatlosigkeit eines Menschen siehst. Zwar ist der Text konkret an der Taube festgemacht, aber als denkender und fühlender Mensch schwingt diese Perspektive immer mit und wenn ich die Tauben als Mensch ja doch auch bedauere - wenn ich sie auch gewiss nicht in meinem Dachstuhl würde haben wollen - sind meine Erfahrungen mit Heimatlosigkeit als Mensch enthalten.
Danke für die Erweiterung der Perspektive!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Petra,
ich glaube, die werden noch eine ganze Weile zu diesem Fenster kommen. Wir hatten mal ein Taubennest in einem Kirschbaum vor unserem Schlafzimmerfenster. Eines Tages wurden die Jungen von einem Raben aus dem Nest gezerrt und getötet. Immer wenn ich danach morgens den Rollladen hochgezogen habe, saß die Taube schon im Kirschbaum und hat um ihre Jungen geweint und das ging über Monate! Das war unglaublich traurig, hat mich total runtergezogen. Das hast du schön beschrieben. LG, Sandra
Liebe Sandra,

danke, dass Du diese Erfahrung mit uns teilst.
Ich denke oft, dass wir uns auch in der Stadt inmitten von Dramen jeglicher Art des Tierreichs bewegen. Mir fällt es nur schwer zu unterscheiden, ob ich die Bewertung als 'Drama' nicht schon als Projektion ansehen muss, oder ob die Taubenmutter aus Deinem Erlebnis tatsächlich so gefühlt hat, wie ich als Mensch fühlen würde. Da kommt bei mir der Rationalist aus dem Oberstübchen und erinnert daran, dass z.B. von Beutetieren viel mehr Nachkommen entstehen als von den Räubern, weil sie eben Beute sind und ihre Art erhalten müssen. Mutter Natur ist nicht zimperlich und kennt keine Moral, aber das weißt Du ja.
Auf jeden Fall zeichnet uns Menschen diese Möglichkeit des Mitgefühls aus - wir sollten ihr viel öfter nachgeben.

Liebe Grüße
Petra
 

jon

Mitglied
Hab's gern gelesen. Die menschliche Deutung des Verhaltens von Tieren ist … nun ja: eben typisch menschlich. Trotzdem (oder deshalb) sind solche Momente berührend.

Im ersten Absatz doppelt sich „entdecken“ - das störte mich ein bisschen.

Bei den Tauben muss man in Wildtauben und Stadttauben unterscheiden. Wildtauben nerven (mich) nur, Stadttauben können zur Plage werden (nicht nur, wenn sie krank sind) und sollten deshalb mittels dieser Fake-Eier eingedämmt werden. Zu große Stadttaubenbestände sind auch für die Tauben schlecht, weil das Krankheitsrisiko steigt und das Futterangebot sinkt. Anders als Wildtauben können diese Nachkommen der Zuchttauben nicht mehr selbst außerhalb der Städte nach Futter suchen (das ist genetisch nicht mehr drin) und haben einen angezüchteten Legedrang (die starke Vermehrung hat also nichts mit „Beutetier“ zu tun).
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe jon,

danke fürs Lesen und das feed back!
Das doppelte 'entdeckt' war mir gar nicht aufgefallen - auch dafür danke - und hab' es geändert.

Das Faktenwissen werde ich mir später ansehen. Mein dritter Dank!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Noch ein Nachtrag an Faktenwissen.
Im Rahmen der Renovierung und Dacherneuerung des Berliner Ostbahnhofs gab es in der Berliner Zeitung*) einen großen Artikel, in dem auch Tauben und Krähen eine Rolle spielen.
Und ich war sehr erstaunt, in einem herausgehobenen Text zu erfahren, dass es Taubenpsychologen gibt!
Dieser wird zitiert: " Ein Taubenpsychologe hat uns gewarnt: Wenn sich Tauben in einem Bauwerk angesiedelt haben und vertrieben wurden, versuchen sie, dorthin zurückzukehren." **)
Jetzt komme ich mir fast wie ein Taubenpsychologe vor.

*) Mehr Licht für den Ostbahnhof von Peter Neumann, BLZ #155, 9. Juli 2025, S. 2
**) Ebd.
 



 
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