Exakt mittig

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petrasmiles

Mitglied
Das Loch im linken Ohrläppchen
Ist da jetzt seit fünfzig Jahren.
Aber anders, als im rechten Ohrläppchen
Ist es nicht exakt mittig.

Seit fünfzig Jahren weigert sich das Gehirn,
die Hand an die richtige Stelle zu führen.
Immer will sie das Loch in der exakten Mitte finden.

Erst unter Zuhilfenahme der zweiten Hand
kann das tatsächliche Loch, kaum weniger exakt mittig
gefunden werden.

Was sagt das über uns aus?
Über unser Gehirn und seine Lernfähigkeit,
Über das, was es prägt, und welchen Einfluss es hat?

Woran mag das Gehirn uns sonst noch hindern
etwas zu finden
was nicht exakt mittig liegt?
 
Du berührst hier eingangs einen Bereich, liebe Petra, der auch mich manchmal beschäftigt und sogar fasziniert: Wie unser Gehirn ohne unser aktives Bewusstsein im Hintergrund oder Untergrund Tätigkeit entfaltet und d.h. unserer bewussten Geistesanstrengung Arbeit abnimmt. Zwar bin auch ich nicht immer mit den Ergebnissen zufrieden - warum öffne ich nach dem Abtrocknen so oft die falsche Schranktür, obwohl ich doch genau weiß, wo was steht und hingehört? -, aber insgesamt lassen sich die Leistungen sehen. Besonders dankbar bin ich dann, wenn ich bewusst und erfolglos nach einem Detail (Wissen, Erinnerung) krame und es sich nicht einstellen will (z.B. ein Name) und dann wechsele ich das Thema und denke an ganz anderes (Mittagessen oder Leselupe) und plötzlich mittendrin ist das vorher vergeblich Gesuchte da und meldet sich wie mit einem Gong: HUBER hieß er! Das zeigt, wie unser Gehirn automatisch arbeitet und den Speicher durchsucht, während unser Bewusstsein sich mit ganz anderem beschäftigt. Wunderbar!

Ja, ich weiß, auf diesen rein neurologischen Mechanismus läuft dein Text nicht in erster Linie hinaus., sondern auf gedanklich-theoretische Fehl- oder Nichtverarbeitung. Aber das ist mir für heute ein zu weites Feld. Man kann wohl Parallelen sehen zum Beispiel Hand-verfehlt-Ohrloch, aber auch Unterschiede, z.B. den Einfluss aktueller, von außen kommender (Fehl-)Informationen, all die momentanen gesellschaftlichen Einflüsse. Denken ist doch, auch wenn es in die Irre geht, ein bewusster Akt im Unterschied zu automatisch ablaufenden Handlungen unserer Hände oder Füße.

Als reines Bild finde ich übrigens deinen Text recht plastisch und durchaus gelungen.

Schönen Feierabend
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

nein, nein, es ist ein Faszinosum - eigentlich sogar noch ein Mysterium - was mich auch beschäftigt, und das Positive, das Du nennst, empfinde ich auch so.
Aber was ist mit den 'Fehlleistungen'? Ich habe mal länger darüber nachgedacht - neben dem Faktenbasierten speichert das Gehirn ja auch Gefühle, und in dem konkreten Fall kann es sein, dass ich mich über die fehlende Mittigkeit geärget habe - ich war stolz auf meine schönen runden Ohrläppchen! - und mein Gehirn reproduziert dieses Gefühl mittels der Fehlleistung? Vielleicht sollte ich dem Übeltäter nach fünfzig Jahren verzeihen, und gut ist :) Oder eine andere Möglichkeit: Ich glaube, das linke Ohrläppchen hatte geblutet und sich leicht entzündet und verschob das Loch selbständig, also eine Erinnerung an ein Unbehagen? Und noch eine dritte Variante: Meine Ohrläppchen haben sich insgesamt verändert und sind nicht mehr so rund - erinnere ich mich selbst an mein Alter? Wäre auch Zeit, sich damit abzufinden! Noch eine: Ich bin Rechtshänderin und mein rechtes Ohr ist das mit dem mittigen Loch, wohingegen das linke schwieriger zu erreichen ist - vielleicht, weil ich den Arm nicht mehr so hoch bekomme, eventuell wegen Muskelverhärtungen? Wenn man einmal damit anfängt ...

Vielleicht ist es so banal, dass das Gehirn auch Schwierigkeiten bekommt - im Laufe der Jahre - die passenden Impulse zu senden, also z.B. alte zu entsorgen. Vielleicht stand beim Wegräumen des Abwaschs in fernerer Zeit das wegzuräumende Teil in eben jener Höhe oder Abteilung eines Schrankes, und das Gehirn war nicht schnell gennug, den falschen Impuls zu blocken und den richtigen durchzulassen.

Eigentlich glaube ich nicht, dass uns unser Gehirn etwas 'Sinnvolles' vorenthält, selbst Verdrängung ist ja eine emotionale 'Entscheidung'.

Ach ja. Dir auch einen schönen Abend!

Liebe Grüße
Petra
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Petra,
ich glaube, unsere Treffsicherheit des Verfehlens liegt in den kurz zugeschalteten Akten "bewusst erlebter" Handlungen. Würde man sie uns wegnehmen, gäbe es einfach Ohrlöcher. Mittige Einstiche - egal!
Gefällt mir sehr gut dein Gedanke!
Lieben Gruß ubertas
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hi Petra :)

Ja, ein sehr spannendes Thema!

Aber was ist mit den 'Fehlleistungen'? Ich habe mal länger darüber nachgedacht - neben dem Faktenbasierten speichert das Gehirn ja auch Gefühle, und in dem konkreten Fall kann es sein, dass ich mich über die fehlende Mittigkeit geärget habe - ich war stolz auf meine schöne...
Wahrscheinlich ist es noch komplizierter - ob das Gehirn wirklich etwas "speichert" steht in den Sternen. Es kann durchaus sein, dass überhaupt keine Informationen gespeichert werden, sondern das Hirn nur über bestimmte Trigger neuronale Strukturen wiederholt, die bestimmte Informationen erzeugen.

Ich las einmal Daniel Dennett und manche der Bücher waren schwach, andere sehr gut. Seine Grundthese ist aber bedenkenswert. Dennett geht davon aus, dass das Bewusstsein eine Art Simplifikationsprozess ist. Ähnlich wie die Benutzeroberfläche eines PCs. Extrem komplexe Hirnvorgänge werden im Bewusstsein so weit vereinfacht, dass wir, die wir eben aus diesen Vorgängen bestehen, das vermeintliche Gefühl haben, wir würden uns, unsere Ängste, Wünsche, Träume, Hoffnungen, Gedanken, Gefühle verstehen, damit wir sinnvoll mit unserer Umwelt interagieren können.

Tatsächlich macht das auch Sinn. Unser Alltagsbewusstsein ist ja "Gehirn im Batteriesparmodus". Wenn dieses Alltagsbewusstsein durchbrochen wird, bei Drogenerfahrungen oder wenn Erkrankungen vorliegen (Borderline, Psychose) scheinen die Betroffenen kaum mehr sinnvoll mit ihrer Umwelt interagieren zu können.

Witzigerweise verwechseln wir dieses graue Alltagsbewusstsein dann recht schnell mit dem, was das Gehirn per se kann und neigen dazu, bei allem was aus dem Rahmen fällt, die Metaphysik ins Spiel zu bringen. Überschätzen wir da das Bewusstsein oder unterschätzen wir das Unbewusste?

Es gibt so verrückte Fälle - ich las erst vor kurzem von Menschen, bei denen, nach einem schwererem Unfall, ein Phänomen auftritt, das an Absurdität nicht zu toppen ist. Sie sind für kurze Zeit erblindet, leider bemerken sie das nicht. Die Betroffenen können ihren Körper elegant vor die Wand fahren und verstehen einfach nicht wieso - sie haben die Wand doch gesehen, obwohl sie offenkundig blind sind. Man kann sie auch nicht vom Gegenteil überzeugen, erst wenn die Vernetzung im Hirn sich normalisiert hat, verstehen diese Leute, was los war.

Ich glaube, solche Phänomene sind Übungen in Demut. Ich versuche mir das immer wieder vor Augen zu führen, in Momenten in denen ich mir allzu sicher bin über dieses und jenes.

LG
Patrick
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Patrick,

ich traue mich gar nicht, mich so intensiv mit dem Thema zu befassen - sehr wahrscheinlich, weil ich so an der ollen Metaphysik hänge - und an den freien Willen glaube, den uns die Fachleute der Neurologie gerne ausreden wollen.

Rational haben die von Dir wiedergegebenen Thesen etwas für sich: Ich denke dabei an den blind geborenen Mann, dessen Erblindung im Laufe seines Lebens am Auge 'geheilt' werden konnte, aber er konnte dennoch nicht 'sehen', weil die Nervenbahnen in seiner Kindheit nicht gebildet worden waren - und auch nicht mehr gebildet werden konnten. Das klingt doch sehr nach einem Netzwerk, dass immer wieder 'befahren' wird bzw. im Extremfall nicht befahren werden kann. Und wenn man das einmal als Faktum akzeptiert hat, ist man nicht weit davon entfernt, anerkennen zu müssen, dass neuronale Strukturen getriggert werden - wenn sie denn da sind - und keine Speicherorte aufgesucht werden - das würde ja viel zu lange dauern. Wer wie ich mit Hingabe Ordnung in seine elektronischen Ordner bringt, und immer wieder feststellt, dass die Ordnung mehr in Richtung Chaos geht, weil der Sinn der Wiederauffindbarkeit um so konsequenter verfehlt wird, desto feinmaschiger die Struktur ist, der weiß, dass man da im Millisekundenbereich nichts reißen kann - und in dem arbeitet das Hirn ja.

Aber wie gesagt, ich halte mir das Thema vom Leib und schwelge lieber im Metaphysischen und wie die guten Sachen alle heißen :D

Liebe Grüße
Petra
 

fee_reloaded

Mitglied
Spannend, liebe Petra!

Ich würde erst einmal fragen wollen, welches Ohr du denn immer als erstes ent- und be-schmückst?

Ist es ev. das mit dem ordentlich mittigen Loch? Wäre naheliegend, weil man sich sicherlich dem "guten" Ohr lieber zuwendet ;)

Wenn ja, steuert dein Gehirn - so meine Halb-Spekulation - unbewusst und ganz automatisch eine exakt gespiegelte Wiederholung der Bewegung und setzt deswegen an der ordentlich mittigen Stelle beim anderen Ohrläppchen an. Der Körper hat ein ganz erstaunliches Muskelgedächtnis und -denken!
Als ich mir beispielsweise eine Fingerkuppe im Werkunterricht abgesägt hatte, habe ich beim Gitarre-Spielen noch ein Jahr später (denn das dauert, bis die Kuppe wieder vollständig rund ist) den verschwindend winzigen Zeitunterschied wahrgenommen, in dem diese Fingerspitze die Saiten berührte. Der Körper meldete sein erinnertes "Jetzt"", doch der Kontakt mit der Saite kam eben diesen Millimeterbruchteil später. Das war höchst irritierend.

Abgesehen davon hat man ja auch nicht beide Körperhälften gleichermaßen exakt unter Kontrolle. Tänzer drehen ihre Pirouetten in die eine Richtung besser als in die andere. Stepptänzer klingen nicht mit jedem Fuß exakt gleich. Und unsere Gehirnhälften machen ja unterschiedliche Dinge. Kniechen-Näschen-Öhrchen ist ein gutes Beispiel, um auszuprobieren, welche Seite bei einem besser funktioniert. ;)
Und du machst eben Schulter-Öhrchen-Löchlein.

Jetzt bin ich natürlich neugierig, ob sich da etwas ändert, wenn du mit der anderen Seite zuerst anfängst...ich möchte das ganz kühn unter "Jugend forscht" verbuchen. :cool:

Gern gelesen und mit-sinniert.
Ich kann mir übrigens schon auch vorstellen, dass eine gewisse Mitbeteiligung des Ärgers über das verrutschte Ohrloch auch noch mit hineinspielt. Ist ja auch fies irgendwie. Da wollte man sich verschönern, und dann sitzt das schief. Sehen vermutlich die Anderen gar nicht, aber man selbst sieht es viel zu genau...

Liebe Grüße,
fee
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Fee,

herzlich gelacht!

Jaaa, genau, erst das 'gute' rechte - werde ich morgen gleich mal anders herum ausprobieren - und berichten :D Bin jetzt mal zum Spiegel gerannt - konnte gar keinen Unterschied feststellen - nun sehen sie aber auch anders aus, als 'damals' - ein bisschen fleischiger und schlapper und sie haben eine Falte bekommen :eek: vom Ohrknorpel abwärts Richtung Loch. Au Backe, hätte ich doch nicht nachgesehen :oops: Aber ich habe dann doch auch ins ganze Gesicht geschaut und festgestellt, dass ich wohl insgesamt altersgemäß aussehe. Das muss mich jetzt trösten! Ich würde jetzt am liebsten mein Gehirn befehlen, dass es die ganze Chose entsorgen kann, aber wenn Patrich Recht hat, ist die Bahn gelegt und dann wird sie auch befahren, wenn ich sie mit dem Griff nach den Ohrsteckern triggere. Ist schon ein Kreuz mit der Schönheit ... wenn ich bedenke, dass ich mit vierzig festgestellt habe, dass ich eigentlich ein hübscher Teenager war - und ich fand mich damals sooo hässlich - dann sollte ich schleunigst dazu übergehen, festzuhalten, dass ich nicht nur ein bisschen knirschig, sondern auch noch knackig bin - damit ich nicht mit 80 feststelle, dass ich eine hübsche Alte war :D

Was Du da noch so an Beobachtungen beisteuerst, ist auch beachtenswert - besonders das mit den Körperhälften!

Dir noch einen schönen Abend!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Also, Selbstversuch, die Ohrläppchen in anderer Reihenfolge zu bestücken: Habe gleich beide Hände genommen, zählt also irgendwie nicht, aber: Ich habe das Loch sofort gefunden :D Ich weiß ja auch nicht ...

Liebe Grüße
Petra
 



 
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