(F) Wo warst du?

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Markus Veith

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Es herrscht die absolute Stille.
Die Umgebung gleicht einem Talkessel von gigantischen Ausmaßen. Sanfte Schluchten durchfurchen das Land, wie die vernarbenden Kratzspuren riesenhafter Finger. Die Hänge sind gemischt bewaldet und üppig mit Grün und Braun besetzt. Gewaltige Steine stemmen sich aus ihnen hervor, sorgfältig vom Sturm geformt und moosig beflechtet.
Hier und da sprießen klare Quellen aus dem Hügelland. Verspielt schlängeln sie sich in die Senken hinab, waschen sie aus, um an ihren schmalen Ufern neues, bunt blühendes Leben zu gründen. Sie lassen sich über die größeren Felsen fallen oder rinnen an ihnen herab. Sie spielen rauschende Spielchen mit dem Sonnenlicht oder sammeln sich zu ruhigen oder schäumenden Spiegeln.
In den lichten Niederungen sind bunte Teppiche ausgelegt. Fein aus Blumen gewebt, vielgestaltig und kunstvoll an die Füße der Bäume geschmiegt, die sie umsäumen.
In weiter Entfernung, hinter dem stetig grünen Auf und Ab, steigt das Land an. Schwindelerregend hoch, viele tausend und abertausend Meter in den Himmel. Ein massiver, steiniger Wall, von Norden nach Süden gestreckt, den Horizont versperrend. Gekrönt mit einem kalten Weiß, das an manchen Stellen bis unten in die Niederung fließt. Wolken sind am Himmel zu sehen. Große, bauschige Berge aus reingewaschener Watte mit einer goldenen Kruste, mit welcher der enden wollende Tag sie verziert.
Das blaue Zeltdach des Tages färbt sich im Westen langsam mit der sinkenden Sonne in das tiefe Orangerot des nahenden Abends, der nun auch die hohen, kalten Häupter an seinem ruhigen Farben- und Schattenspiel teilhaben läßt.
Lang treiben sich die dunklen Boten der Berge über das weite, furchige Land und berühren eine Anhöhe auf der östlichen Seite, die ihren Kopf mutig ein gutes Stück höher als ihre Umgebung hält. So als bilde sie die Grenze zwischen zwei Ländern und sei stolz darauf. Denn hinter ihr, noch weiter östlich, ist das Land nur noch steinig und wüst. Rauhreif liegt dort über eisigem Geröll.
Auf ihrer schmalen Kuppe befindet sich ein großer Stein. Der Wind hat ein seltsames Spiel mit dem Felsen gespielt und ihm eine eigenartige Form gegeben. Er ist eine ausgehöhlte Halbkugel, die halb aufrecht auf einem Sockel liegt. Die Öffnung der Halbkugel ist dem frühabendlichen Tal zugewandt.
Ein junger Mann sitzt in diesem steinernen Sessel und schaut abwesend in die Wolken. Er trägt die Kleidung eines Jägers, hat aber keine Waffen bei sich. Nur ein Lederbeutel steht am Fuße des Steins.
Tränen stehen in den hellen, blauen Augen des jungen Jägers. In dem regungslosen Gesicht steht verbitterte Enttäuschung. Er sitzt da, im Innern dieses Steins, die Hände in den Schoß gelegt. Ein kleines Holzkistchen liegt zwischen seinen verschränkten Beinen. Liebevoll streichelt er es.
Plötzlich ist leises Schnaufen zu hören.
Hinter dem Steinsessel taucht eine Gestalt auf. Es ist auch ein Jäger. Er keucht schwer und stützt sich auf seinen starken Holzstecken. Er ist genauso alt wie der Jüngling, der in der Halbkugel sitzt, doch der Anstieg war anstrengend für ihn, da ihm die Kälte der steinigen Ebene, aus der er kommt, die Gelenke steif gemacht hat. Gefrorener Atem hängt in seinem Bart. Als der Ankömmling bei dem Sessel auf der Hügelkuppe halt macht, hält er sich mit der anderen Hand an dessen hartem, grauen Rand fest. Unverwandt schaut ihm der andere in das Gesicht. Ganz offen, mit Rinnsalen unter den Augen. Er sieht die Entrüstung in den wunden, erschöpften Augen des Jägers. Dessen rote Wangen glühen nicht nur von der entflüchteten Kälte. Die dichten Brauen, in denen nun langsam die vereiste Luft der grauen Ebene taut, ziehen sich verständnislos zusammen.
Langsam kommt der Jäger wieder zu Atem. "Also ...?"
Der andere, der sein Freund ist, wendet seinen Blick wieder ins Tal. Seine Kiefermuskeln treten leicht hervor. So als beiße er fest die Zähne zusammen. "Wo warst du?" fragt er.
"Wie bitte?" Sein Freund glaubt, nicht recht gehört zu haben. "Wo ich war? - Na, daheim. - Wo denn wohl sonst?"
"Ich bat dich doch, schon am gestrigen Tag hier zu sein und nicht erst heute. - Wo warst du gestern? Ich habe auf dich gewartet." Enttäuschung läßt seine Stimme vibrieren.
Die Stimme des anderen ist um so ruhiger und bestimmter, als er sagt:
"Mein lieber Freund, ich hatte zu tun. Ich habe einen Hof zu bewirtschaften und kann nun mal nicht gleich springen, wenn du rufst und mir sagst, doch zu dir zu kommen ..." - "... dich bitte, doch unbedingt zu mir zu kommen", unterbricht ihn der Jäger in dem Steinsessel.
Der andere verdreht die Augen. "... und mich bittest, doch unbedingt zu dir zu kommen, meinetwegen auch dies. Ich habe noch andere Sorgen. ... Und mir fehlte auch das Interesse."
Bei diesen Worten des Freundes zuckt der Sitzende zusammen und senkt betroffen den Blick.
"Ich wollte erst gar nicht kommen", fährt der Jäger fort und hebt kurz die Achseln. "Und hätte ich gewußt, was für einen anstrengenden Weg es für mich bedeuten sollte, so hätte ich mich auch gar nicht erst in diese Gegend aufgemacht. - 'Hinter dem Dickicht links, über den grauen Platz und den Hügel herauf zu dem großen Stein.' - Das klang, als läge es hinter der nächsten Ecke."
"Ich weiß", flüstert der Sitzende, den Blick immer noch auf die Kiste in seinem Schoß gesenkt. "Interessierte es dich nicht oder hattest du nur keine Lust?"
"Was macht das für einen Unterschied?" lautet die Gegenfrage.
"Für dich oder für mich?" lautet die darauffolgende, woraufhin beide eine ganze Weile lang betreten schweigen. Der Jäger in dem Steinsessel schaut weiter auf die Holzkiste, der andere Jäger blickt, den Mundwinkel verzogen, in das grüne Tal herab.
Weiter und weiter schieben sich dessen Schatten übereinander. Die Sonne, die sich nun langsam in eine schattenschwarze Lücke zwischen den Bergen drückt, hat sich in einen glühenden Ball verwandelt. Sein Licht entflammt die Gebirgskämme und taucht den Abend in ein warmes Rot und dessen Dach in ein tiefes Blauviolett. Kleine, helle Stippen kommen unbeachtet über den beiden Jägern zum Vorschein und werden nach und nach immer zahlreicher.
"Du warst sehr komisch in der letzten Zeit", bricht der eine Jäger endlich das Schweigen, ohne seinem Freund in dem Steinsessel einen Blick zu gönnen. "Du hast viel vernachlässigt. Das ist jedem aufgefallen. Hängt das mit dieser Kiste dort zusammen, die du seit Tagen und Wochen schon ständig mit dir herumschleppst? Was ist denn Geheimnisvolles drin? Muß ja außerordentlich wichtig sein, wenn du es nie öffnest und es allen Blicken verschließt.
Und nicht nur das. Du kommst nicht mehr in den Gasthof, gehst nicht mehr zur Jagd, gerbst deine Felle nicht ..."
Der Jäger mit den hellen, blauen Augen nickt. "Rauchst nicht mehr. Ißt nichts. Trinkst nichts. Schläfst nie", vervollständigt er selbst. Sein Freund schaut fassungslos auf ihn herab.
"Ja." sagt er. "Mal ganz zu schweigen von deinem Haus, wo es aussieht, als hätten Kraut und Rüben dich bereits vertrieben. Doch anstatt zu leben wie bisher, läufst du über die Felder und durch die Wälder und an der Küste entlang, ohne deine Augengläser vermutlich halbblind, hälst diese Kiste jedoch vor dir herhaltend und starrst wie ein Irrer gebannt darauf." Der bärtige Jäger schüttelt mit unverständlicher Miene den Kopf.
"Du hast also doch bemerkt, daß ich mich verändert habe?" fragt der Sitzende und schaut auf.
"Du hast also doch bemerkt, wie alles, alles für mich unwichtig wurde für ... dies hier." Er streichelte wieder zärtlich über den Deckel der kleinen Kiste in seinem Schoß. "Das alles für mich ... anders wurde. Alles schöner, größer und ... neu wurde. Und du hast dich nie gefragt, um was es sich dabei handeln könnte?
Warum nur? Sag es mir. War es zu fremdartig für dich? Oder warst du vielleicht sogar - neidisch auf mich? Weil du gesehen hast, wie glücklich ich war, wenn du mich mal gesehen hast? - He! - Warum schaust du nun weg, mein Freund? Sieh mich an. Stimmt es? Du hast gesehen, wie viel mir dies hier bedeutet." Er hält die kleine Kiste hoch. "Du hast gemerkt, daß es mir so viel bedeutet, daß ich dafür all meine Gewohnheiten geändert habe und daß ich dabei auch noch glücklich bin. Hör mir zu, ich will dir sagen, was mit mir war.
Ich fand durch Zufall diese Kiste. Fand sie irgendwo. Ich glaube mich erinnern zu können, daß sie mir in einem Traum gegeben wurde, weiß aber nicht mehr, von wem. Oder aber ich fand sie und hatte sie einfach.
Doch ich bekam sie nicht auf. Denn es gibt keinen Schlüssel, da es auch kein Schloß gibt. Etwas hielt sie verschlossen. Von innen. Ich wußte aber, daß ich sie öffnen mußte und konnte.
Also suchte ich nach einer Möglichkeit und fand heraus, daß ich den Deckel an verschiedenen Orten, an denen ich war, ein Stück weit aufbekommen konnte. Zunächst nur einen Spalt. Mehr nicht. Ich lief herum und suchte nach einem Ort, an dem ich sie vollends öffnen konnte. Es gelang mir nie, einen Blick in die Kiste zu werfen. Es war dunkel darin. Stockdunkel. Und auch wenn ich meine Augen ganz nah an den Spalt legte, konnte ich nicht das Geringste erkennen. Doch wußte ich sicher - so sicher war ich mir in meinem Leben nie - daß da etwas war. Und diese Sicherheit, dieser Drang herauszufinden und zu sehen was diese Kiste alles vor mir verbarg, dieser Drang war so neu für mich, so geheimnisvoll und so herrlich berauschend, daß nichts anderes mehr für mich so wichtig und so schön war wie dieses.
Überall suchte ich. Überall. Und auf dieser Suche öffnete sich der Spalt der Kiste mehr und mehr, und ich sah auch mehr und mehr unter ihrem verbergenden Holz. Doch so recht erkennen konnte ich es noch nicht. Doch da war etwas ...
Und dieses Etwas ... Ich spürte dieses Etwas in mir wachsen, spürte es reifen. Ich spürte, wie es einer Vollendung entgegeneiferte. Es quoll bereits aus mir heraus. Nach außen. Es schärfte meine Sinne. Ich brauchte meine Augengläser nicht mehr. Ich glaubte erst, sie seien kaputt, bis ich sie abnahm und alles klar sehen konnte. Klarer, als ich es mit den Gläsern jemals sah. Ich sah den Borkenkäfer unter der Baumrinde. Ich weiß nun, woraus das Wasser besteht und woraus wir bestehen, du und ich.
Und meine Ohren. Freund, ich hörte all das Wachsen im Wald. Das Emporrecken der Hölzer. Den Herzschlag eines Maulwurfs. Ich roch Düfte, wie ich sie noch niemals wahrgenommen hatte. Der Wind aus dem Süden ist süßlich, der westliche schmeckt würzig und wild, wußtest du das? Plötzlich lernte ich alles kennen. Ich lernte, und mein Geist flog in die Höhe, empor zu den Sternen und Monden und Sonnen und betastete sie. Ich verbrannte mir meinen Geist an ihnen, aber ich lernte sie kennen. Ich schloß Freundschaft mit ihnen, und nachts winke ich zu ihnen hinauf, und sie winken mir alle zurück.
Weißt du noch, wie ich dir schon einmal davon erzählte? Ich zeigte dir die Kiste und versuchte, dir meine Empfindungen zu beschreiben, die ich mit ihr und durch sie entdecke und erfahre. Doch du hast sie gedreht und gewendet und nur gesagt: 'Das ist doch bloß eine einfache Holzkiste. Eine Holzkiste nur - wie jede andere auch. Und sie klemmt auch noch. Du bildest dir viel zu viel ein.' Es hat dich nicht interessiert. Es langweilte dich sogar, nicht wahr?"
Tränen treten ihm erneut in die Augen. Er ist aus dem windgeformten Sessel gestiegen und schaut zu dem steinernen Horizont, wo sich die Sonne in diesem Moment mit ihren letzten Strahlen vom alten Tag verabschiedet. Dann legt sich die Dunkelheit über das Tal.
"Ich kam schließlich zu diesem Ort und plötzlich wußte ich alles. Was. Wann. Warum. Wie. Alles.
Ich sah dieses Alles deutlich vor mir. Es war mir, als sei ich hier an diesem Ort eine seltene Pflanze und an meinen frischen Zweigen sproß nun eine zarte Knospe, die sich bald öffnen wollte. Ich fühlte ihren Drang, sich entfalten zu wollen.
Raus ... raus ... größer ... größer ... schöner, wunderbarer. Doch die Zeit war noch nicht reif. Ich war noch nicht soweit.
Ich rannte zu dir, weißt du noch? Und ich bat dich, unbedingt zu kommen, zu diesem Ort, zu mir, damit du endlich siehst, was und wer ich wirklich bin; was in mir ist und was da raus wollte. Ich wollte dir dieses Alles zeigen."
"Aber was denn nur? Zeig' es mir doch jetzt", fordert ihn der andere Jäger auf. "Jetzt bin ich doch hier und du bist auch hier, also was willst du mir so dringend zeigen, hm?"
Der Mann mit den hellen, blauen Augen hält die Kiste mit beiden Händen an die Brust gepreßt. Seine Fingerknöchel sind weiß. Sein Mund zittert. Wie benommen schaut er geradeaus, als sei da noch etwas anderes hinter den entfernten Bergen außer dem sanftroten Nachglühen des Abends.
"Ich war - die
Mitte",
flüstert er.
"Die Mitte war direkt bei mir. Hier."
Er pocht leicht auf die kleine Kiste.
"Und sonst ... war hier nichts. Nichts. Ödes Land. Vor mir, hinter mir. Und dann habe ich sie geöffnet." Zärtlich hebt er den Deckel. Ein kleines, hellblaues Glimmen aus dem Innern des Kästchens leuchtet sich in sein Gesicht.
"Da wuchs ich mit einem Male und wurde gleichzeitig winzig klein.
Die ganze Welt rauschte in mich hinein
und aus mir heraus und an mir vorbei und über mich hinweg.
Und nicht nur die Welt.
Alles.
Ich wußte, ich stand noch auf meinen Füßen,
doch spürte ich sie nicht mehr.
Ich war nur noch Kopf, nur noch Geist.
Ich war nur noch ein Alles in meiner Hand, ... die ich hob, ...
hoch ... ganz hoch ... höher.
Der Welt erzitterte, sie bebte, brüllte, als sei sie das Volk, das seinem König zujubelt.
Ich sah herab von mir und erblickte die wabernde Welt.
Ich forderte sie auf, sich zu erheben und sie tat es einfach.
Es war nur eine winzige Bewegung meiner Hand, die ich kaum wahrnahm und doch türmte sich mit ihr Alles vor mir auf.
Wie eine riesige, erdige Flutwelle, die erstarrte und so blieb, wie meine Hand es wollte.
Ich erschrak im ersten Moment fürchterlich,
so daß ich die Hände vor mein Gesicht schlug.
Ich hatte plötzlich Angst vor mir.
Und alles krachte vor mir zusammen und war sofort wieder schweigend friedlich.
Die Kiste.
Ich nahm die Hände vom Gesicht und sah sie vor mir.
Sie war geöffnet.
Aber niemand hielt sie und doch war sie dort vor mir.
Und da war dieses Gefühl.
Als legte mir jemand seine Hand auf die Schulter.
Ich lächelte und meine beiden Hände breiteten sich über das Land.
Drangen in das Land ein.
Bäumten es auf und formten es einzig nach meinem Belieben.
Meine Ohren waren wie betäubt von dem Spektakel.
Und du warst immer noch nicht da.
Ich spürte, wie es begann und du warst immer noch nicht da.
Ich zog Furchen, spaltete die Erde, stemmte sie hoch, bog das Land auseinander und an anderen Stellen zusammen.
Und dabei rief ich laut nach dir, schrie deinen Namen.
'Wo bist du?!'
brüllte ich.
Aber meine Stimme ging in dem schöpferischen Lärm unter wie das Zwitschern eines Vogels im Herbstwind.
Ich konnte sie selbst kaum hören.
Und doch brüllte ich immer wieder:
'Wo bist du?! Wo bleibst du denn nur?!
Warum bist du nicht hier, wo du mir etwas bedeutest?
Wo ich dir etwas bedeuten möchte?!'
Aber ich durfte nicht innehalten.
Ich mußte weitermachen.
Alles aus mir rauslassen, bevor es mich selbst sprengte.
Oh, welch ein Gefühl war das.
Wie ich es führen und dirigieren konnte und wie es mir gehorchte.
Aus meinen leeren Handflächen blies ich Samen in den Wind,
der in Sekundenschnelle aufging.
Bäume, groß wie Häuser, zwängten sich knarrend aus dem rauhen Erdreich und drangen in den Himmel.
Mit einigen Stellen
- dort und dort drüben -
war ich nicht gleich einverstanden.
So drängte meine Handbewegung sie ein Stück beiseite oder
- wie dort hinten -
da ließ ich ein Stück Wald ausheben.
Voll ausgewachsen segelte es leicht wie eine Feder durch die Lüfte.
Es ist nun der Hügel da vorn.
Andere Stellen ließ ich frei.
Meine Handflächen zogen die buntesten Blumenwiesen und Auen aus dem fruchtreichen Boden.
Wie einen blühenden Teppich legte ich aus, strich ihn glatt und roch an seinem süßen, frischen Duft.
Dann ließ ich Wolken aufziehen.
Meine Gedanken zogen sie hierhin und türmten sie aufeinander.
Groß und weiß, wie gewaschene und getrocknete Watte sahen sie aus.
Ich spuckte sie von unten an und der Regen rieselten aus ihnen und benetzte mein Tal, meine Bäume und Blumen und auch mich.
Es tat ihnen gut, das spürte ich, denn ich war ihre Mitte.
Die Berge dort hinten,
von wo uns die Sonne eben eine gute Nacht wünschte,
ließ ich kahl.
Durch meine Finger ließ ich Schnee auf sie herabrieseln,
bis die Gipfel gleichmäßig kaltweiß bestäubt waren.
Ich schaute mir schöne Hänge aus,
in denen ich mir herrliche Wasserfälle und Wasserläufe vorstellen konnte
und machte sie einfach.
Ich bohrte einen Finger in die Richtung und schon sprudelten sie hervor.
Mit einem Finger lenkte ich ihren Lauf.
Ließ sie auf Steinen tanzen und um sie herum.
Ich ließ sie fallen und rührte sie zu einem See.
Meine Vorstellung plazierte hier und da bemooste Felsen, wo sie ins Bild paßten.
Ich fühlte mich wie in einem tobenden Rausch.
Ich hatte für einen winzigen Moment,
für einen kleinen Teil meines Lebens
die Macht der Mitte.
Die Erlaubnis, diesen einen, kleinen Ort dieser Welt ganz allein nach meinem Willen zu gestalten.
Ich wußte, bald sollte das Getöse vorbei und meine Tat vollbracht sein.
Und du warst immer noch nicht da.
Ich bildete mir ein, du seist es gewesen,
der mir seine Hand auf meine Schulter gelegt und mir Mut gemacht hatte,
aber ich schaute hinter mich und dort war nur öde, graue Ebene
und niemand zu sehen.
Weiterhin schrie ich nach dir.
Du solltest dich beeilen.
Noch sei es nicht zu spät.
Und es bauten sich Ideen in mir auf.
Es waren Ideen von großen Städten,
von Türmen, die sich in die Sonne bohrten,
von großen, gewaltigen Monumenten, die den Himmel anbeten sollten,
indem sie ihn einnahmen.
Doch keine Idee schien mir mehr gut genug zu sein.
Und dann, ganz unvermittelt,
war das Alles
vorbei.
Ich sackte in mich zusammen und es war mir, als keuche sich aller Atem der Welt in einem Zug aus mir heraus. Leer war ich. Und allein.
Du bist nicht dagewesen. Dabei wollte ich doch so sehr, daß auch du es siehst", sagt er, steht dort in der Dunkelheit und schweigt.

Die absolute Stille herrscht.
Bis zum Morgengrauen. Als die Sonne über der endlosen, öden Ebene aufgeht, begräbt der bärtige Jäger die weißen Knochen, die er neben sich gefunden hat. Die Kleidung eines Jägers hat sie umhüllt und einige Holzsplitter lagen um sie herum. Er benutzt Steine, denn der Boden ist vereist und hart und es ist nichts anderes da. Gefrorener Atem hängt in den Haaren seines Bartes.
Als er fertig ist, geht er zu einem Lederbeutel, der nicht weit entfernt bei einem großen, groben Felsen steht. Er öffnet ihn und holt eine kleine Holzkiste heraus. Mit sanfter Gewalt bemüht er sich, sie zu öffnen, doch gelingt es ihm nur einen schmalen Spalt breit.
"Was mache ich denn jetzt damit?" murmelt er, wobei er sie zärtlich streichelt. Schließlich nickt er lächelnd vor sich hin und geht mit den Sonnenstrahlen auf den Horizont zu.
 
S

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Gast
Lieber Markus,

eher selten schau ich in die SF-Rubrik, aber da ich Deine Texte u. a. besonders gern mag, las ich Deine Geschichte. Sie gefällt mir ausgesprochen gut. Ich finde sie absolut rund, und sie hat was Erfrischendes.

Sonnige Grüsse
scribbler
 

Andrea

Mitglied
7 von 10 Punkten

Sehr schön und stimmungsvoll geschrieben. Die Beschreibungen zu Beginn neigen jedoch dazu, ein wenig zu opulent zu werden, so daß sie zunächst das Hauptaugenmerk auf sich ziehen. Wenn die Jäger dann "auftreten", fehlt ihnen das Flair, zumal deine Sprache an dieser Stelle etwas knapp wirkt.
Bsp.: "Hinter dem Steinsessel taucht eine Gestalt auf. Es ist auch ein Jäger. Er keucht schwer und stützt sich auf seinen starken Holzstecken. Er ist genauso alt wie der Jüngling, der in der Halbkugel sitzt [...]."
Nach drei sehr knapp bemessenen, plakativen Sätzen beginnst du wieder mit einem Mammutschachtelsatz. Ob das geschickt ist?
Kurz: Die Einführung der beiden Handelnden gefällt mir nicht, weil man sie nicht greifen kann. Der anschließende Teil über die Erfahrungen mit der Kiste ist dann allerdings wieder toll geschrieben. Die vielen Absätze stören jedoch den Lesefluß. Da würde ich das Layout ändern.

Ansonsten sind mir noch zwei Kleinigkeiten aufgefallen:
a) Es gibt keine absolute Stille. Erst recht nicht in der Natur.
b) "In dem regungslosen Gesicht steht verbitterte Enttäuschung." Enttäuschung und Verbitterung sind Regungen. Wie also kann man sie von einem regungslosen Gesicht ablesen?
 

Markus Veith

Mitglied
Mir fällt doch immer wieder ein Stein vom Herzen, wenn ich bemerke, daß es doch Leute gibt, mit deren Kritiken man so viel anfangen kann. Hab dank, Andrea. Diese schon recht alte Geschichte kann mit 7 Punkten zufrieden sein und ich danke dir für die Tipps zum Sprachbau. Ich hatte diese Stelle noch gar nicht so wahrgenommen.
Zur absoluten Stille muß ich jedoch sagen: Ich hatte ein Erlebnis mitten in den schottischen Highlands, knapp über der Wolkengrenze, da hörte masn tatsächlich nichts. Natürlich ist die Szenerie am Anfang des Textes nicht Schottland und wenn man der Logik folgt, kann es dort auch keine absolute Stille geben, doch wollte ich die "Ruhe nach dem Sturm" auf diese Weise deutlich machen.
Mit literarischem Gruß
Markus
 



 
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