Fahrprüfung

Hans Dotterich

Mitglied
Fahrprüfung

„So, Frau Römer, jetzt bitte bei nächstmöglicher Gelegenheit links abbiegen“.

Giesela Römer fiel ein Tropfen Schweiß von der Nasenspitze. Sie fühlte sich erleichtert, weil das Tröpfchen sie gekitzelt hatte, und nachdem es, statt über die befürchtete Stelle der Nasenunterseite zwischen ihren Nasenlöchern, die noch kitzliger war als die Nasenspitze, in die flache Scharte ihrer Oberlippe und dann in den Mund zu rinnen, ja, statt dessen glatt und problemfrei durch die Luft in ihren Schoß hinunter gefallen ist, wo Gisela Römer nichts dergleichen unangenehm Aufreizendes zu spüren vermochte, und sich daher wieder voll auf den dichten Feierabendverkehr auf der vierspurigen Heinemann-Allee konzentrieren zu können.

Sie fixierte die Kreuzung Kantstraße, die in ungefähr 50 Metern auf sie zukam. Bewusst entspannte sie ihre Arme und den Rücken. Das tat gut. Denn der Geschmack von salzigem Schweiß auf den Lippen, dazu noch, wenn er vom Nasenbein herunterlief, von dort, wo ihre Hornbrille auf die Nasenwurzel drückte, und wo der Nasen- und Stirnschweiß zu klebrigen braunen Schuppen zu gerinnen pflegte, vermochte sie in einer Prüfungssituation an den Rand der Panik zu bringen. Sie setzte den Blinker und ließ den Wagen mit behutsamen Lenkradbewegungen auf der linken Spur an die Mittellinie der Heinemann-Allee gleiten. Nun ließ sie den Wagen einfach rollen und trat die Kupplung. Noch 20 Meter bis zur Mitte der Kreuzung. Sie schaute in den Rückspiegel. Hinter ihr wechselten die näher kommenden Autos auf die rechte Spur hinüber. Sie blickte wieder nach vorn. Ein hoher Kastenwagen kam ihr auf der anderen Straßenseite langsam entgegen. Als er vorbei war, hatte sie freien Blick auf die Einmündung der Kantstraße.

„Da steht ein ‚Durchfahrt verboten‘-Schild, Herr Lehmann“. Giesela Römer hatte verstanden, stellte den Blinker ab, schaute wieder in den Rückspiegel und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein. Ihr Nasenrücken fühlte sich einigermaßen trocken an. Nicht allzu trocken, aber doch so, dass ihre Hornbrille aus den feinen Poren zwischen den Hautzellen auf ihrer Nasenwurzel keinen weiteren Angstschweiß auspressen konnte. Das Einkuppeln geriet ihr ein klein wenig forsch, doch Herr Lehmann, amtlicher Fahrlehrerausbilder und Fahrprüfer vom TÜV, der im Font des Wagens saß, schien das nicht weiter zu registrieren. Und auch Giselas sensible Hornbrille und ihre Nasenwurzel schienen keine emotionalen Einwände gegen das Weiterfahren zu erheben. Sie gönnte dem Dieselmotor gefühlvoll ein wenig mehr Gas. Sehr gefühlvoll, mit nur angedeutetem Vorwärtswillen. Ganz adagio, ganz fein, ganz unauffällig, doch vorausahnend für das Kommende, unbestimmt bleibend, wie der Einsatz des zweiten Themas im zweiten Satz von Anton Bruckners siebenter Sinfonie, die ihr in den Sinn kam. Also einen Block weiter fahren, zur Kreuzung Lessingstraße. Als Fahrschülerin muss man lernen, seine Wahrnehmungen zu kanalisieren und umzuleiten in die profanen Begriffe der Straßenverkehrsordnung. Das Gefühl von Glücklichkeit fühlte sie in sich aufkommen, keinesfalls euphorisch, sondern nur eine Spur davon, adagio, schwer zu definieren. Wie bei Bruckner halt.

Sie stellte den Scheibenwischer an, denn es hatte angefangen zu regnen. Nur ein paar Tropfen, nur ein kaum wahrnehmbares, dumpfes Klopfen auf dem Autodach, auf der Windschutzscheibe. Der Himmel war von dichten Wolken dunkelgrau geworden, ja bedrohlich. Bruckner hätte an ihrer Stelle, einen Halbton höher, wie der Motor, eine Reprise des Haupthemas eingeflochten, da war sie sicher. Frau Römer schaltete das Abblendlicht an. Erwartungsvoll würden sich die Musiker an den Hörnern und Posaunen für den bevorstehenden Einsatz in Stellung bringen, ins Notenblatt schauen, die Mundstücke an die Lippen setzen, auf das Signal warten. Noch 30 Meter bis zur Kreuzung. Sie nahm den Fuß vom Gas.

Vor sich sah sie ein orange-silbernes städtisches Müllauto in die Lessingstraße einbiegen. Aus den Augenwinkeln sah sie Herrn Lehmanns Augenbrauen zucken. „Frau Römer, ach, da nehmen wir doch besser die nächste Kreuzung. Das wird dauern bei diesem Verkehr, wir wollen ja die Sache nicht endlos in die Länge ziehen, was meinen Sie, Herr Kohlmeier ?“ Ihr Fahrlehrer Eugen Kohlmeier, der sich wie gewohnt still verhielt und sich wie Meister Eders Pumuckel auf dem Beifahrersitz unsichtbar gemacht hatte, räusperte sich. „Nein, nein, ja, ja , das muss jetzt nicht sein, Frau Römer, fahren wir doch einfach einen Block weiter.“

„Bin heute seit acht Uhr unterwegs, meine fünfzehnte Fahrprüfung für heute,“ sagte Herr Lehmann, „wir wollen ja auch Frau Römer nicht um den Feierabend bringen“. Also Schillerstraße. Giesela Römer hatte noch den dritten Gang drin, als sie die Kupplung kommen ließ und Gas gab. Ein dumpfes, anschwellendes Dröhnen wie von einer Kesselpauke drang aus dem Motorraum. Nicht schlimm, bloß nicht erschrecken. So hat es schon Bruckner im Adagio seiner siebenten Sinfonie gemacht, wusste Giesela Römer, stellvertretende Orchesterwartin beim Staatstheater, und zuständig für die Gestaltung der Programmhefte, in denen sie die aufgeführten Werke und ihre Komponisten den zahlenden Konzertbesucher, oft Bankiers, Unternehmern, höheren Verwaltungsbeamten, in knappen Sätzen beschrieb, damit diese sich in der Konzertpause im Foyer oder beim Warten an der Getränketheke darin vertiefen konnten und einen zufälligen, aber unangenehmen Blickkontakt zu einem subalternen Mitarbeiter ihrer Organisation vermeiden konnten, sollte ein solcher dieselbe Vorstellung besuchen und seinen Chef in lästige Dienstangespräche verwickeln wollen, oder über andere Themen wie zum Beispiel die Benzinpreise oder gar über Politik. So sind sie halt, die unteren Ränge, die sich in ihrer Mittelmäßigkeit durch ein Konzertticket für eine Sinfonie von Anton Bruckner oder für eine Overtüre von Richard Wagner vor ihren Dienstvorgesetzten profilieren zu müssen meinten.

Jedenfalls, dem Andenken an seinen Komponistenfreund Richard Wagner hat Anton Bruckner das Werk gewidmet, erfuhr der erlöste Chef dann. Und mehr: „Muss es sein?“, das Thema sei aus dem Finalakt von Wagners Götterdämmerung zittiert, Siegfrieds Tod beklagend. Wagner war, als Bruckner das ersann, auch schon tot. Bruckner hatte Wagner verehrt, vergöttert. Umgekehrt hat Wagner den Bruckner gar nicht weiter beachtet. Er soll einmal ein anerkennendes Wort über ihn dahergesagt haben, zu irgendjemandem, und irgendjemand anderes hat es Bruckner zum Trost dann berichtet. Dem bescheidenen Wesen hinter Bruckners Genie, hatte Giesela Römer im Programmheft einmal geschrieben, hinter seinen Partiturgebirgen, sei das Ansporn und tiefe Motivation gewesen, Bestärkung für Bruckners unerhörte, das Publikum ratlos zurücklassende Mission, für ihn, der zu Lebzeiten die meisten seiner Sinfonien nur auf dem Papier, nie als Aufführung gekannt habe. Ein Funken Glücklichkeit würde einen gestressten Chef bei diesem Gedanken erreichen, wusste Giesela Römer, selbst wenn dieser das alles bis zum Ende der Konzertpause wieder vergessen haben würde.

Schillerstraße, Blinker setzen, auskuppeln. Gisela Römer legt diesmal den ersten Gang ein, hielt den Wagen auf der Kreuzung an, wartete den Gegenverkehr ab. Der Regen hatte zugenommen, die Fahrbahn glitzerte im Schein der zahllosen Autolichter. Die Luft da draußen und im Auto war jetzt feucht, die Scheiben begannen zu beschlagen. Giesela schwitzte auf der Stirn. Ein entgegenkommender Bus kam im Ampelstau mitten auf der Kreuzung zur Schillerstraße zum Halten. Ströme von Regenwasser rannen außen am Bus herab und färbten sich im Wiederschein von tausend Bremslichtern rot, blutrot. Im Innern des Busses sah Giesela Römer durch die michigen Fenster Gestalten im Rhythmus des Bremsenquietschens an den Handschlaufen der Haltestange taumeln.

Sie dachte an Rienzi, an den niedergemetzelten Aufstand der Plebejer Roms, an Wagners blutigstes Werk, und an seine in majestätischer Größe schreitenden Akkorde. Schweinehälften, die an ihrem Hinterlauf mit Edelstahlhaken unter der Decke des Busses aufgehängt waren, kamen ihr in den Sinn, noch schreiend vor Schmerz und Grausen, und wallend blutend, da das Schachterbeil erst die halbe Distanz zur fachgerechten Trennung der Hälften erledigt hatte. Herrn Lehmanns Gesicht sah Gisela Römer im Rückspiegel rötlich aufleuchten, im Lichts des Displays seines Smartphones, auf das er, E-Mails lesend, hinunterschaute. „Das ist ja ein rechtes Sauwetter!“ murmelt es von der Rückbank.

Ein Taxi scherte hinter dem bluttriefenden Bus frech aus der Schillerstraße auf die Heinemann-Allee ein und klemmte sich zwischen die Autos, blockierte direkt Giselas Führerscheinprüfungswagen. „Also so was!“, rief Herr Lehmann empört, „Frau Römer, jetzt hämmern Sie mal fest auf die Hupe! Aha, der Idiot soll seinen Marsch geblasen kriegen. Blödmann! Sehen Sie, Herr Kohlmeier, mit so etwas muss sich unsereins täglich herumschlagen! Hat er sogar noch einen Fahrgast drin?“ Lehmann schüttelt erbost den Kopf und rudert mit der geballten Faust vor dem Rückspiegel, „Wenn‘s kracht, ist‘s diesem Henker egal, Null Rücksicht, Kasse machen um jeden Preis, den Schaden zahlt ja alles sowieso die Firma oder die Versicherung! So jemandem gehört die Lizenz entzogen!“

„Ja, ja, nein, nein! Es ist kaum zu glauben, die Straße ist ein Schlachtfeld.“ Kohlmeiers Antwort verriet Resignation. Die Hupe ist das Vaterunser des Autofahrers, merkte sich Gisela, nur kürzer, lauter und effektiver. Denn endlich ließ der Gegenverkehr sie in die Schillerstraße abbiegen, respektvoll im doppelreihigen Spalier der Heinemann-Allee anhaltend, wie zum Großen Zapfenstreich dem Dichter Wilhelm Tells salutierend. „In diese hohle Gasse muss sie kommen“, von der mondänen, wenn auch überströmten Magistrale in die warmeherzige, kleinbürgerliche, sichere Tempo-30-Zone.
 
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