10.
Tara war geblendet, kniff die Augen zusammen. Gleichzeitig erwartete sie den Biss des Greifen, spürte die panische Angst vor dem Schmerz, wobei sich irgendein Teil von ihr auf einer merkwürdig rationalen Art fragte, wie es sein würde, tot zu sein.
Doch nichts geschah!
War sie schon tot?
Hatte der Greif zugebissen und ihren Körper zwischen seinen scharfen Zähnen zerfetzt?
Tötete dieses Wesen so schnell, dass man im Jenseits war, noch bevor der Schmerz Gelegenheit bekam, sich im Körper auszubreiten?
Das einzige, was sie spürte, war der unverminderte Fahrtwind, der ihr entgegenschlug. Nur war er noch etwas kühler als zuvor. Und er war frischer.
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Nach wie vor erschien ihr das Licht grell und blendend. Aber ihr wurde sofort klar, dass es keine geheimnisvolle, jenseitige Helligkeit war, die sie sofort wieder blinzeln ließ, sondern nichts anderes als der einfache Sonnenschein an einem hellen Sommertag.
Doch der Himmel vor ihren Augen war nicht blau, sondern tiefgrün!
Für einen Moment war sie verwirrt, bis ihr klar wurde, was sie da sah: Sie flog direkt auf das Laubdach eines riesigen, ausgedehnten Waldes zu! Was nur eines bedeuten konnte: Sie fiel! Stürzte in die Tiefe!
Aber sie spürte immer noch den Körper der Drachin unter ihren Schenkeln, hatte ihre Hände nach wie vor in die dicken Haare von Tarasques Mähne gekrallt.
Tara öffnete den Mund und – schrie!
Laut, aus vollen Leibeskräften!
Und erst jetzt wurde ihr klar, dass dieser panische, verzweifelte, gleichzeitig aber auch zornige und wilde Schrei die ganze Zeit über in ihr gesteckt und darauf gewartet hatte, endlich ausgestoßen zu werden. Und obwohl sie immer noch in rasender Geschwindigkeit auf das Laubdach eines unbekannten Waldes zustürzte, spürte sie, wie es ihr ein wenig leichter um ihr Herz wurde.
Tarasque drehte den Kopf ein wenig zu ihr hin.
„Mach dir keine ßorgen“, brüllte die Drachin gegen den Fahrtwind an, „das Schlimmßte haben wir geschafft.“
Tara hatte eher den Eindruck, das Schlimmste direkt vor sich zu haben und zwar in Gestalt des ungebremst auf sie zu rasenden Erdbodens.
Doch ganz allmählich änderte Tarasque die Flugrichtung, aus einem Sturzflug wurde zunächst ein schräger Gleitflug und nach einigen, für Tara nicht erkennbaren, Manövern, die die Drachin mit ihrem schlangenartigen Körper ausübte, zogen sie waagerecht und in einer fast gemütlich zu nennenden Geschwindigkeit über den Wald hinweg.
Tara atmete so tief durch, als hätte sie schon seit Stunden die Luft angehalten. Dann sah sie sich um. Direkt über ihr entdeckte sie die Umrisse eines gemächlich dahin gleitenden geflügelten Pferdes, daneben eine im gleißenden Sonnenlicht schimmernde goldene Gans und nach und nach auch die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron. Ein silbrig aufblitzendes Glitzern weit über ihr bot einen Hinweis auf den einen oder anderen fliegenden Fisch.
Sehr viel höher noch, bereits im Dunst fasriger Cirruswolken verschwimmend, war die Silhouette jenes unersättlichen Wesens zu erkennen, in dessen furchtbaren Rachen sie sich vor wenigen Augenblicken noch gewähnt hatte.
Wieder drehte Tarasque ihren Kopf zu dem Mädchen hin.
„Der ßturzflug war unßere einzige Möglichkeit, dem Greifen zu entkommen.“
„Wird er uns denn nicht mehr verfolgen?“
„Nein!“ sagte Leutnant Funkenhuf, der mit einigen geschickten Schlägen seiner Schwanenflügel an ihre Seite gekommen war, „seine Aufgabe ist es, zu verhindern, dass jemand die Grenze zwischen Menschen- und Feenreich überquert. Nun, da wir diesen Übertritt geschafft haben, sind wir für ihn nicht mehr von Interesse.“
„Da wird er wohl ziemlich sauer sein, dass er uns nicht erwischt hat!“, mutmaßte Tara.
„Sauer? Nun, ich kenne das Innenleben eines Greifen nicht, aber ich vermute, dass solche Kreaturen nicht gerade im Übermaß mit Gefühlen jeglicher Art geschlagen sind. Nein, sauer ist er sicherlich nicht. Und in einigen Stunden wird er diese Jagd ohnehin völlig vergessen haben. Diese Greifen ähneln in ihrem ganzen Wesen doch eher primitiven Tieren als solchen zur Vernunft befähigten Wesen wie Menschen, Feen oder Pégasoi.“
Sie entfernten sich langsam von den Ausläufern der Markberge. Unter ihnen erstreckte sich weiterhin ein dichter, undurchdringlich wirkender Wald, der – sehr zu Taras Enttäuschung – um keinen Deut geheimnisvoller oder zauberhafter wirkte als die Wälder Nauthias. Sogar die Bäume schienen alle von jenen Arten zu sein, wie sie auch auf der anderen Seite der Markberge wuchsen.
Sie überflogen einen Fluss, der, so wie er sich durch das endlose Grün schlängelte, ebenfalls so gar nichts Feenhaftes an sich hatte und sich kaum von dem ihr bekannten Taron zu unterscheiden schien, auch wenn Tara natürlich bisher noch nie die Gelegenheit hatte, ihren heimatlichen Strom aus der Luft zu betrachten.
„Hier landen wir!“, rief Leutnant Funkenhuf.
Erst jetzt entdeckte Tara eine kleine Lichtung, die sich im Inneren einer Flussschleife befand.
Nach und nach setzten die Mitglieder der Geflügelten Schwadron auf, zuerst Leutnant Funkenhuf, dann die Gefreite Tarasque mit ihrer Reiterin, anschließend noch die Kraniche mit den eisernen Schnäbeln, der Affe mit den Fledermausflügeln und die goldene Gans. Als Letztes schwirrte ein dezimierter Schwarm fliegender Fische heran und Tara wurde schmerzlich bewusst, dass es eines dieser Wesen war, welches sein Leben hingegeben hatte, um alle anderen, vor allem aber, um sie selbst vor dem tödlichen Biss des Greifen zu bewahren.
Sie stieg von der Drachin herab und wäre anschließend beinahe zu Boden gestürzt, so weich waren ihre Knie nach diesem langen Flug mit all seinen Gefahren.
Doch nur einen Augenblick später landete – fast wie aus dem Nichts – der kleine braune Vögel auf ihrer Schulter und begann fröhlich zu singen. Augenblicklich fühlte sich Tara besser und die Schwäche in ihren Beinen verschwand auf der Stelle.
Leutnant Funkenhuf ließ sogleich ein lautes, befehlsmäßig klingendes Wiehern vernehmen und die Mitglieder der Geflügelten Schwadron nahmen sämtlich sofort Aufstellung - mit Ausnahme natürlich der Fische, welche die anderen Wesen umschwirrten wie ein silberner Schwarm zu groß geratener Mücken.
Leutnant Funkenhuf baute sich vor seiner Einheit auf. Dann schritt er die Linie mit stolzen Schritten und hoch erhobenem Haupt ab.
„Freunde!“, rief er, „ich bin stolz auf euch! Wir haben unseren Auftrag ausgeführt! Die schwebende Königin wird zufrieden sein!“
Soweit Tara das aus den Tiergesichtern dieser Wesen lesen konnte, machte keines von ihnen den Eindruck, sonderlich stolz oder gar glücklich zu sein.
Auch der Leutnant schien das zu bemerken.
„Was ist los mit euch?!“, rief er, „ihr habt Heldenmut bewiesen! Und ihr habt dafür gesorgt, dass nun eine Rettung vor den Heerscharen des Orcus möglich ist!“
Tara fand es nach wie vor äußerst befremdlich, von diesen Wesen als Retterin angesehen zu werden. Und nun auch noch als eine, die ihre neuen Freunde sogar vor ganzen Heerscharen beschützen sollte!
Es hatte den Anschein, als würde auch der größte Teil der Geflügelten Schwadron ihre Zweifel teilen, denn kein „Hurra!“ erklang, geschweige denn irgendein anderer Ausruf des Triumphes, in welchen vielleicht Wesen wie Geflügelte Affen, goldene Gänse oder Drachen sonst in solch einem Augenblick einzustimmen pflegten.
Aber sie spürte, dass es nicht an ihr lag, weswegen diese Geschöpfe so zurückhaltend auf die Aufmunterungsversuche ihre Leutnants reagierten.
„Es gibt kein Grund zur Freude“, sagte sie leise, „einer der euren hat sein Leben gelassen. Wie war sein Name? Pfeilzahn glaube ich.“
„Ja“, sagte Leutnant Funkenhuf, „das war sein Name.“
Er blieb stehen. Schüttelte sein Haupt.
„Das hätte ich fast vergessen. Er starb ... als Held.“
„Er wurde gefressen!“, warf plötzlich Tarasque mit zorniger Stimme ein, „das ist kein Heldentod, das ist einfach ... schrecklich!“
Tara entdeckte, wie sich eine Träne aus dem katzenartigen Auge der Drachin löste und auf den Boden fiel.
Auch die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron wirkten bedrückt, die Gans und die Kraniche stimmten ein unendlich traurig klingendes Lied mit ihren merkwürdig blechern klingenden Vogelstimmen an, der Affe verbarg sein Gesicht in den Händen.
Und dann wurde es Tara klar! Diese Wesen gaben sich vielleicht militärische Titel, stellten sich auch jetzt in Reih und Glied auf, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Aber sie waren alles andere als Krieger.
Keiner von ihnen sah so aus, als wäre er dafür geschaffen, Schlachten zu schlagen. Und vermutlich hat es auch keiner von ihnen bisher getan. Und ganz sicher war der Tod eines Kameraden für sie allesamt eine völlig neue Erfahrung.
Ein wenig erinnerten sie ihn an Kinder, die Krieg spielten mit Stöcken und Wurfgeschossen aus Erde und ganz plötzlich bemerkten, dass aus dem Spiel tödlicher Ernst geworden war.
Sie trat an Leutnant Funkenhuf heran. Der kleine Pegasos stand immer noch mit gesenktem Haupt vor seiner Truppe.
„Seit wann gibt es die Geflügelte Schwadron?“
„Nun, Orcus, der Graue, machte mit seinen Grausamkeiten weder Halt vor den Untertanen der Schwebenden Königin noch vor allen anderen magischen Wesenheiten dieses Landes. Deswegen beschlossen wir, auch unseren Anteil an diesem Kampf zu leisten. Vor drei Monden meldeten sich die ersten Freiwilligen. Du siehst sie hier vor dir.“
„Und dies war – so vermute ich – euer erster Einsatz?“
Das Pferdehaupt des Pegasos senkte sich in einer fast menschlich wirkenden bejahenden Geste nach unten.
„Es war uns allen klar, was Krieg bedeutet. Aber einen Kameraden – nein, einen Freund – zu verlieren, ist doch schmerzhafter, als ich gedacht hatte. Der Tod ist im Feenland ein selten gesehener Gast.“
„Wie meinst du das?“
Plötzlich ließ einer der Kraniche einen lauten, warnenden Ruf vernehmen.
Der Köpfe der Geflügelten Schwadron gingen nach oben.
„Ein Wächter deß Orcus“, zischte Tarasque.
„Ab ins Unterholz!“, rief Leutnant Funkenhuf, ganz in dem knappen Ton eines Offiziers, der es gewohnt war, Befehle zu geben.
Sie liefen, flogen oder flatterten in den Wald. Unter den tief hängenden Ästen einer alten Eiche fanden sie alle Unterschlupf.
Und zwar keinen Moment zu früh, denn nur Sekunden später erschien der besagte Wächter.
Es handelte sich um einen großen, schlanken Mann, der lange Hosen, einen dicken ledernem Wams und einem schwarzen Mantel trug. In seinem breiten Gürtel steckte ein langes Messer und in seiner Rechten hielt er einen langen, mit einer eisernen Spitze versehenen Spieß.
Tara hatte in ihrem Leben noch nie einen echten Soldaten gesehen, hatte aber in den Büchern Coldars genug entsprechende Illustrationen studieren können, um einen solchen zu erkennen.
Was diesen „Wächter des Orcus“ aber deutlich von den gezeichneten Kämpen in jenen Bänden unterschied, war die erstaunliche Tatsache, dass er gut siebzig bis achtzig Fuß über ihnen schwebte, wobei er in einer normalen Marschgeschwindigkeit einen Fuß vor den anderen setzte, ganz so, als befände sich unter den Sohlen seiner Stiefel eine breite Heerstrasse und nicht die blanke, leere Luft.
Sein Weg führte ihn so direkt über sie hinweg und hätte er nur einen kurzen Blick nach unter geworfen, ihm wäre trotz der dicht belaubten Äste der Eiche ganz sicher nicht entgangen, dass dort eine Gruppe unterschiedlichster Gestalten kauerte.
Aber er tat es nicht.
Er marschierte einfach weiter, mitten durch den sommerlichen Himmel, die Augen zumeist nach vorne gerichtet, nur gelegentlich nach oben oder zur Seite, kein einziges Mal jedoch nach unten blickend.
Es dauerte eine Zeit, bis er weit jenseits ihres Sichtfeldes war und Tara sich traute, etwas zu sagen.
„Was war das?“, flüsterte sie.
„Ein Soldat des Orcus“, antwortete Leutnant Funkenhuf, „sie patrouillieren häufig hier in dieser Gegend. Wir sind nicht sehr weit von seiner Festung entfernt.“
„War das ... eine Fee?“
„Natürlich! Das sieht man doch!“
Der Pegasos sah Tara verwundert an.
„Du weißt nicht sehr viel über das Feenvolk?“
„Offensichtlich nicht“, gab Tara zu.
Sie krochen unter den Ästen der Eiche hervor, alle dabei immer wieder einen verstohlenen Blick in den Himmel werfend.
„Ich denke, man wird dir noch viel erklären müssen“, sagte Leutnant Funkenhuf, „aber es ist noch ausreichend Zeit dazu. Denn der Weg in Orcus` Festung ist lange genug, wenn man dabei den Erdboden nicht verlassen kann. Aber das wird nicht meine Aufgabe sein oder die der Mitglieder dieser Einheit. Es naht nun die Zeit des Abschiedes.“
Tara starrte den Pegasos an.
„Was soll das heißen?“, rief sie entrüstet, „Zeit des Abschiedes? Wollt ihr mich verlassen? Allein lassen hier in diesem fremden Land? Und was bedeutet das mit dieser Festung? Wer sagt denn, dass ich da hin will?“
„Nun, das ist dein vorgegebener Weg. Deswegen haben wir dich in hierher geholt. Unsere Aufgabe ist somit beendet.“
„Na, vom Fragen hält man in diesem Land offensichtlich nicht viel!“
Tara war nach wie vor aufgebracht.
„Ich hätte euch nämlich ganz klipp und klar geantwortet: Nein, ich will nicht ins Feenreich! Ich habe keine Interesse, irgendwelche Flatternden Königinnen zu retten oder in Festungen einzudringen! Ich will einfach nur in Ruhe meine Ziegen hüten!“
„Schwebende ...“, flüsterte Leutnant Funkenhuf kleinlaut.
„Was?!“, schrie Tara.
„Schwebende Königinnen, nicht Flatternde Königinnen.“
„Das ist doch mir egal!“
„Eine temperamentvolle, junge Frau habt Ihr da bei Euch, werter Funkenhuf“, sagte eine Stimme, die direkt aus dem Geäst der Eiche zu kommen schien.
Erschreckt fuhr Tara herum.
Direkt hinter und ein wenig über ihr stand ein junger Mann. Er war rothaarig, ganz in Grün gewandet und sah sie mit einem Blick an, der verriet, dass er Taras Gefühlsausbruch wohl die ganze Zeit aufmerksam verfolgt hatte.
Er balancierte dabei auf einem Eichenast, der viel zu dünn sein schien, als dass er in der Lage wäre, einen so großen Mann zu tragen.
„Ich hoffe“, sagte der Grüngewandete und ein leichtes Lächeln durchzog sein Gesicht, „ich kann dich in die Festung bringen, ohne dass du dabei die Schergen des Orcus zusammen schreist.“
Tara war geblendet, kniff die Augen zusammen. Gleichzeitig erwartete sie den Biss des Greifen, spürte die panische Angst vor dem Schmerz, wobei sich irgendein Teil von ihr auf einer merkwürdig rationalen Art fragte, wie es sein würde, tot zu sein.
Doch nichts geschah!
War sie schon tot?
Hatte der Greif zugebissen und ihren Körper zwischen seinen scharfen Zähnen zerfetzt?
Tötete dieses Wesen so schnell, dass man im Jenseits war, noch bevor der Schmerz Gelegenheit bekam, sich im Körper auszubreiten?
Das einzige, was sie spürte, war der unverminderte Fahrtwind, der ihr entgegenschlug. Nur war er noch etwas kühler als zuvor. Und er war frischer.
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Nach wie vor erschien ihr das Licht grell und blendend. Aber ihr wurde sofort klar, dass es keine geheimnisvolle, jenseitige Helligkeit war, die sie sofort wieder blinzeln ließ, sondern nichts anderes als der einfache Sonnenschein an einem hellen Sommertag.
Doch der Himmel vor ihren Augen war nicht blau, sondern tiefgrün!
Für einen Moment war sie verwirrt, bis ihr klar wurde, was sie da sah: Sie flog direkt auf das Laubdach eines riesigen, ausgedehnten Waldes zu! Was nur eines bedeuten konnte: Sie fiel! Stürzte in die Tiefe!
Aber sie spürte immer noch den Körper der Drachin unter ihren Schenkeln, hatte ihre Hände nach wie vor in die dicken Haare von Tarasques Mähne gekrallt.
Tara öffnete den Mund und – schrie!
Laut, aus vollen Leibeskräften!
Und erst jetzt wurde ihr klar, dass dieser panische, verzweifelte, gleichzeitig aber auch zornige und wilde Schrei die ganze Zeit über in ihr gesteckt und darauf gewartet hatte, endlich ausgestoßen zu werden. Und obwohl sie immer noch in rasender Geschwindigkeit auf das Laubdach eines unbekannten Waldes zustürzte, spürte sie, wie es ihr ein wenig leichter um ihr Herz wurde.
Tarasque drehte den Kopf ein wenig zu ihr hin.
„Mach dir keine ßorgen“, brüllte die Drachin gegen den Fahrtwind an, „das Schlimmßte haben wir geschafft.“
Tara hatte eher den Eindruck, das Schlimmste direkt vor sich zu haben und zwar in Gestalt des ungebremst auf sie zu rasenden Erdbodens.
Doch ganz allmählich änderte Tarasque die Flugrichtung, aus einem Sturzflug wurde zunächst ein schräger Gleitflug und nach einigen, für Tara nicht erkennbaren, Manövern, die die Drachin mit ihrem schlangenartigen Körper ausübte, zogen sie waagerecht und in einer fast gemütlich zu nennenden Geschwindigkeit über den Wald hinweg.
Tara atmete so tief durch, als hätte sie schon seit Stunden die Luft angehalten. Dann sah sie sich um. Direkt über ihr entdeckte sie die Umrisse eines gemächlich dahin gleitenden geflügelten Pferdes, daneben eine im gleißenden Sonnenlicht schimmernde goldene Gans und nach und nach auch die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron. Ein silbrig aufblitzendes Glitzern weit über ihr bot einen Hinweis auf den einen oder anderen fliegenden Fisch.
Sehr viel höher noch, bereits im Dunst fasriger Cirruswolken verschwimmend, war die Silhouette jenes unersättlichen Wesens zu erkennen, in dessen furchtbaren Rachen sie sich vor wenigen Augenblicken noch gewähnt hatte.
Wieder drehte Tarasque ihren Kopf zu dem Mädchen hin.
„Der ßturzflug war unßere einzige Möglichkeit, dem Greifen zu entkommen.“
„Wird er uns denn nicht mehr verfolgen?“
„Nein!“ sagte Leutnant Funkenhuf, der mit einigen geschickten Schlägen seiner Schwanenflügel an ihre Seite gekommen war, „seine Aufgabe ist es, zu verhindern, dass jemand die Grenze zwischen Menschen- und Feenreich überquert. Nun, da wir diesen Übertritt geschafft haben, sind wir für ihn nicht mehr von Interesse.“
„Da wird er wohl ziemlich sauer sein, dass er uns nicht erwischt hat!“, mutmaßte Tara.
„Sauer? Nun, ich kenne das Innenleben eines Greifen nicht, aber ich vermute, dass solche Kreaturen nicht gerade im Übermaß mit Gefühlen jeglicher Art geschlagen sind. Nein, sauer ist er sicherlich nicht. Und in einigen Stunden wird er diese Jagd ohnehin völlig vergessen haben. Diese Greifen ähneln in ihrem ganzen Wesen doch eher primitiven Tieren als solchen zur Vernunft befähigten Wesen wie Menschen, Feen oder Pégasoi.“
Sie entfernten sich langsam von den Ausläufern der Markberge. Unter ihnen erstreckte sich weiterhin ein dichter, undurchdringlich wirkender Wald, der – sehr zu Taras Enttäuschung – um keinen Deut geheimnisvoller oder zauberhafter wirkte als die Wälder Nauthias. Sogar die Bäume schienen alle von jenen Arten zu sein, wie sie auch auf der anderen Seite der Markberge wuchsen.
Sie überflogen einen Fluss, der, so wie er sich durch das endlose Grün schlängelte, ebenfalls so gar nichts Feenhaftes an sich hatte und sich kaum von dem ihr bekannten Taron zu unterscheiden schien, auch wenn Tara natürlich bisher noch nie die Gelegenheit hatte, ihren heimatlichen Strom aus der Luft zu betrachten.
„Hier landen wir!“, rief Leutnant Funkenhuf.
Erst jetzt entdeckte Tara eine kleine Lichtung, die sich im Inneren einer Flussschleife befand.
Nach und nach setzten die Mitglieder der Geflügelten Schwadron auf, zuerst Leutnant Funkenhuf, dann die Gefreite Tarasque mit ihrer Reiterin, anschließend noch die Kraniche mit den eisernen Schnäbeln, der Affe mit den Fledermausflügeln und die goldene Gans. Als Letztes schwirrte ein dezimierter Schwarm fliegender Fische heran und Tara wurde schmerzlich bewusst, dass es eines dieser Wesen war, welches sein Leben hingegeben hatte, um alle anderen, vor allem aber, um sie selbst vor dem tödlichen Biss des Greifen zu bewahren.
Sie stieg von der Drachin herab und wäre anschließend beinahe zu Boden gestürzt, so weich waren ihre Knie nach diesem langen Flug mit all seinen Gefahren.
Doch nur einen Augenblick später landete – fast wie aus dem Nichts – der kleine braune Vögel auf ihrer Schulter und begann fröhlich zu singen. Augenblicklich fühlte sich Tara besser und die Schwäche in ihren Beinen verschwand auf der Stelle.
Leutnant Funkenhuf ließ sogleich ein lautes, befehlsmäßig klingendes Wiehern vernehmen und die Mitglieder der Geflügelten Schwadron nahmen sämtlich sofort Aufstellung - mit Ausnahme natürlich der Fische, welche die anderen Wesen umschwirrten wie ein silberner Schwarm zu groß geratener Mücken.
Leutnant Funkenhuf baute sich vor seiner Einheit auf. Dann schritt er die Linie mit stolzen Schritten und hoch erhobenem Haupt ab.
„Freunde!“, rief er, „ich bin stolz auf euch! Wir haben unseren Auftrag ausgeführt! Die schwebende Königin wird zufrieden sein!“
Soweit Tara das aus den Tiergesichtern dieser Wesen lesen konnte, machte keines von ihnen den Eindruck, sonderlich stolz oder gar glücklich zu sein.
Auch der Leutnant schien das zu bemerken.
„Was ist los mit euch?!“, rief er, „ihr habt Heldenmut bewiesen! Und ihr habt dafür gesorgt, dass nun eine Rettung vor den Heerscharen des Orcus möglich ist!“
Tara fand es nach wie vor äußerst befremdlich, von diesen Wesen als Retterin angesehen zu werden. Und nun auch noch als eine, die ihre neuen Freunde sogar vor ganzen Heerscharen beschützen sollte!
Es hatte den Anschein, als würde auch der größte Teil der Geflügelten Schwadron ihre Zweifel teilen, denn kein „Hurra!“ erklang, geschweige denn irgendein anderer Ausruf des Triumphes, in welchen vielleicht Wesen wie Geflügelte Affen, goldene Gänse oder Drachen sonst in solch einem Augenblick einzustimmen pflegten.
Aber sie spürte, dass es nicht an ihr lag, weswegen diese Geschöpfe so zurückhaltend auf die Aufmunterungsversuche ihre Leutnants reagierten.
„Es gibt kein Grund zur Freude“, sagte sie leise, „einer der euren hat sein Leben gelassen. Wie war sein Name? Pfeilzahn glaube ich.“
„Ja“, sagte Leutnant Funkenhuf, „das war sein Name.“
Er blieb stehen. Schüttelte sein Haupt.
„Das hätte ich fast vergessen. Er starb ... als Held.“
„Er wurde gefressen!“, warf plötzlich Tarasque mit zorniger Stimme ein, „das ist kein Heldentod, das ist einfach ... schrecklich!“
Tara entdeckte, wie sich eine Träne aus dem katzenartigen Auge der Drachin löste und auf den Boden fiel.
Auch die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron wirkten bedrückt, die Gans und die Kraniche stimmten ein unendlich traurig klingendes Lied mit ihren merkwürdig blechern klingenden Vogelstimmen an, der Affe verbarg sein Gesicht in den Händen.
Und dann wurde es Tara klar! Diese Wesen gaben sich vielleicht militärische Titel, stellten sich auch jetzt in Reih und Glied auf, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Aber sie waren alles andere als Krieger.
Keiner von ihnen sah so aus, als wäre er dafür geschaffen, Schlachten zu schlagen. Und vermutlich hat es auch keiner von ihnen bisher getan. Und ganz sicher war der Tod eines Kameraden für sie allesamt eine völlig neue Erfahrung.
Ein wenig erinnerten sie ihn an Kinder, die Krieg spielten mit Stöcken und Wurfgeschossen aus Erde und ganz plötzlich bemerkten, dass aus dem Spiel tödlicher Ernst geworden war.
Sie trat an Leutnant Funkenhuf heran. Der kleine Pegasos stand immer noch mit gesenktem Haupt vor seiner Truppe.
„Seit wann gibt es die Geflügelte Schwadron?“
„Nun, Orcus, der Graue, machte mit seinen Grausamkeiten weder Halt vor den Untertanen der Schwebenden Königin noch vor allen anderen magischen Wesenheiten dieses Landes. Deswegen beschlossen wir, auch unseren Anteil an diesem Kampf zu leisten. Vor drei Monden meldeten sich die ersten Freiwilligen. Du siehst sie hier vor dir.“
„Und dies war – so vermute ich – euer erster Einsatz?“
Das Pferdehaupt des Pegasos senkte sich in einer fast menschlich wirkenden bejahenden Geste nach unten.
„Es war uns allen klar, was Krieg bedeutet. Aber einen Kameraden – nein, einen Freund – zu verlieren, ist doch schmerzhafter, als ich gedacht hatte. Der Tod ist im Feenland ein selten gesehener Gast.“
„Wie meinst du das?“
Plötzlich ließ einer der Kraniche einen lauten, warnenden Ruf vernehmen.
Der Köpfe der Geflügelten Schwadron gingen nach oben.
„Ein Wächter deß Orcus“, zischte Tarasque.
„Ab ins Unterholz!“, rief Leutnant Funkenhuf, ganz in dem knappen Ton eines Offiziers, der es gewohnt war, Befehle zu geben.
Sie liefen, flogen oder flatterten in den Wald. Unter den tief hängenden Ästen einer alten Eiche fanden sie alle Unterschlupf.
Und zwar keinen Moment zu früh, denn nur Sekunden später erschien der besagte Wächter.
Es handelte sich um einen großen, schlanken Mann, der lange Hosen, einen dicken ledernem Wams und einem schwarzen Mantel trug. In seinem breiten Gürtel steckte ein langes Messer und in seiner Rechten hielt er einen langen, mit einer eisernen Spitze versehenen Spieß.
Tara hatte in ihrem Leben noch nie einen echten Soldaten gesehen, hatte aber in den Büchern Coldars genug entsprechende Illustrationen studieren können, um einen solchen zu erkennen.
Was diesen „Wächter des Orcus“ aber deutlich von den gezeichneten Kämpen in jenen Bänden unterschied, war die erstaunliche Tatsache, dass er gut siebzig bis achtzig Fuß über ihnen schwebte, wobei er in einer normalen Marschgeschwindigkeit einen Fuß vor den anderen setzte, ganz so, als befände sich unter den Sohlen seiner Stiefel eine breite Heerstrasse und nicht die blanke, leere Luft.
Sein Weg führte ihn so direkt über sie hinweg und hätte er nur einen kurzen Blick nach unter geworfen, ihm wäre trotz der dicht belaubten Äste der Eiche ganz sicher nicht entgangen, dass dort eine Gruppe unterschiedlichster Gestalten kauerte.
Aber er tat es nicht.
Er marschierte einfach weiter, mitten durch den sommerlichen Himmel, die Augen zumeist nach vorne gerichtet, nur gelegentlich nach oben oder zur Seite, kein einziges Mal jedoch nach unten blickend.
Es dauerte eine Zeit, bis er weit jenseits ihres Sichtfeldes war und Tara sich traute, etwas zu sagen.
„Was war das?“, flüsterte sie.
„Ein Soldat des Orcus“, antwortete Leutnant Funkenhuf, „sie patrouillieren häufig hier in dieser Gegend. Wir sind nicht sehr weit von seiner Festung entfernt.“
„War das ... eine Fee?“
„Natürlich! Das sieht man doch!“
Der Pegasos sah Tara verwundert an.
„Du weißt nicht sehr viel über das Feenvolk?“
„Offensichtlich nicht“, gab Tara zu.
Sie krochen unter den Ästen der Eiche hervor, alle dabei immer wieder einen verstohlenen Blick in den Himmel werfend.
„Ich denke, man wird dir noch viel erklären müssen“, sagte Leutnant Funkenhuf, „aber es ist noch ausreichend Zeit dazu. Denn der Weg in Orcus` Festung ist lange genug, wenn man dabei den Erdboden nicht verlassen kann. Aber das wird nicht meine Aufgabe sein oder die der Mitglieder dieser Einheit. Es naht nun die Zeit des Abschiedes.“
Tara starrte den Pegasos an.
„Was soll das heißen?“, rief sie entrüstet, „Zeit des Abschiedes? Wollt ihr mich verlassen? Allein lassen hier in diesem fremden Land? Und was bedeutet das mit dieser Festung? Wer sagt denn, dass ich da hin will?“
„Nun, das ist dein vorgegebener Weg. Deswegen haben wir dich in hierher geholt. Unsere Aufgabe ist somit beendet.“
„Na, vom Fragen hält man in diesem Land offensichtlich nicht viel!“
Tara war nach wie vor aufgebracht.
„Ich hätte euch nämlich ganz klipp und klar geantwortet: Nein, ich will nicht ins Feenreich! Ich habe keine Interesse, irgendwelche Flatternden Königinnen zu retten oder in Festungen einzudringen! Ich will einfach nur in Ruhe meine Ziegen hüten!“
„Schwebende ...“, flüsterte Leutnant Funkenhuf kleinlaut.
„Was?!“, schrie Tara.
„Schwebende Königinnen, nicht Flatternde Königinnen.“
„Das ist doch mir egal!“
„Eine temperamentvolle, junge Frau habt Ihr da bei Euch, werter Funkenhuf“, sagte eine Stimme, die direkt aus dem Geäst der Eiche zu kommen schien.
Erschreckt fuhr Tara herum.
Direkt hinter und ein wenig über ihr stand ein junger Mann. Er war rothaarig, ganz in Grün gewandet und sah sie mit einem Blick an, der verriet, dass er Taras Gefühlsausbruch wohl die ganze Zeit aufmerksam verfolgt hatte.
Er balancierte dabei auf einem Eichenast, der viel zu dünn sein schien, als dass er in der Lage wäre, einen so großen Mann zu tragen.
„Ich hoffe“, sagte der Grüngewandete und ein leichtes Lächeln durchzog sein Gesicht, „ich kann dich in die Festung bringen, ohne dass du dabei die Schergen des Orcus zusammen schreist.“