Feenkrieg 14

agilo

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Sie tranken schweigend ihren Tee. Das lag nicht etwa daran, dass sich die beiden nichts zu sagen gehabt hätten – in Jost drängten unzählige Fragen darauf, gestellt zu werden –, aber weder der Junge und vermutlich ebenso wenig das Wermenschenmädchen waren geübt darin, bei einer Tasse Tee höfliche Konversation zu betreiben.
Irgendwann unterbrach dann Odelia doch mit einem leisen Hüsteln die Stille.
„Du“, fragte sie, „du willst also ins Feenland? Ein ... äh ... ungewöhnliches Ansinnen. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Mensch den Wunsch verspürt, dort hinzugehen.“
„Es ist kein Wunsch. Ich muss es tun!“
„Du musst?“
„Ja. Ich werde da hingehen und jemanden befreien. Jemand, den sie entführt haben.“
„Aha. Ich nehme an, es ist ein Mädchen?“
„Ja. Aber das tut nichts zur Sache! Sie ist ... sie ist eine Freundin. Also nicht meine Freundin, wenn du das denkst ... das heißt, sie ist schon meine Freundin ... aber nicht so meine Freundin ...“
Er verstummte, spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Vermutlich leuchtete es jetzt heller als die untergehende Sonne.
„Ich verstehe, was du meinst“, gab Odelia sanft zurück.
Das war erstaunlich, denn genau genommen wusste Jost selbst nicht, was er meinte. Und wie er seine Gefühle für Tara deuten sollte.
„Und du?“, fragte er, hauptsächlich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, „warst du schon einmal im Feenland?“
„Ich? Nein! Ich habe diesen Wald so gut wie nie verlassen.“
„Aber, du musst doch auch irgendwann einmal woanders gelebt haben. Ich meine, bevor du ... bevor du dich verändert hast.“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Wo soll ich denn gelebt haben?“
„Ich weiß es nicht. Wie ist das überhaupt geschehen, dass du dich in einen Werwolf ...?“
„Wermensch!“
„Entschuldigung ... in einen Wermenschen verwandelt hast?“
„Wie so was eben geschieht. Ich wurde angegriffen und verletzt von einem Werwolf!“
„Von einem Werwolf? Keinem Wermenschen?“
Jost konnte seine Verwirrung kaum noch verbergen.
„Natürlich nicht“, antwortete Odelia, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt, „sonst wäre ich ja kein Wermensch.“
„Es war“, fuhr sie fort und blickte sinnierend auf den Kaminsims, „ein schöner Frühlingsabend. Ich befand mich gemeinsam mit meinen Geschwistern auf einer kleinen Lichtung. Wir tollten im Schein der untergehenden Sonne, jagten Käfer und Schmetterlinge oder machten Scheinkämpfe. Wie das nun mal in dem Alter so ist. Und als ich für einen Augenblick unachtsam war und mich ein wenig von meinen Geschwistern entfernte, geschah es! Er griff mich an! Mehrere Male biss er zu, bis ich mich schließlich, blutüberströmt und mehr tot als lebendig in eine kleine Erdhöhle flüchten konnte.“
„Wie alt warst du denn damals?“
„So fünf bis sechs Wochen, schätze ich.“
„Augenblick mal! Du willst mir weis machen, dass du als Säugling schon auf Waldlichtungen gespielt hast? Warst du denn so was wie ein Wunderkind?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Sie lachte laut auf.
Dann sah sie Jost einen Moment lang an.
„Ach so, ich verstehe“, sagte sie schließlich, „du hast geglaubt ...?“
Sie lachte nochmals kurz auf, diesmal klang es aber eher unsicher als amüsiert.
„Du weißt doch“, begann sie vorsichtig, „was ein Werwolf ist?“
„Ja, natürlich, in Coldars Büchern kann man eine Menge darüber lesen. Und es gibt Bilder darin. Ganz schaurige Zeichnungen von wirklich grauenvollen, hässlichen Kreaturen, die ...“
Er stockte.
„Ich ... ich wollte damit nicht sagen, dass ... dass du hässlich bist ... oder grauenvoll“, brachte er stotternd hervor, „ganz im Gegenteil! Du bist sehr ... hübsch.“
„Danke. Sehr nett von dir.“
Sie errötete.
„Aber was steht denn in den Büchern geschrieben?“
„Werwölfe sind Menschen, die sich bei Vollmond in einen Wolf oder etwas Wolfsähnlichem verwandeln. In diesem Zeitraum verlieren sie alles Menschliche, ein schrecklicher Blutrausch überkommt sie und sie müssen alles und jeden töten, was auch immer ihnen begegnet, egal ob Tier oder Mensch. Sobald aber der Mond untergeht, verwandeln sie sich wieder zurück, werden wieder zu Mann oder Frau und niemand kann erkennen, welche unheimlichen Kräfte in ihnen ruhen.“
„Weißt du auch, wie man zum Werwolf wird?“
„Es geschieht nur sehr selten, aber hin und wieder wird ein Mensch bei dem Angriff eines Werwolfes zwar schwer verletzt, überlebt diesen aber. Es heißt, wenn dieser Mensch, sei es nun Mann oder Frau, seinen Verletzungen in den nächsten vier Wochen nicht erliegt, heilen diese in der nächsten Vollmondnacht vollständig aus. Und in der Nacht darauf wird er selbst zum Werwolf.“
„Und was, denkst du, geschieht, wenn ein Werwolf ein anderes Geschöpf als einen Menschen schwer verletzt, aber nicht tötet?“
„Keine Ahnung! Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Werden die dann auch zu solchen Kreaturen? So wie Wer...schweine? Oder Werschafe?“
Er lachte.
„Nein, das nicht“, gab Odelia ruhig zurück.
Sie lachte nicht. Im Gegenteil, ihre Miene war sehr ernst.
Jost bemerkte das. Es fiel ihm trotzdem nicht leicht, ein Grinsen zu unterdrücken. Er musste gegen die sich ihm aufdrängende Vorstellung von den Hühnern aus Dreieich und wie sie auf blutrünstige Menschenjagd gingen, ankämpfen.
„Es gibt allerdings ein Tier“, fuhr Odelia unbeirrt fort, „das sich durch den Biss eines Werwolfes verwandelt. Und zwar in etwas wie mir.“
Jost wusste, dass er gedanklich nicht immer der Schnellste war.
Er konnte sich gut an die Rätselspiele erinnern, die sie als Kinder gemacht hatten. Bei „Ich steh im Gras am selben Ort, erst gelb, dann weiß, dann flieg ich fort“ oder „Weiß wie Kreide, leicht wie Flaum, weich wie Seide, feucht wie Schaum“ war er immer einer der letzten, die auf die im Grunde sehr einfachen Lösungen kamen.
Doch in diesem Augenblick machte es auch bei ihm Klick.
„Ach so ...“, sagte er, „deswegen hast du schon als Säugling Schmetterlinge gejagt! Und im Wald gespielt! Du bist nicht als Mensch geboren, sondern als Wolf!“
Er betrachtete das hübsche Mädchen in dem verblassten Kleid, das ihm gegenüber saß.
„Das bedeutet“, fuhr er fort, „du verwandelst dich bei Vollmond. Nur eben nicht von einem Menschen in einen Wolf, sondern ...“
„... von einem Wolf in einen Menschen!“, ergänzte Odelia und lächelte.
Jost starrte sie an. Nach einem Zeitraum, der schon ein wenig zu lange war, um nicht gewisse Peinlichkeitsgefühle hervorzurufen, bemerkte er, dass ihm der Mund ziemlich weit offen stand.
„Aha“, sagte er, sehr gedehnt, um eine – wenn auch schwache – Erklärung für sein Mienenspiel zu liefern, „sehr interessant. Aber ... was ich nicht verstehe: Ich habe dich in deiner Gestalt als Wolf kennen gelernt. Aber als solcher du hast mit mir ganz normal geredet und zwar eindeutig in der Sprache der Menschen.“
„Ja, das ist wirklich seltsam. Ich selbst verstehe es auch nicht so richtig. Die meiste Zeit besitze ich meine eigene, wölfische Gestalt, aber dennoch ...“
Sie zögerte, schien nachzudenken.
„Weißt du, es ist nicht nur die Sprache. Dazu gehört ja auch das Denken. Ich streiche als riesiger, gefährlicher Wolf durch die Wälder und all meine Sinne sollten eigentlich darauf ausgerichtet sein, lebende Tiere als Nahrung zu betrachten, sie zu jagen, zu töten und aufzufressen. Aber wenn ich einmal einem Reh auflauere oder auch nur einem Kaninchen und ich sehe diese Tiere und nehme ihren Geruch wahr, dann spüre ich in mir zwar diese wölfische Gier nach ihrem rohem Fleisch, aber gleichzeitig meldet sich jedesmal diese andere Stimme in mir, jene, die sagt: Gott, was sind die niedlich!
Und versuche mal, einem solchen Geschöpf dann noch die Kehle durchzubeißen!
Ich bin vermutlich der erste Wolf in der Geschichte Nauthias, der sich mit dem Gedanken trägt, zum Vegetarier zu werden.“
Vegetarier? Jost hatte das Wort schon einmal gelesen. Es ging dabei um äußerst merkwürdige Sekten, die in den Ebenen beheimatet waren. Diese Leute sollen sich selbst das Verbot auferlegt haben, Fleisch zu essen. Hat man so etwas schon mal gehört?
In den Waldsiedlungen Nauthias war die Nahrung zumeist so knapp, dass man es sich einfach nicht leisten konnte, sich solche merkwürdigen Beschränkungen aufzuerlegen. In den harten, von ständigem Hunger begleiteten Wintern scheute man bisweilen auch nicht davor zurück, Krähen zu braten oder Engerlinge aus dem harten Boden zu graben – mit ein paar getrockneten Kräutern gekocht ergaben eine erstaunlich schmackhafte Suppe.
Im allgemeinen war man ohnehin der Ansicht, dass die Menschen in den Ebenen nicht alle Hühner im Stall hatten, wie man so salopp sagte. Diese vegetarische Sekte war ein Beweis mehr für diese These.
Aber dass ausgerechnet ein Wolf einen Widerwillen gegen Fleisch entwickeln sollte, das überstieg eindeutig Josts Horizont.
„Es ist so“, fuhr Odelia – unbeirrt von Josts erstauntem Blick - fort, „als würde das menschliche Wesen in mir immer mehr wachsen und meine wölfische Natur verdrängen. Ich habe mit Malfalda darüber geredet. Sie nimmt an, es hat damit zu tun, dass Menschen immerfort damit beschäftigt sind, nachzudenken oder sich über ihre gegenwärtigen Gefühle im Klaren zu werden. Und dem Menschen, den ich nach dem Werwolfbiss in mir trage, reicht die kurze Zeit des Vollmondes einfach nicht aus für die viele Denkerei. Weswegen er sich immer mehr in mir ausgebreitet hat.“
„Deswegen diese ... diese Dinge. Ich meine das Bild da an der Wand oder diese Figuren auf dem Kamin.“
Odelia blickte zu Boden.
„Hältst du es für lächerlich?“, fragte sie schüchtern, „ich weiß, ich bin nichts anderes als ein riesiger Wolf mit Zähnen wie Dolchen, der sich bemüht, sich hübsch einzurichten mit Bildern an den Wänden und einer Blumenvase auf dem Tisch, eine Kreatur der Nacht, die manchmal davon träumt, ein Leben unter Menschen zu führen, wie sie zu singen und zu tanzen, zu schwatzen, zu lachen, sich zu verlieben ...“
Erneut durchzog eine sanfte Röte ihr Gesicht.
„Weißt du, ich beobachte euch. Ich streife gerne am Rande eurer Dörfer herum. Des Nachts wage ich mich auch gelegentlich weiter vor, nähere mich euren Häusern, blicke in die hell erleuchteten Fenster, sehe bei dem zu, was ihr so tut. Ich nehme bei dieser Gelegenheit auch so manche Dinge mit, die ihr weg werft.“
Sie deutete mit einer umfassenden Geste auf die bunt zusammen gewürfelte Einrichtung ihrer Wohnhöhle.
„Ich weiß, es wird niemals so sein, aber oft wünsche ich mir – und zwar von ganzem Herzen – für immer das zu sein, was du jetzt in dieser Vollmondnacht vor dir siehst: Ein menschliches Wesen. Nur ein einfaches Mädchen. Keine Klauen, keine Zähne, kein furchterregendes Geheule, dafür Häkeldeckchen auf dem Kopfkissen und eine einarmige Porzellanballerina auf dem Kaminsims.“
 



 
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