Feenkrieg 16

agilo

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Sich einen Weg durch diesen Wald zu bahnen, erwies sich als ausnehmend schwierig. Es gab nur wenige schmale Trampelpfade und das Unterholz war dicht und voller Dornen. Tara, die einen langen und ohnehin schon einige Nummern zu großen Rock trug, lief ständig Gefahr, an diesen hängen zu bleiben.
„Ein nicht gerade praktisches Kleidungsstück!“, bemerkte Erc, als sie sich einmal mehr in einen Brombeerstrauch verhedderte. Er selbst war immer in Sichtweite von ihr unterwegs und hüpfte dabei mit der Leichtigkeit eines Eichhörnchens von Ast zu Ast.
„Du hast leicht Reden“, gab Tara nicht ohne Verärgerung zurück, während sie ihren Rock zum wiederholten Male unter Zurücklassung einiger Stofffetzen aus dem Gestrüpp befreite, „schließlich habe ich, als ich mich heute morgen anzog, nicht unbedingt damit gerechnet, durch einen dichten Wald im Feenland zu stapfen und das auf Wegen, die vermutlich von wilden Tieren angelegt wurden.“
„Mit Letzterem hast du sicherlich recht. Feen bauen keine Straßen. Wozu sollten sie auch? Dies ist wohl ein Wildwechselpfad.“
Tara hatte sich nun – vorerst - von den dornigen Sträuchern befreit und pflückte – gewissermaßen als süße Entschädigung für ihre Mühen – ein paar der dunklen Brombeeren.
Erc hatte sich währenddessen auf einem Ast niedergelassen, der so dünn war, dass er auf Tara den Eindruck machte, schon das Gewicht einer Krähe könne ihn zum Umknicken bringen. Erc dagegen war ein ausgewachsener, wenn auch schlank gebauter Mann.
„Aus deinen Bemerkungen schließe ich, dass die Wege wohl nicht besser werden.“, stellte sie fest.
„Nein, vermutlich nicht. Zumindest nicht, solange wir im Wald unterwegs sind. Ich selbst kann das allerdings – offen gestanden – nur unzureichend einschätzen. Weißt du, wir Feen sind es einfach nicht gewohnt, auf die Bedingungen zum Vorwärtskommen zu achten, sofern sie sich in Bodennähe befinden. Bei uns spielen im Allgemeinen andere Faktoren eine Rolle. Windrichtung, Wolken, Luftdruck, du weißt schon.“
Natürlich wusste Tara nicht! Schließlich war das Fliegen für sie eine völlig neuartige und ungewohnte Möglichkeit, sich fortzubewegen. Und während ihres Ritts auf der Drachin hätte sie sich sicher als letztes Gedanken über den Luftdruck gemacht, zumal sie keine Ahnung hatte, was das überhaupt sein sollte. Wird man da von der Luft gedrückt? Irgendwie umarmt? Und wenn ja, warum? Tara konnte sich jedenfalls nicht erinnern, je besonders nett zu der Luft gewesen zu sein, dass sie eine solche freundliche Geste verdient hätte.
Sie schüttelte die unsinnigen Gedanken über die Luft ab, kostete eine der Beeren. Sie war süß und aromatisch. Genauso wie die Brombeeren in Nauthia.
„Und es gibt keinen anderen Weg?“, fragte sie.
Erc sah sie lange an. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, was ihm einen durchdringenden, schwer einschätzbaren Blick verlieh.
„Es gäbe da schon einen anderen Weg“, sagte er, „aber er wäre viel zu gefährlich. Die Schwebende Königin würde mir es nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde, noch bevor wir überhaupt am Hohlen Berg sind.“
„Ach, und danach wäre es für sie in Ordnung?“, fragte Tara spitz.
„Nein, nein, versteh` mich nicht falsch!“, zu Taras Erstaunen wurde er tatsächlich ein wenig rot, „so habe ich das doch nicht gemeint. Glaub mir, der Schwebenden Königin liegt sehr viel an dir!“
„So? Das ist allerdings erstaunlich, wo sie mich doch gar nicht kennt.“
„Ich glaube, sie kennt dich besser, als du denkst.“
Was meinte er nur damit? Hatte sie Spione auf sie angesetzt? Oder sie heimlich beobachtet durch einen Blick auf die Wasseroberfläche eines dieser magischen Brunnen, von denen Jost einmal gelesen hatte? Nun, das wohl nicht, denn Brunnen waren bekanntlich nicht nur auf dem, sondern zumeist auch tief im Erdboden, einem Ort, an dem sich ein solches Luftwesen sicher kaum aufzuhalten gedachte.
Auf jeden Fall aber wurde ihr diese Schwebende Königin immer unheimlicher. Und sie fragte sich, warum sie selbst so bereitwillig damit einverstanden gewesen war, im Auftrag dieser merkwürdigen, ihr völlig unbekannten Feenherrscherin durch einen dichten, ungastlichen Wald zu stapfen, um einen gewissen Orcus, von dem sie bis zu diesem Tag ebenfalls noch nie etwas gehört hatte, zu bekämpfen. Was war, wenn nun dieser Orcus der eigentlich Nette war, die Schwebende Königin dagegen eine jener durchtriebenen Kinderräuberinnen, wie man sie in Nauthia von so vielen Geschichten und Sagen her kannte?
Aber nein! Da war die Geflügelte Schwadron, da war Leutnant Funkenhuf und die Gefreite Tarasque und Tara wusste im Tiefsten ihres Herzens, dass diese nie jemandem folgen würden, der von Grund auf schlecht war.
„Und was hat es nun mit dem anderen Weg auf sich?“, fragte sie - sich aus ihren Grübeleien reißend – den Halbfeenmann.
„Es gibt da eine große Blumenwiese“, begann er zögernd, „wenn wir den Weg durch sie hindurch wählen, könnten wir ein ganzes Stück abkürzen.“
„Na, das klingt doch gut! Warum machen wir das dann nicht einfach?“
Erc kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.
„Da gibt es verschiedene Gründe. Zum einen bietet diese Wiese natürlich nach oben hin keinen so guten Sichtschutz wie der Wald. Orcus` Wächter könnten dich und auch mich viel leichter entdecken. Außerdem käme ich auf diesem Terrain nicht so gut voran. Es gibt zwar ein paar vereinzelt stehende Bäume auf der Wiese, aber die meiste Zeit wäre ich darauf angewiesen, über Blütenköpfe zu laufen. Das ginge ja auch noch, denn viele der Blumen auf dieser Wiese sind sehr hoch gewachsen, so dass ich einen ausreichenden Abstand zum Erdboden halten kann...“
Erc zögerte kurz.
„Das Problem ist nur“, fuhr er fort, „den Blumen wird das nicht gefallen. Die reagieren manchmal sehr empfindlich, wenn man auf ihnen herum trampelt.“
Tara fiel die Kinnlade herunter.
„Willst du etwa damit sagen, dass ich mich hier durch Unterholz und Dornengestrüpp kämpfe, ständig mit den Haaren in Ästen hängen bleibe und mir die Kleidung zerreiße, weil du Rücksicht nimmst auf die Gefühle von ... Blumen?“
„Du stammst aus dem Menschenland“, verteidigte sich Erc, „so etwas wie die Blumen auf der Murmelwiese kennst du nicht, sonst würdest du anders reden.“
„Murmelwiese?“, fragte Tara, „ist das der Name dieses Ortes? Gibt es da etwa Murmeltiere?“
„Ich habe keine Ahnung, was Murmeltiere sind ...“, sagte Erc und Tara wurde im selben Moment klar, dass dies vermutlich der Wahrheit entsprach – schließlich lebten solche Luftwesen wie die Feen in völlig anderen Sphären als tiefe, unterirdische Gänge grabende Nagetiere. Selbst ein von Ast zu Ast hüpfender Halbfeenmann kam wohl kaum in jene baumlosen Hochgebirgsregionen, in denen Murmeltiere für gewöhnlich anzutreffen waren.
„... aber woher der Name dieser Blumenwiese kommt, weiß ich ganz genau.“
„Und woher kommt er?“
„Das darfst du selbst herausfinden. Keine Sorge, es ist kein großes Rätsel. Wir müssen in Richtung Osten.“
Er lief los.
Tara folgte – etwas langsamer als dieser, mit dem Gestrüpp kämpfend und gelegentlich leise vor sich hin fluchend – dem Halbfeenmann auf dem Weg zu jener Wiese mit dem seltsamen Namen.

„Murmelmurmelmurmelmurmelmurmelmurmelmurmel!“
Woher die Wiese gerade diesen Namen hatte, war tatsächlich keinesfalls rätselhaft.
Tara stand auf einer leichten Anhöhe am Rande der Blumenwiese. Westlich von ihr befand sich der Wald, aus dem sie gerade gekommen war. Ansonsten erstreckte sich aber in alle Himmelsrichtungen und über viele Meilen hinweg eine Blütenpracht, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Es gab jede nur erdenkliche Farbe, sämtliche Nuancen von Rot, Blau und Gelb waren vertreten, da waren Blumen in Form von Rosen, mit Blütenblättern so schwarz glänzend wie das Gefieder eines Kolkraben oder Margeriten, so strahlend weiß wie die erste Schneeflocke an einem kalten Novembermorgen. In dieser schier unfassbaren Farbenpracht befanden sich sogar einige Töne, von denen sie keine Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gab. Dabei waren die Blütenköpfe und –blätter so unterschiedlich geformt, als wären jede einzelne Pflanze von einer eigenen, von allen anderen völlig verschiedenen Art.
Sämtliche Blumen waren sehr hoch gewachsen. Tara nahm an, dass ihr auch die niedrigen mindestens bis zur Hüfte reichten, dazwischen gab es aber auch einige, die die Höhe von Apfelbäumen erreichten und deren Blütenköpfe den Durchmesser von Wagenrädern deutlich überschritten.
„Das ist ja ...“, murmelte sie, beendete den Satz jedoch nicht, da ihr partout kein Wort einfallen wollte, das geeignet genug schien, diesen überwältigenden Anblick auch nur annähernd zu beschreiben.
Tara war verzaubert.
Das einzige, was diesen malerischen Eindruck ein wenig störte, war dieses ständige, laute Gemurmel. Sie hatte so etwas noch nie gehört und sie brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, was diese Geräusche verursachte. Es waren Stimmen. Nicht zwei oder drei oder zehn, sondern so viele, dass Tara deren Zahl in Worten nicht auszudrücken wusste. (Weiter wie bis achtundzwanzig – so viele Ziegen hatte sie im vergangenen Sommer gehütet – hatte sie nie zu zählen gelernt).
Diese Stimmen waren so hoch wie die von Kindern, dabei aber leicht krächzend, ihre Sprachmelodie erinnerte an eine verstimmte Fiedel, die von einem blutigen Anfänger gespielt wurde. Sie redeten unentwegt durcheinander, so als wäre jedem einzelnen der Sprecher daran gelegen, alles, was ihm auf dem Herzen lag, loszuwerden, ohne sich dabei auch nur einen Deut dafür zu interessieren, was der andere zu sagen hatte. Es fiel Tara schwer, aus diesem Stimmengewirr auch nur einige Laute herauszufiltern, aber so nach und nach verstand sie einzelne Worte und Satzfetzen.
Man unterhielt sich offenbar über das Wetter!
Und das gleich hundert- und sogar tausendfach, sogar häufiger noch als achtundzwanzig Mal.
Sie versuchte, herauszufinden, woher diese Stimmen kamen. Möglicherweise versteckten sich ja irgendwelche Wesen zwischen den Blumen, weitere Halb- oder gar Viertelfeen – wenn es so was gab - , womöglich sogar Kobolde, Wichtelmännchen oder sprachbegabte Kaninchen.
Doch sie sah nur ein paar Bienen und Grashüpfer, ansonsten ausschließlich Blumen, Blumen, Blumen.
Langsam verstand sie. Sie sah Erc an.
„Sprechende Blumen?“, fragte sie ihn ungläubig, „wie ist das möglich?“
„Ich weiß es nicht. Manche sagen, es läge einfach nur daran, dass die Konzentration der Magie hier besonders stark ist. Andere dagegen behaupten, diese Blumen seien verzaubert worden von Elgost, dem Sanften, einem Feenkönig, der dieses Land schon vor vielen Tausend Jahren verlassen hat.“
„Verzaubert?“, fragte Tara, „aber wieso sollte man Blumen derart verzaubern?“
„Dieser Elgost – so erzählte man – war ein großer Freund von allem Schönen und Prächtigen. Er war ein Förderer des Wolkentanzes, ein Liebhaber der Gesangeskunst und der Poesie. Den Liebreiz der Blumen aber liebte er mehr als alles andere. Und so hatte er die Idee, eine gewaltige Wiese voller riesiger Blumen anlegen lassen. Über diese schwebte er dann oft dahin, sang Hymnen voller Erhabenheit und Harmonie, während er die Pracht der Farben genoss.“
Das hört sich so an, dachte Tara, als sei dieser Elgost ein gewaltiger Spinner gewesen. „Schließlich hatte er irgendwann den Einfall“, fuhr Erc fort, „den Pflanzen hier Stimmen zu verleihen. Seine Hoffnung war es gewesen, dass diese auf dieselbe Art sein Ohr erfreuten wie es die Farbenpracht ihrer Blüten mit seinen Augen taten. Er war überzeugt, die Stimmen der Blumen auf dieser Wiese konnten nur von einen angenehmen Wohlklang sein und ihre Sprache so formvollendet wie ein Sonett von Sirena Sternenstaub.“
Wohltönende Stimmen, formvollendete Sprache?
Da hatte sich jemand wohl ganz gewaltig geirrt. Tara konnte sich nicht erinnern, Worte wie „Sonne“, „Regen“ oder „Frühtau“ jemals in solch schriller, misstönender Art und Weise ausgesprochen gehört zu haben.
Und wer war eigentlich Sirena Sternenstaub?
„Na ja, letztendlich hat man König Elgost auf freundliche, aber unmissverständliche Weise nahe gelegt, auf seine Ämter zu verzichten und das Feenland zu verlassen. Der Sage nach ging er er nach Südosten, in das Wüstenland Ladonis, der Heimat der Drachen und Lindwürmer. Blumen sind dort eher selten anzutreffen.“
Was für eine merkwürdige Geschichte, dachte Tara, die stand ganz sicher nicht in Coldars Büchern.
Sie betrachtete die gewaltige Blumenwiese. Diese Stimmen waren schon gewöhnungsbedürftig. Aber unter all den Pflanzen entdeckte sie keine einzige, die mit Dornen bewehrt war, auch jene, deren Blüten sie eindeutig an Rosen erinnerten, hatten gleichmäßige Stiele und glatte Blätter.
„Und?“, fragte Erc, „was sagst du? Sollen wir unseren Weg da hindurch bahnen oder gehen wir wieder zurück in den Wald?“
„Weißt du, wie man mich in meiner Heimat nennt?“
Erc sah sie verblüfft an.
„Na, Tara, denke ich doch.“
„Richtig!“, gab das Mädchen fröhlich zurück, „Tara! Tara Blumentochter! Mit diesem Namen bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Lass uns den Weg durch die Wiese nehmen!“
 



 
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