Feenkrieg 17

agilo

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Tara musste bald feststellen, dass die Blumen auf der Murmelwiese nicht ausschließlich über das Wetter redeten. Sie taten es natürlich hauptsächlich, aber das nur, weil sich schwerlich ein anderes Gesprächsthema finden ließ, wenn man sein ganzes Pflanzenleben an einer Stelle inmitten seinesgleichen fest gewachsen und den Unbillen der Natur schonungslos ausgeliefert in der Erde saß.
Wovon sie allerdings naturgemäß noch sehr häufig sprachen, waren Bienen.
Doch in dem Moment, in dem Tara die Wiese betreten und begonnen hatte, sich vorsichtig zwischen den glatten Stängeln hindurch zu arbeiten, begann eine völlig neue Ära, was die Inhalte der Konversation der Blumen anging.
„Was ist denn das?!“ fragte eine schrille Margerite.
„Ein merkwürdiges Wesen. Es hat zwei Beine wie eine Fee, aber es fliegt nicht!“, gab ein Krokus verwundert zurück.
„Wieso braucht eine Fee überhaupt Beine, wenn sie nur immerzu fliegt?“, warf eine nachdenklich veranlagte Tulpe ein.
„Auf jeden Fall ist das ungehörig!“, äußerte sich eine zänkische Butterblume.
„Genau!“, pflichteten ihr zwei nebeneinander stehende Schwertlilien unisono bei, „dies ist eine Wiese für Blumen und nicht für nichtfliegende Feen!“
„Aber ich will hier doch nur hindurch gehen“, sagte Tara, „und ich verspreche, dass ich auch nichts pflü... berühre.“
„Das wäre ja auch noch schöner!“, äußerte eine sehr pikiert klingende Primel, „hier hat schließlich alles seine Ordnung.“
„Au! Au! Was für eine Unverschämtheit!“, schrie in einigen Schritten Entfernung eine Gladiole auf und eine ganze Reihe von Sonnenblumen schlossen sich diesen entrüsteten Äußerungen an.
Erc hatte sich also ebenso auf den Weg gemacht. Er erschien nun neben Tara, wobei er auf einer griesgrämig vor sich hin grummelnden Dahlie balancierte.
„Ich habe es dir ja gesagt: Es wird ihnen nicht gefallen.“
„Sind sie immer so?“, fragte Tara im Flüsterton.
„Du kannst ruhig laut reden“, sagte Erc, „sie verstehen ohnehin jedes Wort, das du sagst. Nicht, dass es sie sonderlich interessieren würde ...“
Tara sah sich um. Das war schon erstaunlich. Schließlich konnte sie an keiner der Blumen, und zwar weder an deren Blüten noch an den Stängeln, irgendetwas entdecken, was diese dazu befähigen könnte, Geräusche wahrzunehmen. Wobei das natürlich auch äußerst merkwürdig aussehen würde: Blumen mit Ohren!
Aber sie besaßen ja auch keine Münder und quasselten doch in einem fort. Im Feenland, das hatte sie mittlerweile begriffen, musste man eben mit seltsamsten Dingen rechnen. Fliegende Affen, quengelnde Blumen, Drachen, Halbfeen und Mutvögel – wer wusste schon, welchen Geschöpfen sie noch begegnen würde auf ihrer Reise?
Aber trotz aller Fremdartigkeit erinnerten diese Pflanzen Tara an irgendetwas oder eher noch an irgendjemanden, sie kam nur nicht dahinter, an wen.
„Sie sieht merkwürdig aus“, bemerkte indessen eine Narzisse und meinte damit Tara.
„Ja, so anders!“, schloss sich eine Kamille dieser Einschätzung an, „Sie gehört ganz sicher nicht hierher. Eine Fremde!“
„Was sind das für Zeiten!“, seufzte ein Stiefmütterchen, „in denen Fremde einfach durch unsere Wiese laufen. Früher hätte es das nicht gegeben!“
Und jetzt – mit dieser letzten Bemerkung - fiel es Tara ein. Es gab in Dreieich – direkt neben dem Dorfbrunnen - eine einfache Sitzbank, nichts weiter als ein der Länge nach halbierter Holzstamm. Dort trafen sich an schönen Tagen die Alten. Diese führten zumeist sehr angeregte und erstaunlich ausdauernde Unterhaltungen. Jedes Mal, wenn Tara Wasser holen ging, hatte sie so nebenbei auch Gelegenheit, diesen Gesprächen zu lauschen.
Zumeist plauderten die alten Dreieicher über das Wetter. Ein weiteres, sehr häufig angesprochenes Thema waren jene sagenhaften, lange vergangenen Jahre ihrer Jugend, einem fernen Zeitalter, das sich offenbar dadurch auszeichnete, dass in ihm so ziemlich alles besser war: die Sommer waren angenehmer, die Winter milder, das Gras grüner und der Himmel blauer. Außerdem waren sie sich alle darüber einig, dass die Menschen damals nicht nur viel tugendhafter waren, sondern so ehrlich, dass sie das Wort Lüge gar nicht kannten und dazu so ausgesucht höflich miteinander verkehrten, dass das Wort „du“ sogar im engsten Familienkreis selten Verwendung fand. Vor allem aber gingen sie sehr respektvoll um mit jenen, die dies verdienten: nämlich den Alten.
Darüber hinaus waren in jenen fernen Tagen die Gesetze hart, aber gerecht, die Götter unduldsam, das Leben war unkompliziert und – aufgrund der vielen Kriege, Seuchen und Hungersnöte – zumeist auch sehr kurz.
Wenn diese Gespräche einmal den eher selten beschrittenen Weg ins Hier und Jetzt fanden, pflegten die Alten die verwirrende Angewohnheit, ständig und gerne abfällig über andere Leute zu sprechen, sogar – und manchmal wohl auch vor allem -, wenn diese zugegen waren.
„Sind diese Blumen schon … sehr alt?“, fragte Tara Erc.
„Nun, das ist unterschiedlich. Aber einige von ihnen stehen sicher schon auf der Wiese, seit diese von Elgost, dem Sanften angelegt wurde. Und das ist schon ein paar Jahrhunderte her. Für Feen natürlich nur eine kurze Zeitspanne, für Menschen und Blumen allerdings … wieso fragst du überhaupt?“
„Ach, nicht so wichtig. Die Blumen hier haben mich nur an jemanden erinnert. Wie lange wird es wohl dauern, diese Wiese zu durchqueren?“
„Das wird einige Stunden in Anspruch nehmen. Denkst du, du hältst das aus? Mit all dem Gerede?“
„Das ist kein Problem. Ich bin schließlich Ziegenhirtin. Was glaubst du, was das für ein Krach ist, wenn du von zwanzig oder sogar achtundzwanzig dieser unentwegt meckernden Tiere umgeben bist? Man lernt schnell, so etwas auszublenden.“
„Aber diese Blumen sind keine Ziegen. Sie meckern nicht, sondern sprechen.“
„Ach, ich glaube nicht, dass das ein so großer Unterschied ist!“
Sie gingen weiter. Zwischen den einzelnen Blumenstängeln war zum Glück ausreichend Platz, so dass Tara selten einmal einen davon berührte. Tat sie es doch, rief sie jedes mal einen mehr oder weniger unwirschen Kommentar hervor. Erc, der von Blütenkopf zu Blütenkopf hüpfte, musste dagegen andauernd einen wahren Schwall von übelsten Beschimpfungen über sich ergehen lassen.
Einzig der kleine unauffällige Mutvogel, der Tara nach wie vor begleitete und sie dabei immer in einem Abstand von höchstens fünfzig Fuß umflatterte, wurde nicht Bestandteil des Blumentratsches. Er hielt sich aber auch ausreichend von den Blüten fern.
So waren sie einige Stunden unterwegs. Die Sonne stand nun schon sehr flach, hatte aber immer noch ausreichend Kraft, so dass sie Tara in den Nacken brannte.
Das Mädchen blickte in den Himmel, hoffte, das eine oder andere Wölkchen darin zu entdecken, welches sich vor die Sonne schieben und ihr so ein wenig Linderung verschaffen könnte.
Als hätten sie nur auf diesen Wunsch gewartet, krochen nun tatsächlich zwei fast kreisrunde, fette Wolken über den Himmel. Sie waren sehr dunkel, fast so schwarz wie Gewitterwolken und wirkten sehr kompakt. Irgendwie machten sie den Eindruck von etwas Künstlichem, Unechtem, ganz so, als seien sie nicht auf natürlicher Weise entstanden, sondern gemacht worden und zwar von jemanden, der zwar eine ungefähre Ahnung hatte, wie diese Himmelsgebilde aussehen sollten, aber nicht über die notwendige Geschicklichkeit verfügte, sie so nachzubauen, dass sie wirklich authentisch wirkten.
Tara musste unwillkürlich an die Art von Wolken denken, wie sie kleine Kinder malten: Die Ränder waren durch die Striche der Buntstifte klar begrenzt und bestanden aus viel zu gleichmäßigen Bögen, in ihrer Form waren sie sehr gleichmäßig und eher rund oder auch leicht oval – insgesamt ähnelten sie zumeist eher Malfaldas köstlichen Leberknödeln als dem, was man tagtäglich am Himmel über Dreieich sehen konnte.
Tara wies mit dem Finger nach oben.
„Erc!“, rief sie, „was ist das?!“
Aber sie wusste es selbst. Schon einmal hatte sie solche merkwürdigen Wolken gesehen. Und sie konnte sich daran erinnern, als was Leutnant Funkenhuf diese Gebilde bezeichnet hatte: Dunkle Geschöpfe hatte er sie genannt, Spione, die von Orcus ausgeschickt worden waren, um ihr nachzustellen!
Ercs Blick ging in die Richtung, in die sie wies.
Für einen kurzen Moment verharrte er völlig reglos, während er gleichzeitig auf einer rosafarbenen Begonienblüte balancierte.
„Verflucht“, murmelte er, „das ist schlecht, sehr schlecht.“
In seiner Stimme schwang Anspannung mit, vielleicht sogar eine Spur Furcht.
„Was ist?“, fragte Tara den Halbfeenmann, „das sind Wolken. Die können uns doch nichts anhaben! Oder?!“
„Die Wolken nicht“, antwortete Erc, „aber die da!“
Er deutete ebenfalls in den Himmel, in die Richtung, aus welcher zuvor die Wolken – die nun mittlerweile fast den Zenit des Abendhimmels erreicht hatten – gekommen waren.
Es dauerte einen Moment, bis Tara begriff.
So etwas hatte sie schließlich noch nie zuvor gesehen.
Es war ungefähr ein Dutzend. Sie flogen in einer Dreiecksformation, so wie Tara es von Zugvögeln her kannte. Ihre großen, kräftig wirkenden Körper lagen flach in der Luft, ein jeder von ihnen hatte seine Arme seitlich von sich gestreckt, wobei sie jeweils in der Linken so etwas wie eine lange Stange in der Hand liegen hatten – vermutlich Lanzen oder Wurfspieße.
Auch ohne dass Erc dies nun noch näher hätte erläutern müssen, wusste Tara es:
Dies waren die Krieger von Orcus!
Sie waren auf der Suche!
Auf der Suche nach ihr!
Und es sah so aus, als hätten sie sie gefunden!
 



 
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