Feenkrieg 6

agilo

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6.
Tara fror. Trotz des Mantels, den sie fest um sich geschlungen hatte, war ihr so kalt, als sei es mitten im tiefsten Winter und nicht gerade eben zwei Wochen nach der Sommersonnenwende. Aber die Gefreite Tarasque hat ihr erklärt, dass es eben so sei hoch oben in den Lüften. Aber abgesehen davon hatte Tara immer noch ihren Spaß an der Fliegerei. Sie liebte den Wind, der ihr entgegen strömte, die Geschwindigkeit, mit der die Drachin die Luft durchschnitt und dieses Gefühl der Leichtigkeit, ja, fast Schwerelosigkeit. Aber vor allem liebte sie es, nun so fern von all den Dingen zu sein, die ihr ganzes bisheriges Leben ausgemacht hatten: die Hänseleien der Kinder und das Getuschel der Erwachsenen, die furchtbare Langeweile des Dorflebens, die ihr auch Jost nicht immer hatte nehmen können mit seinen Geschichten von Abenteuern und fremden Wesen, und diese ständigen Belehrungen Malfaldas, auch wenn Tara ihrer Großmutter natürlich immer allen Respekt entgegengebracht hatte und sie natürlich liebte – auch wenn Malfalda jemand war, der gerade dies anderen nicht immer leicht machte.
Das Mädchen würde nun auf dem Rücken eines echten Drachen über die Grenze fliegen in eine neue Welt, in die Heimat der Geschöpfe, die um sie herum waren, zu dem Ort der uralten Sagen und Märchen, in das geheimnisvolle Land der Feen.
Sie musste nichts weiter tun als auf dem Rücken von Tarasque die Hügel überwinden, die Nauthia von jener Welt trennte. Aber je mehr sie sich den Markbergen näherten, desto mehr wurde ihr auch klar, wie riesig und gewaltig diese waren, denn der ganze Hauptkamm dieses Gebirges türmte sich nach wie vor weit oberhalb der Flughöhe der Geflügelten Schwadron auf wie eine schroffe, urwüchsige Mauer aus Fels und Eis.
Sie deutete nach oben, dorthin, wo dieser mächtige Wall direkt in das blasse Grau der Wolken hineinzuwachsen schien.
„Müssen wir nicht nach dort oben, wenn wir über die Berge hinweg fliegen wollen?“, fragte sie die Gefreite Tarasque.
„Das wäre eine Möglichkeit“, antwortete diese, „aber außer mir wäre wohl niemand in dieser Einheit in der Lage, in solch einer Höhe zu fliegen. Die Luft ist dort sehr dünn.“
„Dünne Luft?“, Tara verstand nichts, „wie kann Luft dünn sein? Luft ist doch ... na ja, nichts. Man kann sie nicht sehen und nicht berühren.“
„Oh, Luft ist viel mehr und auch von größerer Festigkeit, als du vielleicht glauben magst. Und sie kann sehr viel Kraft aufbringen. Du hast doch sicher schon mal einen Sturm erlebt?“
„Die meisten Leute im Dorf sagen, dass die heftigen Winde dadurch entstehen, dass der Gott Donezil niest. Und der Donner ist sein Husten.“
„Und glaubst du das auch?“
„Na ja, laut Bardur und den anderen Anhängern des Donnergottes ist Donezil ein ungemein mächtiges und allwissendes Wesen. Man sollte doch eigentlich meinen, dass sich so jemand gegen eine einfache Erkältung zu schützen weiß.“
Tarasque lachte.
„Nun ja, vielleicht kann ich dir bei anderer Gelegenheit etwas mehr über die wahre Natur der Luft erzählen, natürlich auch über die Luft im Feenland, die ganz anders ist als jene in deiner Heimat. Aber unabhängig davon kann ich mit dir auch deswegen nicht über den Hauptkamm hinwegfliegen, weil es dort so kalt ist, dass du innerhalb kürzester Zeit erfrieren würdest.“
„Aber wie kommen wir auf die andere Seite?“
„Es gibt viele Höhlen, die sich quer durch das ganze Massiv ziehen, so weiträumig und zerklüftet, dass sie sogar ein Roch mit ausgestreckten Schwingen fliegend durchqueren könnte. Man sagt, sie wurden einstmals von einem lange ausgestorbenen Volk, dass als Dwergaz bekannt war, geschaffen.“
„Wie groß ist denn so ein Roch?“
„Sehr groß. Aber unser Problem wird nicht der Platz sein, den wir dort haben.“
„Ich muss eure kleine Plauderei leider ein wenig stören“, sagte Leutnant Funkenhuf, der wieder an Taras Seite heran geglitten war, „Gefreiter Pfeilzahn ist uns etwas vorausgeflogen, um das Terrain zu erkunden. Er kam gerade mit seinem Bericht zurück.“
Er deutete mit seinem Pferdekopf auf einen schlanken, geflügelten Hecht, der sich mit einigen Schlägen seiner Fischflügel an der Seite des Pegasos hielt.
„Direkt vor uns befindet sich der Eingang zu einer Höhle. Und sie scheint sicher zu sein.“
Tara fragte sich, auf welche Weise der Gefreite Pfeilzahn dies wohl seinem Leutnant mitgeteilt hat. Denn wie auch die ihr vertrauten durchwegs im Wasser des Taron lebenden Fische schienen auch ihre geflügelten Vettern aus dem Feenland keine Möglichkeit zu haben, sich durch irgendeine Art von Sprache zu äußern.
„Sicher?“, fragte sie, „wovor sicher?“
Der große Drachenkopf wandte sich dem Pegasos zu.
„Du solltest es ihr sagen, Leutnant.“
Der angesprochene zögerte einen Augenblick.
„Hast schon einmal von den Greifen gehört?“, fragte er Tara.
„Ich habe Bilder von ihnen gesehen“, antwortete sie, „in den Büchern über Wesen, die die Menschen als den Fabeln und Märchen zugehörig betrachten.“
„Ich nehme an, dass sich dort auch Abbildungen von mir finden lassen. Oder von einigen anderen Mitgliedern der Fliegenden Schwadron wie beispielsweise der Gefreiten Tarasque.“
„Ja, allerdings. Wobei die Menschen an der tatsächlichen Existenz von Drachen nie gezweifelt haben. Man geht allerdings davon aus, dass sie seit langer Zeit ausgestorben sind.“
Tarasque äußerte sich nicht dazu.
„Gut, dann weißt du ja, was ein Greif ist. Man zählt ihn – wie im Übrigen auch mich – zu den sogenannten chimärischen Wesen. Sein Körper ist der eines ausgewachsenen Löwen mit mächtigen Pranken und messerscharfen Krallen, der Kopf aber und die großen Schwingen sind die eines Adlers. Einstmals – als der Rat der Feen nach den Kriegen gegen die Schöpfer beschloss, seine Heimat von der Welt der Menschen für immer abzutrennen – wurden diese Wesen verpflichtet, um für alle Zeiten die Grenzen zu schützen und jeden, der diese übertreten will, zu vernichten. Sie sind sehr erfolgreich bei der Erfüllung dieser Aufgabe. Unzählige Knochen von Feen und Menschen, aber auch von anderen Wesen aller Art verrotten in der Einsamkeit der Schluchten zwischen diesen Gipfeln.“
Sie näherten sich nun der steilen Südflanke eines dieser mächtigen Markberge. Im Dunst der Wolken konnte Tara vage einen etwas dunkleren Fleck im hellen Grauweiß der von Schnee und Eis bedeckten Granitfelsen erkennen. Beim Näherkommen wurde ihr klar, dass dies der Eingang eines gewaltigen Höhle war. Ohne ihre Geschwindigkeit zu verringern, hielt die Drachin direkt auf diesen Fleck zu. Leutnant Funkenhuf hielt sich weiter neben ihr.
„Aber ihr habt doch die Markberge bereits einmal überwunden“, meinte Tara, an den Pegasos gewandt, „also können diese Greife ja wohl nicht so erfolgreich sein. Außerdem gibt es in der Welt der Menschen Feen. Die müssen ja auch von irgendwoher gekommen sein.“
„Abzüglich der Menschen, die sich in betrügerischer Absicht als Feen ausgeben, sind das nur wenige: Ausgestoßene, die ein Verbrechen begangen haben oder Unvorsichtige, deren Magie ihnen von der Großen Mutter genommen wurde. Sie sind die einzigen, denen der Rat und die Greife freien Durchzug durch die Markberge gewähren. Die Welt der Menschen ist für diese Feen eine Bestrafung, ein grausames Exil. Und dass die Geflügelte Schwadron diese Berge einmal überwunden hat, ohne von Greifen getötet zu werden, war eigentlich schon ein kaum vorstellbares Glück. Dass uns dieses gleich zweimal hold sein wird, erscheint mir fast als unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich.“
„Aber dennoch versucht ihr es?“
Der Pegasos ließ ein wieherndes Lachen vernehmen.
„Das ist das Motto dieser Einheit: Wir stellen uns dem Unmöglichen!“
Tara starrte den Anführer dieser merkwürdigen Ansammlung geflügelter Wesen an.
„Klingt irgendwie dämlich“, sagte sie nach einer Pause und so leise, dass sie Leutnant Funkenhuf bei dem Lärm des Fahrtwindes nicht hören konnte.
Sie näherten sich dem Höhleneingang mit atemberauberender Geschwindigkeit. Tara sah dieses schwarze Loch regelrecht auf sich zufliegen, bis es direkt vor ihr erschien als der gewaltigste Höhleneingang, den sie je gesehen hatte. Sie tauchten ein in die Dunkelheit, doch für einen Augenblick – kurz bevor sie die Gipfel über ihr aus den Augen verlor – meinte sie, etwas zu sehen, einen Schatten, einen diffusen Umriss, der gut einige hundert Ellen höher als die Fliegende Schwadron seine Kreise zu drehen schien. Im nächsten Augenblick allerdings waren sie umgeben von mit glitzerndem Eis überzogenen Fels.
 



 
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