Feenkrieg 7

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agilo

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Es war spät geworden. Dunkelheit machte sich breit, kroch in das Kaminzimmer des Coldar hinein wie ein vertrauter Feind, strich – lange Schatten hinter sich herziehend – über die gewaltigen Bücherregale, eroberte vollständig die Winkel und Ecken, während sie einzig den großen Tisch in der Mitte mied, im trüben und flackernden Licht zweier Talgkerzen darauf lauernd, dass diese erloschen.
Es war ein langer, furchtbarer Tag gewesen für Jost. Er hatte den Dorfbewohnern seine Beobachtungen schildern müssen, war pflichtschuldig mit den Männern durch die Wälder gestreift auf der Suche nach Tara, hatte dort bei jeden kleinsten Geräusch gelauscht in der Hoffnung, dass dies ein Hinweis sein konnte, er hatte nach ihr gerufen, so laut und so oft, dass ihm irgendwann seine Stimme versagte und war sich doch die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass sie, so wie alle Kinder und Jugendlichen, die das Feenvolk erst einmal entführt hatte, nie wiederkehren würde. Mit hängenden Köpfen waren sie zurückgekehrt von ihrer Suche, denn auch, wenn Tara für viele nur das Findelkind war, ein feeischer Wechselbalg, wie manche sagten, so war sie doch eine der ihren gewesen, ein Mitglied dieser Dorfgemeinschaft, das in den Herzen aller – sogar in denen von Männern wie Josts Vater oder Mago, dem Bierbrauer - zumindest einen kleinen Platz hatte.
Nun saß er hier, dem alten Gelehrten gegenüber, an jenem Ort, der für ihn immer mehr Heimat bedeutet und ein Gefühl von Vertraulichkeit vermittelt hatte als sein eigenes Elternhaus. Auf seinem Schoß ruhte, gut gefettet und eingewickelt in Stoff- und Lederresten, sein geheimes Gesellenstück.
Coldar trug ein altes, verblassendes, an den Ellenbogen schon leicht fadenscheiniges Hemd aus roter Spinnenseide. Solche Kleidungsstücke gab es in Nauthia normalerweise nicht, es war eines der vielen fremdartigen Dinge, die der alte Gelehrte bei sich hatte, als er vor fast zwanzig Jahren nach Dreieich zurückgekehrt war. An der Art, wie es an ihm herunterhing, wie die dünnen blassen Arme aus den viel zu weiten Ärmeln herauslugten, konnte Jost erkennen, um wie viel kräftiger Coldar in früheren Jahren gewesen sein musste. Auch das Gesicht schien seit langer Zeit immer mehr zusammenzuschrumpfen, so dass man fast den Eindruck haben konnte, es wolle sich hinter dem dichten, weißen Bart verstecken. Einzig die lange, knochige Nase mit der darauf ruhenden Brille – einem in dieser Gegend weit und breit einzigartigen Gegenstand – ragte aus dem Gestrüpp hervor, bildete ein hervorragendes Erkennungszeichen in dem schneeweißen Rahmen, den Bart, Koteletten und ein paar erstaunlich dichte, über der Nasenwurzel zusammengewachsene Augenbrauen bildeten.
Coldar sah Jost über die Brille hinweg mit großen, erstaunten Augen an. Um seinen Mund allerdings glaubte Jost – soweit er das bei dem dichten Vollbart des Gelehrten überhaupt einschätzen konnte – ein leichtes Schmunzeln erkennen zu können.
„Habe ich dich richtig verstanden?“, fragte der alte Mann nach, „Du willst in das Feenland gehen, Tara befreien und dann zurückkehren?“
Eigentlich hätte Jost wissen müssen, dass Coldar ihn nicht ernst nehmen würde. Nie war ein Mensch je von Nauthia aus über die Berge in das Verbotene Land gezogen. Zumindest war das die Überzeugung, die in den Dörfern und Städte des Königreiches vorherrschte und die auch so in den Büchern ihren Niederschlag gefunden hatte.
Andererseits hatte Flügelwind, die Harpyie, etwas anderes angedeutet. Sie hatte von nauthianischen Helden berichtet, die an der Seite einer schwebenden Königin gekämpft hatten. Und sie hatte gesagt, dass er, Jost, der, den sie im Dorf zumeist nur den Tollpatsch nannten, dass ausgerechnet er das Herz eines Helden hatte.
„Ich habe nicht gesagt: Ich will das tun“, antwortete er auf die Frage Coldars, „meine Worte waren: Ich werde in das Feenland gehen!“
„So. Und wie gedenkst du, dort hinzukommen? Die Gipfel sind so hoch, dass niemand mit Gewissheit sagen kann, wo sie enden oder ob sie überhaupt enden und nicht bis in die Unendlichkeit in den Himmel hineinwachsen. Und es gibt keine Passwege.“
„Aber dennoch gibt es Feen, die unter uns leben. Auch sie müssen irgendwann einmal die Berge überwunden haben.“
Coldar rollte mit den Augen.
„Mit Zauberei!“, rief er aus, „Die du nicht beherrschst!“
„Da hast du Recht“, gab Jost zu, „Aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten. Du bist ein Mann des Wissens. Du hast am Hofe der Könige von Kostyra gelebt und dort gelehrt. Hast du mir nicht erzählt, das es tief im Süden, dort wo Taron und Noria in das Große Meer münden, Menschen gibt, die junge Leviatane fangen, töten und dann unter ihrer abgezogenen, unversehrten Haut ein Feuer entzünden. Du hast selbst beobachtet, wie diese danach in die Höhe stiegen und junge, mutige Männer Seile an ihnen festmachten und an den Häuten hängend selbst durch die Luft glitten.“
Coldar lachte.
„Ja, es ist ein Spiel dort, ein Wettkampf wie bei euch Jungens das Fangen von Hühnern. Diese Flüge gingen in ihrer Höhe kaum über die Dächer der Häuser ihrer Fischerdörfer hinaus. Außerdem ist der Leviatan ein seltenes und schwer zu fangendes Meerestier, das du hier in den Bergen wohl kaum finden wirst. Nein, auf diese Weise wirst du die Markberge sicher nicht überwinden können.“
„Und wie wäre es mit bergsteigen?“, rief Jost hoffnungsvoll aus, „ich habe von Männern gelesen, mutige Edle vom Hofe Kostyras, die sich mit Seilen und kleinen Spitzhacken aufgemacht haben, um auf die Gipfel gewaltiger Berge zu steigen.“
„Ja“, sagte Coldar mit geduldiger Stimme, „ich habe dieses Buch auch gelesen. Und ich kenne diese Berge, die sie so wagemutig bezwungen haben. Sie liegen etwas südwestlich von Kostyra Stadt. Die Einheimischen dort treiben regelmäßig ihr Vieh über diese Gipfel, um zu ihren Hochweiden zu gelangen. Das sind ein paar harmlose Hügel im Vergleich zu den Markbergen. Nein, dieses Gebirge auf jene Weise zu überqueren, halte ich für ein unmögliches Unterfangen. Zumal du dich ja nicht unbedingt allzu großer körperlicher Geschicklichkeit rühmen kannst.“
Jost sah den alten Gelehrten mit ernstem Blick an.
„Dann wird es andere Wege geben. Du selbst hast mich gelehrt, dass für einen wahren Weisen das Wort „unmöglich“ keine Bedeutung hat.“
Coldar erwiderte den Blick.
„Das stimmt“, sagte er nach einer kurzen Pause, „aber ich habe auch gesagt, dass die meisten Erkenntnisse der Wissenschaft erst aus jahre- oder gar jahrhundertelanger Forschungstätigkeit erwachsen. Vielleicht werden Menschen wirklich einmal auf die erwähnten Weisen Gebirge überqueren können, aber es wird nicht heute sein oder morgen oder nächsten Mittwoch. Ich sehe einfach keine logische Möglichkeit, diese Barriere zu überwinden, davon abgesehen, dass du nicht weißt, welche Gefahren dich auf der anderen Seite erwarten.“
Er beugte sich nach vorne. Das schwache Licht der Talgkerzen spiegelte sich in seinen blassen, altersschwachen Augen.
„Es gibt einfach Dinge, bei denen dir das größte Bücherwissen und die Erkenntnisse selbst der größten Denker, die das Königreich je hervorgebracht hat, nichts nützen. Davon abgesehen:
es ist ganz gleich, auf welche Art du versuchst, die Markberge zu bezwingen, ich sehe als Ergebnis dieser Bemühungen nichts anderes als deinen sicheren Tod.“
Sein Gesicht nahm einen freundschaftlichen, fast fürsorglichen Ausdruck an.
„Ich verstehe dich“, fuhr er mit sanfter Stimme fort, „Es ist eine sehr eine traurige Sache, einen geliebten Menschen durch die Entführung der Feen zu verlieren. Viele hier im Tal haben dies in den vergangenen Jahrzehnten durchmachen müssen. Es ist grausam, weil niemand weiß, was mit all den Kindern geschehen ist und so mancher hat sicherlich den stillen Wunsch geäußert, das die verlorenen Söhne und Töchter Nauthias tot seien. Aber bei all deinem Schmerz: Du darfst dich nicht selbst in die Gefahr begeben und dein Leben riskieren auf die nur sehr schwache Hoffnung hin, deine Freundin da drüben überhaupt zu finden geschweige denn sie aus den Fängen des Feenvolkes zu retten.“
Jost machte sich Gedanken über die Worte des Alten. Im Grunde klangen sie ganz vernünftig. Es war genau die Art von Worten, die die Menschen in ganz Nauthia benutzten, wenn sie über die Markberge und das Feenland redeten. Es waren schicksalsergebene Worte. Worte der Hoffnungslosigkeit. Der Mutlosigkeit. Der Resignation.
Jost strich über das Bündel auf seinem Schoß, spürte das harte Metall durch die Lagen von Stoff und Leder hindurch. Einst – so hatte Flügelwind gesagt – gab es Helden in Nauthia. Männer, die andere Worte kannten.
Er griff sein Bündel und stand auf.
„Ich danke dir, weiser Coldar, für deinen Rat“, sagte er, „aber ich habe mich entschieden, meinen Weg zu gehen.“
Er durchquerte die große Halle, ging durch Eingangstür, schloss sie hinter sich. Kein einziges Mal blickte er zurück.

Jost konnte nicht wirklich behaupten, dass er sich wohl fühlte hier in der Hütte Malfaldas. Schließlich war Taras Großmutter im Hause seiner Eltern immer als eine etwas seltsame, möglicherweise sogar ein bisschen verrückte alte Frau mit anrüchigen und völlig verqueren Ansichten bezüglich den großen Fragen des Lebens betrachtet worden. Darüber hinaus sagte man ihr auch nach, Kontakte zu überaus geheimnisvollen Wesen zu pflegen, vielleicht sogar zu solchen, die von jenseits der Markberge stammten. Dass man hinter vorgehaltener Hand und mit verschwörerisch gesenkter Stimme auch noch Vermutungen austauschte über dunkle magische Rituale, die Malfalda in wahlweise dunklen Neumond- oder lichtdurchfluteten Vollmondnächten durchzuführen pflegte, war in diesem Zusammenhang fast schon eine Selbstverständlichkeit.
Josts Hoffnung allerdings war, dass zumindest das eine oder andere dieser Gerüchte der Wahrheit entsprach!
Nachdem ihm Coldar mit all seiner Weisheit bei seinem Vorhaben nicht helfen konnte – und auch nicht wollte – blieb ihm nichts anderes übrig, als das so ganz anders geartete Wissen Malfaldas zu vertrauen.
Er stand in der Mitte des einzigen Raumes. Die Alte stand noch draußen vor der Tür und beruhigte einige der Frauen des Dorfes, die sich um die Sicherheit ihrer eigenen Kinder sorgten.
Vorsichtig sah er sich in dem Raum um. Er war das erste Mal in der Hütte Malfaldas, hatte deswegen auch keine Ahnung gehabt, wie es dort wohl aussehen mochte. Andererseits hatte das einen Jungen wie ihn nicht davon abgehalten, seine eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Vorstellungen, die vor allem auf dem Gerede seiner Eltern und dem der anderen Erwachsenen gründete, angereichert allerdings durch die Darstellungen und Beschreibungen, die er in den Büchern Coldars in jenen Kapiteln fand, die in zumeist sehr unfreundlichem Ton über die weisen Frauen in den Wäldern Nauthias berichteten.
Teilweise fand er seine Erwartungen bestätigt.
Es war ein düsterer Raum, die kleinen, mit dicken Butzenscheiben versehenen Fenster ließen vermutlich auch am helllichten Tag nur wenig Licht hinein, jetzt am Abend ließen sie nur vage erahnen, dass außerhalb der Hütte sternenklare Vollmondnacht war. Staub und Ruß hing in der Luft, dazu ein merkwürdiger Geruch, der ein wenig an Heu und Blumen erinnerte, vermischt allerdings mit etwas Scharfem, die Nase Reizenden, was seinen Ursprung wohl in der fröhlich blubbernden, indigoblauen Flüssigkeit hatte, die in dem gewaltigen Kessel über einem hell lodernden Feuer hing.
Hexengebräu!
Es war dieses Wort, was Jost dazu einfiel, oft gefallen in Gesprächen seiner Eltern, wenn sie mit gesenkter Stimme über Malfalda redeten. Vor allem Bardur, sein Vater, redete oft im abschätzigen Ton über die Alte, führte dazu auch immer seinen Gott Donezil ins Feld, der solche dunklen Künste, wie Malfalda sie in ihrer Hütte mutmaßlich ausübte, ganz sicher nicht gutheißen würde. Die Äußerungen seiner Mutter dagegen fielen zumeist etwas weniger heftig aus und Jost konnte sich noch bestens erinnern, wie gut ihm vor einigen Jahren jene so übelriechende Salbe getan hatte, damals, als er so heftig unter den Feuchtblattern litt. Sie hatte seinen so quälenden Juckreiz gestillt und dazu noch das Fieber gesenkt. Seine Mutter hatte ihn schwören lassen, seinem Vater nichts von dieser Salbe zu sagen. Sie hatte ihm zwar nicht erklärt, warum er ihre Behandlung verschweigen sollte, aber ihm war schon damals klar gewesen, woher sie dieses Heilmittel hatte.
Malfalda betrat den Raum.
„Was willst du, Jost, Sohn des Bardur?“, fragte sie unwirsch.
„Ich will Tara zurückholen“, gab der Junge ruhig zurück, „und ich brauche dazu deine Hilfe.“
„Meine Hilfe?“, sie lachte, „Jost, der Sohn des Mannes, der die Götter der Ebenen anbetet und selbst der Lieblingsschüler des Coldar, sucht meine Hilfe?“
Sie näherte sich dem lodernden Feuer des Kamins, wobei ihr das flackernde Licht ein unheimliches Aussehen verlieh, das Jost erneut an die wenig vorteilhaften Illustrationen in Coldars Büchern erinnerte.
„Kannst du mir helfen?“, fragte er mit Nachdruck.
Sie zog einen alten Schemel heran und setzte sich. Jost bot sie keinen Platz an. Es schien ohnehin keine weiteren Sitzgelegenheiten hier in dieser Hütte zu geben.
Malfalda griff nach einem am Kamin lehnenden Stock, tauchte ihn in den Kessel und begann mit kräftigen, gleichförmigen Bewegungen in der zähen, blauen, träge vor sich blubbernden Masse herumzurühren. Sofort stieg scharfer, beißender Geruch in Josts Nase. Er fragte sich, ob die Alte hier über ihrem Kaminfeuer eine Art Gift kochte, etwas, gegen das sie möglicherweise selbst immun war, was allerdings ja nicht unbedingt für ihn gelten musste. Aber gegen den inneren Drang, sich schnellstens aus dem Staub zu machen, ankämpfend, blieb er regungslos stehen mit seinem Bündel im Arm und die Alte still mit entschlossenem Blick fixierend.
„Vielleicht“, sagte Malfalda, „kann ich dir wirklich helfen.“
Sie zog den Stock aus der Flüssigkeit und betrachtete ihn interessiert. Glänzende, blaue Schlieren bedeckten ihn, flossen zu dicken Tropfen zusammen, die auf das Feuer herabfielen, wo sie mit lautem Zischen verdampften. Ein Geruch wie eine Mischung aus versengten Haaren und angebrannter Milch zog durch den Raum. Malfalda sog diesen Duft ein, als wäre er ein betörendes Parfüm.
„Gut“, sagte sie leise und lächelte.
Sie lehnte den Stock wieder an die Wand und wandte sich an Jost.
„Aber zunächst will ich wissen, was mit meiner Enkelin geschehen ist. Du bist der einzige Zeuge. Sage mir alles, was du gesehen und gehört hast und lass nichts aus, auch wenn es dir selbst noch so unbedeutend erscheinen mag!“
Jost begann zu erzählen. Er berichtete davon, dass er Tara besucht hatte, dass er wieder gegangen war und dann bemerkt hatte, dass ihm sein Messer fehlte. Er schilderte Malfalda das, was er am Himmel beobachtet hatte und erzählte von seinem Zusammentreffen mit Flügelwind. Die Alte stellte viele Zwischenfragen, vor allem ließ sie sich mehrere Male versichern, ob die Harpyie tatsächlich gesagt hatte, Tara sei freiwillig mit diesen fremdem Wesen mitgegangen.
Nachdem er geendet hatte, saß Malfalda lange schweigend da.
„Ich glaube nicht, was diese Kreatur gesagt hat“, sagte schließlich Jost, „sie wurde entführt, von grausigen Geschöpfen der Finsternis, die den Feen ergeben sind, soviel steht fest. Und ich werde sie befreien!“
Malfalda blickte Jost neugierig an, musterte ihn von oben bis unten.
„Du sagst, du willst ins Feenland?“, fragte sie, „Was weißt du über die Feen?“
„Nun, es heißt, sie sind bösartige Geschöpfe. Sie entführen Kinder oder lassen sie entführen. Und sie sind zauberkundig.“
Malfalda ließ ein kurzes, humorloses Lachen erklingen.
„Ist das alles?“, fragte sie.
„Es steht noch einiges mehr in den Büchern in Coldars Bibliothek.“
Allerdings war auch Jost aufgefallen, das sich die Autoren oft widersprachen und er hatte bei der Lektüre mehr als einmal den Eindruck, dass die meisten von ihnen grundlegende Erkenntnisse über das Feenland vornehmlich in der eigenen Fantasie zu finden hofften.
„Bücher“, gab Malfalda abfällig zurück, „Geschreibsel von alten Männern, die in dunklen Kammern hocken und nur das zu Papier bringen, was in ihrem eigenen Kopf vorgeht. Und das ist oft genug herzlich wenig.“
Sie lachte nochmals kurz auf.
„Bücher“, bekräftigte sich nochmals in einem besonders verächtlichen Tonfall und fügte stolz hinzu: „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Buch gelesen!“
Jost glaubte das gerne. Die meisten Leute in Nauthia waren der Kunst des Lesens überhaupt nicht mächtig und er nahm an, dass die alte Kräuterfrau eine davon war.
„Was weißt du über das, was einige dieser sogenannten Gelehrten „anima“ nennen?“ fragte Malfalda.
„Anima?“, Jost überlegte. Er hatte dieses Wort schon einmal gelesen. Es war wohl in einem jener Bücher über die Weisheiten der Natur gewesen, jenen ganz besonders dicken Folianten, die ihm Coldar immer wieder ans Herz legte und die allesamt so endlos langweilig waren, das Jost kaum über die ersten zwei oder drei Seiten hinauskam.
„Heißt das nicht ... Leben? Oder Lebensenergie?“
„Na ja, nicht ganz falsch. Natürlich haben diese Leute aus den Ebenen keine Ahnung, was es wirklich damit auf sich hat. Setz dich erstmal, mein Junge, dann werde ich dir ein paar Sachen erklären.“
Jost sah sich um. Nirgends war ein Stuhl oder wenigstens noch ein Hocker wie der, auf dem Malfalda saß, zu sehen. Aber als er sich umdrehte, entdeckte er das Bett der alten Frau. Es sah aus, als sei es schon längere Zeit nicht gemacht worden, eine einfache Decke lag – zu einem unförmigen Haufen zusammengeschoben – an einem Ende, am anderen lag ein zerwühltes Kissen. Dazwischen stapelte sich graue Unterwäsche in unordentlichen Stapeln, sogar ein paar Stiefel hatte es sich in jenem Bereich zwischen Kissen und Wand bequem gemacht.
Jost suchte sich eine kleine freie Fläche zwischen den Wäschestücken und setzte sich auf das faltige Leintuch.
„Also, Coldar und seinesgleichen kennen „anima“ als die Energie, die Leben schafft. Das stimmt natürlich, aber diese Kraft, die in der alten Sprache von Nauthia im Übrigen Prahna genannt wird, ist noch viel mehr. In ihrer geringsten Ausprägung haucht sie den einfachen Tieren und Pflanzen Leben ein. Dort aber, wo sie in hoher Konzentration vorkommt, macht sie viele Dinge möglich, die so gewaltig und für viele Menschen so unvorstellbar sind, so dass sie mächtige Götter erfunden haben, um sie sich erklären zu können. Um es mit einfachen, auch dir verständlichen, Worten zu erklären: Prahna ist im Grunde nichts anderes als Magie!
Nur ist diese besondere Kraft auf der ganzen Welt nicht gleichmäßig verteilt. Am wenigsten ist sie – mit einigen wenigen Ausnahmen – in den Wüsten vertreten, auch in den Ebenen von Kostyra ist sie nicht sehr stark. Hier in Nauthia ist es etwas besser, vor allem, wenn man weiß, wie man danach suchen muss. Aber am stärksten ist sie natürlich im Feenland und die Feen wissen sie zu nutzen.“
„Das heißt, die Feen sind alle Zauberer?“
„So kann man es sagen. Ich denke, das solltest du wissen, bevor du dich aufmachst in die Welt jenseits der Markberge.“
„Und – kannst du auch zaubern? Die Leute im Dorf sagen ...“
Malfalda brachte Jost mit einem ärgerlichen Wedeln der Hand zum Verstummen.
„Die Leute reden viel Unsinn“, sagte sie, „ich gehe einfach mit offenen Augen durch die Welt. Und ich halte das traditionelle Wissen unserer nauthianischen Vorfahren aufrecht. Wenn ich mit ein paar Kräutern die Huffäule der Dorfziegen oder die Feuchtblattern der Kinder heilen kann, dann hat dies – entgegen vieler Vermutungen – absolut nichts mit Zauberei zu tun. Und wenn ich einmal nicht mehr bin, wird meine Tochter Valdana das Wissen weitertragen. Ja, und nach ihr - “
Sie stockte. Wandte ihren Blick von Jost ab und starrte in das allmählich verglimmende Feuer. Der Junge konnte erkennen, wie ihre Augen glänzten.
„Tara hätte eine gute Heilerin werden können. So, wie sie mit den Tieren umgehen konnte. Aber das Schicksal hatte etwas anderes mit ihr vor. Ich hätte mir es eigentlich von Anfang an denken können.“
Den letzten Satz sprach sie leise, ganz so, als habe sie vergessen, dass Jost bei ihr war und sie mit sich selbst reden würde, wie es ja gelegentlich die Art der alten Leute war.
„Was meinst du damit?“, fragte Jost.
Malfalda sah den Jungen erstaunt an. Offenbar war ihr tatsächlich für einen kurzen Moment entfallen, dass sie nicht alleine war in ihrer Hütte.
„Nichts!“, antwortete sie harsch.
Dann deutete sie auf das Bündel in Josts Armen.
„Was schleppst du denn da überhaupt mit dir herum? Schmutzige Wäsche? Davon habe ich selbst mehr als genug.“
Was Jost nur bestätigen konnte, den er selbst saß ja mittendrin.
Anstatt zu antworten öffnete er den Bindfaden, der das Bündel zusammenhielt. Schicht für Schicht an Lumpen legte er frei, als letztes ein großes, eingefettetes Stück einer weggeworfenen Lederschürze seines Vaters.
Was darunter zum Vorschein kam, wäre für einen ausgebildeten Schmied vermutlich einem Verbrechen an dem Werkstoff Eisen gleichgekommen, krumm und verbogen, wie es war, schartig und durchzogen von kleinen Rissen und Einschlüssen, die Oberfläche so rau und uneben wie Sand, aber trotz aller Mängel würde er, wie auch jeder andere, mit einem Blick erkennen, was es darstellte.
„Ein Schwert?“, fragte Malfalda verwundert.
„Ja“, antwortete Jost, „ein Schwert!“
„Und ich vermute, dass es nicht von deinem Vater geschaffen wurde. Und wohl auch nicht von deinem Bruder.“
„Nein, ich habe es gemacht“, gab Jost zu.
„Wie unschwer zu erkennen ist“, fügte Malfalda etwas spöttisch hinzu, „Wann hast du es gemacht?“
„Vergangenen Herbst. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder verbrachten den ganzen Tag auf dem Markt von Nebelstein. Ich musste im Dorf zurückbleiben wegen dem Elfenfeuer.“
„Und dein Vater hat nichts davon gemerkt? Woher hattest du denn das Roheisen?“
„Ich hatte viele Jahre lang Schrott gesammelt und in der Hütte hinter der Schmiede versteckt.“
„Das bedeutet, du plantest das schon lange?“
Jost wurde etwas verlegen. Dieses Schwert war über viele Jahre hinweg sein Geheimnis gewesen. Auf seinen Streifzügen durch Dreeich und Umgebung hielt er seinen Blick immer zu Boden gerichtet, ständig Ausschau haltend nach alten, rostigen oder verbogenen Nägeln, nach abgebrochenen Blättern von Ackergeräten und stumpf gewordenen Messerklingen. Es kam nicht sehr oft vor, dass er etwas fand, denn alles Schmiedegut, das im Dorf benutzt wurde, stammte aus der Werkstatt seines Vaters und dieser verstand sein Handwerk wie kaum ein anderer, so dass selten einmal etwas zu Bruch ging. Die meisten Stücke waren vom Rost zerfressen und Jost musste sie gründlich abschleifen und anschließend gut einfetten. Und all die Jahre hatte er niemanden – nicht einmal Tara – etwas von seinem Plan gesagt, ein Schwert zu schmieden. Selbst als sein Vater beschloss, ihn nicht in die Lehre zu nehmen, ließ er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen.
„Dieses Schwert“, sagte Malfalda, „scheint mir eine sehr außergewöhnliche Waffe zu sein. Es sieht zwar nicht gerade so aus, wie man sich die berühmten Waffen vorstellt, die die Helden der Vorzeit führten, aber sie hat dennoch etwas Besonderes.“
„Was meinst du damit?“, fragte Jost, der sich nicht sicher war, ob sich die Alte nicht über ihn lustig machte.
„Nun, die kennst die Helden aus den Büchern, vermutlich allesamt Ritter aus den Ebenen. Aber einstmals gab es auch in Nauthia wackere Männer, deren ruhmreiche Taten über viele Generationen hinweg Inhalt von Geschichten und Liedern waren. Heute hat man sie fast alle vergessen und nur wenige können noch von ihrem Heldenmut berichten. Aber ihre Schwerter waren einzigartig und das lag daran, dass sie diese selbst schufen. Jeder nauthianische Held war gleichzeitig ein Waffenschmied und eines der Dinge, die die Herren der Ebenen den Nauthianern damals, als sie unser kleines Land eroberten, bei Todesstrafe verboten, war das Schmieden von Schwertern. Was bedeutet, dass du nach den Gesetzen von Kostyra ein überaus schweres Verbrechen begangen hast.“
„Das wusste ich nicht!“
Malfalda stand von ihrem Schemel auf und trat an das Bett heran. Sie sah sich das Schwert genau an, fuhr mit ihren knochigen Fingern über die Oberfläche.
Dann drehte sie sich um und sah in die verblassenden Glut des Kamins.
„Meine Enkelin ist auf den Weg zur anderen Seite. Ob freiwillig oder gezwungen, mag ich nicht beurteilen, denn ich habe keinen Grund, nicht daran zu zweifeln, was diese Hühnerfrau gesagt hat. Nie habe ich gehört, dass Harpyien nicht dazu fähig seien, zu lügen.
Du aber, mein Junge, hast dein eigenes Schwert geschmiedet, wie es die alten Helden Nauthias getan haben und auch wenn deine Waffe nicht so aussieht, als könne sie ihren ersten Kampf an einem Stück überstehen, willst du dich mit ihr gürten und dich aufmachen in fremde Welten, um Tara zu befreien.“
Sie drehte sich zu Jost um. Ihre Augen glänzten, obwohl kaum noch ein Schein von dem ausgehenden Kaminfeuer ausging. Sie lächelte.
„Ich werde dir helfen“, sagte sie.
 



 
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