Es war schon merkwürdig: Da brach er auf in die weite Welt mit dem festen Vorhaben, Tara aus den Händen von fremdartigen Geschöpfen zu befreien, wollte Heldentaten begehen, geheimnisvolle Länder erkunden, aber als er zu den Findlingen kam, die die östliche Grenze des Dorfes markierten, zögerte er wie eine Katze, die bei Regen aus dem Haus gejagt wird. Nie hatte er Dreieich verlassen, hatte je diese Felsen passiert, ja, er hatte nicht einmal den Taron, jenen schmalen Bach, der direkt hinter dem Haus, in dem er aufgewachsen war, dahin floss, auch nur einmal in seinem Leben überquert.
Es war diese alte Angst vor dem schrecklichen Volk der Feen, die – zumindest erzählte man das den Kindern von Dreieich schon seit vielen Jahren – unentwegt an den Grenzen des Dorfes lauerten, um Unvorsichtige zu ergreifen und sie in ihr geheimnisvolles Reich zu verschleppen.
Aber er zauderte nur für einen kurzen Augenblick. Mit einem schnellen Griff vergewisserte er sich, dass sein Schwert gut erreichbar an seinem kleinen Rucksack befestigt war, dann marschierte er mit langen Schritten los.
Es war früher Morgen, Tautropfen hingen in dicken Perlen an den hohen Grashalmen, es wehte eine leichte, noch kühle Brise und die Dämmerung schenkte gerade genug Helligkeit, um zu verhindern, dass er gegen den nächsten Baum laufen würde – was Jost normalerweise nicht davon abhielt, es gelegentlich nicht dennoch zu tun.
Aber an diesem Tag war alles anders! Er war konzentriert, ernst, er jagte keine imaginäre Feinde in erfundenen Welten und was an seinem Rücken hing, war kein Stock, der sich in seiner Fantasie in die erstaunlichsten Dinge verwandeln konnte, sondern ein richtiges – wenn auch zugegebenermaßen sehr schlecht gearbeitetes und deswegen vermutlich auch nicht übermäßig taugliches – Schwert! Und er hatte eine Aufgabe. Er wollte etwas tun, was noch niemand in ganz Nauthia je geschafft hatte: Er hatte sich geschworen, eine von den Feen Entführte zu finden und zurückzubringen.
Jost marschierte in Richtung Nordosten, hielt sich dabei am Verlauf des Dunkelquell, jenem Bach, der den Oberlauf des Taron bildete. Nach nur wenigen Schritten ging das offene Weideland, das den Ziegen des Ortes als Nahrungsgrundlage diente, über in einen dunklen Wald aus alten Flaumeichen, Mannaeschen und Hopfenbuchen. In dem morgendlichen Zwielicht konnte Jost nun kaum den Boden unter seinen Füßen erkennen, aber er verringerte seine Wandergeschwindigkeit kaum.
Drei oder vier Stunden hatte er zu gehen, so waren die Worte Malfaldas gewesen, er solle sich dabei immer und unbedingt am Lauf des Baches halten, dann würde er auf eine alleinstehende Silberweide stoßen. Der Baum sei nicht zu übersehen, seine Größe würde alles übertreffen, was Jost jemals gesehen hat. Gut dreißig Klafter an Höhe, hatte die Alte behauptet, und so ausufernd, dass alle Häuser des Dorfes unter seinen Ästen Platz finden würden und immer noch Platz wäre für eine ausgedehnte Ziegenweide.
Und dort sollte er warten. Warten auf jemanden namens Odelia. Sie hatte nicht gesagt, um wen es sich bei dieser Person handelte, wie sie aussah, ob sie ein Mensch war oder gar eines dieser schrecklichen feeischen Wesen. Nicht, dass er nicht gefragt hätte. Aber Malfalda hatte nur furchtbar geheimnisvoll getan und auf einen Schwur hingewiesen, den sie gegenüber dieser Odelia getan hatte.
„Ich weiß nicht, ob sie sich dir offenbaren wird“, sagte sie, „das hängt davon ab, ob sie dich für vertrauenswürdig hält.“
„Aber“, hatte er eingewandt, „wie kann sie das erkennen, ohne mich überhaupt kennen gelernt zu haben?“
„Oh, glaube mir“, hatte Malfalda zurückgegeben und dabei geheimnisvoll gelächelt, „sie hat da ihre eigenen Methoden. Und diese sind untrüglich.“
Mehr brachte er aus der Alten nicht heraus.
Und jetzt wanderte er durch den fremden Wald und machte sich Gedanken, wie diese Odelia wohl aussehen mochte. Die Bilder vieler schreckliche Ungeheuer, wie er sie aus den Büchern Coldars kannte, zogen durch seinen Geist, eines schrecklicher als das andere. Das war natürlich eine nicht sehr angenehme und alles andere als hilfreiche Beschäftigung, wenn man gleichzeitig durch einen unbekannten, dunklen Wald wanderte und Jost fand auch nur kurzfristig ein wenig Entspannung bei dem Gedanken, dass man menschenfressenden Drachen und grausamen Dämonen kaum den Namen Odelia geben würde.
Zu allem Überfluss begann es zuzuziehen. Von den Markbergen her kommend zogen, getrieben von einem zunehmend auffrischenden Wind, dicke Wolken von dunklem Grau heran, versprachen schweren Regen, möglicherweise sogar Sturm und Gewitter.
Überall um Jost herum begann es zu rauschen und zu rascheln. Einige Male zuckte der Junge zusammen.
Nun reiß` dich aber mal am Riemen, redete er sich selbst gut zu, du bist ausgezogen, um Heldentaten zu begehen und nicht, um vor Furcht zu zittern, bloß weil ein wenig Wind aufkam.
Überraschenderweise schien dies zu helfen. Ihm fiel ein, dass sowohl Malfalda als auch jenes seltsame Wesen namens Flügelwind Andeutungen darüber gemacht haben, dass er einer jener sagenhaften Heroen Nauthias werden könnte. Er war groß, er war einigermaßen kräftig, er war bereit und – er hatte ein Schwert!
Das waren die wichtigsten Voraussetzungen, um zu einem Held zu werden, er wusste das, denn er hatte hunderte von Heldengeschichten gelesen in Coldars Bibliothek.
Dennoch – der Wald wurde immer dichter, die Schatten der Baumkronen und das Unterholz ließen keinen Blick zu, der tiefer als nur einige Schritte weit ging. Würde er nicht den Verlauf des Baches folgen, an dessen steinigen Ufer sich ein immer schmaler werdender Pfad hinwand, er hätte kaum noch eine Möglichkeit vorwärts zu kommen.
Und aus der Düsternis des Waldes drangen Geräusche, ein Rascheln hie und da, gelegentlich auch ein Knacken, zwischendurch ein Pfeifen oder ein Rufen, ein Zischen oder Flattern. Das meiste ließ sich identifizieren, Jost war in seinem Leben oft und lange genug durch die Schonungen rund um Dreieich gestreift, er kannte sämtliche Arten von Geräuschen, welche die Tiere des Waldes verursachen konnten. Dennoch gab es hier und da ein leichtes, irgendwie lauerndes Rascheln, das er einfach nicht unterbringen konnte. Dieses Geräusch erklang immer zu seiner Linken und höchstens ein paar Schritte von seiner jeweiligen Position entfernt, ganz so, als wolle ihn dort ein geheimnisvolles Tier – wenn es denn nicht etwas völlig anderes war – auf seinem eigenen Weg flankieren. Doch jedes Mal, wenn er seinen Blick in die entsprechende Richtung wandte, erstarb dieses Geräusch so plötzlich, als sei es nicht da gewesen und er vernahm nichts anderes als das Rauschen des böigen Windes im sommerlichen Laub.
Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiter zu gehen, wobei er sich ein um das andere Mal mit einer nervösen Geste versicherte, dass sein Schwert griffbereit an seinem Rücken hing.
Nach weiteren gut zwei Meilen Weges und ohne dass jenes geheimnisvolle Rascheln auch nur länger als für wenige Sekunden einmal nicht zu hören war, lichtete sich der Wald ein wenig. Das Gelände wurde flach, was zur Folge hatte, dass sich hier der Dunkelquell mit deutlich geringerer Hast bewegte und sein Bett deswegen zu einem dunklen Teich verbreiterte.
Am oberen, den Markbergen zugewandten, Ende dieses Teiches stand ein einzelner Baum. Es war eine gewaltige Weide, sie stand einzeln inmitten von flachem Gras, Zimbelkraut und blühendem Waldmeister. Kein weiterer Baum wuchs in einem Umkreis von gut fünfzig Schritten, ganz so, als wolle dieser Gigant niemanden neben sich dulden, als wäre er der Herrscher des Waldes, alles überragend, mächtig und stark, unnahbar und stolz, ein König unter seinesgleichen. Sein Stamm war von dunklem Grau, ganz so, als würde dieser Riese von reinstem Granit im Boden gehalten werden, die Blätter dagegen wirkten zart und ihre Unterseiten blitzten im Spiel des Windes silbern auf. Jost blieb stehen und hob staunend seinen Kopf bis weit in den Sommerhimmel hinein, wo die Krone dieses Baumriesen in schier unvorstellbarer Höhe endete.
Diese Weide war tatsächlich so hoch und so ausladend, wie sie Malfalda beschrieben hatte. Er war in seinem Leben viel durch die Wälder gestreift und er konnte von sich behaupten, in jenem kleinen, Kindern und Jugendlichen erlaubten Bereich rund um das Dorf tatsächlich jeden einzelnen Baum zu kennen und den meisten von ihnen sogar – wenn auch heimlich - sagenhafte Namen gegeben zu haben, aber so etwas hatte er noch nie gesehen.
„Arian“, flüsterte er.
Er fühlte sich sofort an diese uralte Geschichte erinnert. Sie war in keinem von Coldars Büchern zu lesen, denn es war eine jener nauthianischen Sagen, die jeder in Dreieich kannte und die an den langen Winterabenden an den Kaminfeuern erzählt wurden. Sie handelte von einer mächtigen, aber hochmütigen Feenkönigin, die wie alle Wesen ihrer Art das Silber über alles liebten. Denn die Feen – so sagte man – kamen ursprünglich vom Mond auf die Welt hernieder und auf diesem würde der Boden und die Berge, ja, selbst die Pflanzen und Früchte aus reinem Silber bestehen. Diese Königin aus der Sage aber liebte das Silber so sehr, dass sie jedes Gramm dieses edlen Metalls, das ihre unzähligen in die ganze Welt hinaus gesandten Prospektoren fanden, zusammentrug und in die riesigen, tief im Erdboden gelegenen Schatzkammern ihres Schlosses bringen ließ – wo nur sie allein unbeschränkt Zutritt hatte.
Doch irgendwann führte die unersättliche Raffgier der Königin dazu, dass Silber auf der ganzen Welt so rar wurde wie rote Diamanten und all die anderen Feen, die das glitzernde Metall ja auch liebten und schätzten und sich gerne mit ihm umgaben, wurden wütend, weil ihnen die Freude am diesen wunderbaren, an die Heimat erinnernden Schimmer weg genommen wurde. Es war dann eine mächtige Zauberin dieses Volkes, die die Königin zur Rede stellte. Doch diese blieb uneinsichtig und wollte nichts von ihrem Silber abgeben, ja, sie war nicht einmal bereit, jemanden zu gestatten, ihren Schatz auch nur anzusehen.
So blieb der Zauberin nichts anderes übrig, als die Königin für ihren Hochmut und ihre Habsucht zu bestrafen. Sie zerstörte das Schloss und versiegelte die Schatzkammern für alle Zeiten, so dass niemand, nicht einmal sie selbst, jemals wieder die Möglichkeit haben würde, ihren Inhalt zu Gesicht zu bekommen. Die Königin aber verwandelte sie mithilfe eines mächtigen Zaubers in eine Silberweide, unsterblich zwar, aber nur wenig Freude an dem silbrigen Abglanz ihrer eigenen, vergänglichen Blätter findend.
Der Name der Königin war „Arian“, was – wie die Alten behaupteten – in einer lange vergangenen Sprache Nauthias „Silber“ hieß.
Jost starrte den Baum lange an. Es gab ja Leute, die behaupteten, der Schatz der Arian befände sich direkt unter den Wurzeln der Weide und man müsse nur graben, um an das größte Silbervorkommen, das die Welt je gesehen hatte, zu kommen. Aber Jost wusste um den Wahrheitsgehalt solcher uralten Sagen und was die Vorstellungen der Menschen daraus zu machen pflegten. Er selbst war schließlich mit einer solch ausufernden Fantasie geschlagen, dass er die Geschichte innerhalb von wenigen Wochen in so deutlich voneinander abweichenden Versionen erzählte, dass es seiner Zuhörerin – Tara – nicht einmal auffiel, dass sie sie schon einmal gehört hatte.
Und das letzte, was ihn interessierte, war Silber.
Jedenfalls hatte er sein vorläufiges Ziel erreicht. Von nun an war er angewiesen auf jenes geheimnisvolle Geschöpf namens Odelia. Er ging auf die Weide zu, schnallte seinen Rucksack ab und setzte sich, mit dem Rücken an dem mächtigen Stamm gelehnt, auf den Boden.
Er war nun sicherlich schon gut drei bis vier Stunden marschiert und hatte jenen mächtigen Hunger, der Jungen seines Alters häufig zueigen war.
Er griff in den Rucksack und zog ein dickes, in ein großes, graues Taschentuch geschlagenes Bündel aus. Malfalda hatte es gepackt und nachdem er das Tuch zur Seite geschlagen hatte, sah er, dass sich darin ein großes Stück jenes würzigen Käses befand, den auch Tara immer bei sich hatte, wenn sie bei den Ziegen auf der Weide war.
Ihm floss der Saft im Mund zusammen.
„Sieht lecker aus!“, sagte eine weiblich klingende Stimme direkt neben ihm.
Er drehte seinen Kopf in die entsprechende Richtung.
Er entdeckte, wer diese belanglosen Worte gesagt hatte.
Die Sprecherin stand nur zwei Schritte von ihm entfernt und betrachtete den Käse in seiner Hand voller Interesse. Die Augen, mit denen sie das tat, waren gelb wie Schwefel.
Und darunter befand sich ein riesiges Maul voller schimmernder, spitzer Zähne!
Darüber hinaus besaß dieses Wesen einen Körper, so kräftig wie der eines Löwen und so gewaltig, dass diese Kreatur selbst auf vier Beinen stehend so hoch gewachsen war wie ein einjähriges Pferd, mit einem Fell von dem Grau einer Morgendämmerung im Winter und Tatzen, die vermutlich eine Spur vom Umfang eines Bratentellers hinterließen.
Was da neugierig Josts Käseration beäugte, war nichts anderes als ein gewaltiger, mächtiger, vermutlich überaus blutrünstiger – Wolf!
Und seine Hauptnahrungsquelle würde bestimmt nicht Käse sein!
Es war diese alte Angst vor dem schrecklichen Volk der Feen, die – zumindest erzählte man das den Kindern von Dreieich schon seit vielen Jahren – unentwegt an den Grenzen des Dorfes lauerten, um Unvorsichtige zu ergreifen und sie in ihr geheimnisvolles Reich zu verschleppen.
Aber er zauderte nur für einen kurzen Augenblick. Mit einem schnellen Griff vergewisserte er sich, dass sein Schwert gut erreichbar an seinem kleinen Rucksack befestigt war, dann marschierte er mit langen Schritten los.
Es war früher Morgen, Tautropfen hingen in dicken Perlen an den hohen Grashalmen, es wehte eine leichte, noch kühle Brise und die Dämmerung schenkte gerade genug Helligkeit, um zu verhindern, dass er gegen den nächsten Baum laufen würde – was Jost normalerweise nicht davon abhielt, es gelegentlich nicht dennoch zu tun.
Aber an diesem Tag war alles anders! Er war konzentriert, ernst, er jagte keine imaginäre Feinde in erfundenen Welten und was an seinem Rücken hing, war kein Stock, der sich in seiner Fantasie in die erstaunlichsten Dinge verwandeln konnte, sondern ein richtiges – wenn auch zugegebenermaßen sehr schlecht gearbeitetes und deswegen vermutlich auch nicht übermäßig taugliches – Schwert! Und er hatte eine Aufgabe. Er wollte etwas tun, was noch niemand in ganz Nauthia je geschafft hatte: Er hatte sich geschworen, eine von den Feen Entführte zu finden und zurückzubringen.
Jost marschierte in Richtung Nordosten, hielt sich dabei am Verlauf des Dunkelquell, jenem Bach, der den Oberlauf des Taron bildete. Nach nur wenigen Schritten ging das offene Weideland, das den Ziegen des Ortes als Nahrungsgrundlage diente, über in einen dunklen Wald aus alten Flaumeichen, Mannaeschen und Hopfenbuchen. In dem morgendlichen Zwielicht konnte Jost nun kaum den Boden unter seinen Füßen erkennen, aber er verringerte seine Wandergeschwindigkeit kaum.
Drei oder vier Stunden hatte er zu gehen, so waren die Worte Malfaldas gewesen, er solle sich dabei immer und unbedingt am Lauf des Baches halten, dann würde er auf eine alleinstehende Silberweide stoßen. Der Baum sei nicht zu übersehen, seine Größe würde alles übertreffen, was Jost jemals gesehen hat. Gut dreißig Klafter an Höhe, hatte die Alte behauptet, und so ausufernd, dass alle Häuser des Dorfes unter seinen Ästen Platz finden würden und immer noch Platz wäre für eine ausgedehnte Ziegenweide.
Und dort sollte er warten. Warten auf jemanden namens Odelia. Sie hatte nicht gesagt, um wen es sich bei dieser Person handelte, wie sie aussah, ob sie ein Mensch war oder gar eines dieser schrecklichen feeischen Wesen. Nicht, dass er nicht gefragt hätte. Aber Malfalda hatte nur furchtbar geheimnisvoll getan und auf einen Schwur hingewiesen, den sie gegenüber dieser Odelia getan hatte.
„Ich weiß nicht, ob sie sich dir offenbaren wird“, sagte sie, „das hängt davon ab, ob sie dich für vertrauenswürdig hält.“
„Aber“, hatte er eingewandt, „wie kann sie das erkennen, ohne mich überhaupt kennen gelernt zu haben?“
„Oh, glaube mir“, hatte Malfalda zurückgegeben und dabei geheimnisvoll gelächelt, „sie hat da ihre eigenen Methoden. Und diese sind untrüglich.“
Mehr brachte er aus der Alten nicht heraus.
Und jetzt wanderte er durch den fremden Wald und machte sich Gedanken, wie diese Odelia wohl aussehen mochte. Die Bilder vieler schreckliche Ungeheuer, wie er sie aus den Büchern Coldars kannte, zogen durch seinen Geist, eines schrecklicher als das andere. Das war natürlich eine nicht sehr angenehme und alles andere als hilfreiche Beschäftigung, wenn man gleichzeitig durch einen unbekannten, dunklen Wald wanderte und Jost fand auch nur kurzfristig ein wenig Entspannung bei dem Gedanken, dass man menschenfressenden Drachen und grausamen Dämonen kaum den Namen Odelia geben würde.
Zu allem Überfluss begann es zuzuziehen. Von den Markbergen her kommend zogen, getrieben von einem zunehmend auffrischenden Wind, dicke Wolken von dunklem Grau heran, versprachen schweren Regen, möglicherweise sogar Sturm und Gewitter.
Überall um Jost herum begann es zu rauschen und zu rascheln. Einige Male zuckte der Junge zusammen.
Nun reiß` dich aber mal am Riemen, redete er sich selbst gut zu, du bist ausgezogen, um Heldentaten zu begehen und nicht, um vor Furcht zu zittern, bloß weil ein wenig Wind aufkam.
Überraschenderweise schien dies zu helfen. Ihm fiel ein, dass sowohl Malfalda als auch jenes seltsame Wesen namens Flügelwind Andeutungen darüber gemacht haben, dass er einer jener sagenhaften Heroen Nauthias werden könnte. Er war groß, er war einigermaßen kräftig, er war bereit und – er hatte ein Schwert!
Das waren die wichtigsten Voraussetzungen, um zu einem Held zu werden, er wusste das, denn er hatte hunderte von Heldengeschichten gelesen in Coldars Bibliothek.
Dennoch – der Wald wurde immer dichter, die Schatten der Baumkronen und das Unterholz ließen keinen Blick zu, der tiefer als nur einige Schritte weit ging. Würde er nicht den Verlauf des Baches folgen, an dessen steinigen Ufer sich ein immer schmaler werdender Pfad hinwand, er hätte kaum noch eine Möglichkeit vorwärts zu kommen.
Und aus der Düsternis des Waldes drangen Geräusche, ein Rascheln hie und da, gelegentlich auch ein Knacken, zwischendurch ein Pfeifen oder ein Rufen, ein Zischen oder Flattern. Das meiste ließ sich identifizieren, Jost war in seinem Leben oft und lange genug durch die Schonungen rund um Dreieich gestreift, er kannte sämtliche Arten von Geräuschen, welche die Tiere des Waldes verursachen konnten. Dennoch gab es hier und da ein leichtes, irgendwie lauerndes Rascheln, das er einfach nicht unterbringen konnte. Dieses Geräusch erklang immer zu seiner Linken und höchstens ein paar Schritte von seiner jeweiligen Position entfernt, ganz so, als wolle ihn dort ein geheimnisvolles Tier – wenn es denn nicht etwas völlig anderes war – auf seinem eigenen Weg flankieren. Doch jedes Mal, wenn er seinen Blick in die entsprechende Richtung wandte, erstarb dieses Geräusch so plötzlich, als sei es nicht da gewesen und er vernahm nichts anderes als das Rauschen des böigen Windes im sommerlichen Laub.
Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiter zu gehen, wobei er sich ein um das andere Mal mit einer nervösen Geste versicherte, dass sein Schwert griffbereit an seinem Rücken hing.
Nach weiteren gut zwei Meilen Weges und ohne dass jenes geheimnisvolle Rascheln auch nur länger als für wenige Sekunden einmal nicht zu hören war, lichtete sich der Wald ein wenig. Das Gelände wurde flach, was zur Folge hatte, dass sich hier der Dunkelquell mit deutlich geringerer Hast bewegte und sein Bett deswegen zu einem dunklen Teich verbreiterte.
Am oberen, den Markbergen zugewandten, Ende dieses Teiches stand ein einzelner Baum. Es war eine gewaltige Weide, sie stand einzeln inmitten von flachem Gras, Zimbelkraut und blühendem Waldmeister. Kein weiterer Baum wuchs in einem Umkreis von gut fünfzig Schritten, ganz so, als wolle dieser Gigant niemanden neben sich dulden, als wäre er der Herrscher des Waldes, alles überragend, mächtig und stark, unnahbar und stolz, ein König unter seinesgleichen. Sein Stamm war von dunklem Grau, ganz so, als würde dieser Riese von reinstem Granit im Boden gehalten werden, die Blätter dagegen wirkten zart und ihre Unterseiten blitzten im Spiel des Windes silbern auf. Jost blieb stehen und hob staunend seinen Kopf bis weit in den Sommerhimmel hinein, wo die Krone dieses Baumriesen in schier unvorstellbarer Höhe endete.
Diese Weide war tatsächlich so hoch und so ausladend, wie sie Malfalda beschrieben hatte. Er war in seinem Leben viel durch die Wälder gestreift und er konnte von sich behaupten, in jenem kleinen, Kindern und Jugendlichen erlaubten Bereich rund um das Dorf tatsächlich jeden einzelnen Baum zu kennen und den meisten von ihnen sogar – wenn auch heimlich - sagenhafte Namen gegeben zu haben, aber so etwas hatte er noch nie gesehen.
„Arian“, flüsterte er.
Er fühlte sich sofort an diese uralte Geschichte erinnert. Sie war in keinem von Coldars Büchern zu lesen, denn es war eine jener nauthianischen Sagen, die jeder in Dreieich kannte und die an den langen Winterabenden an den Kaminfeuern erzählt wurden. Sie handelte von einer mächtigen, aber hochmütigen Feenkönigin, die wie alle Wesen ihrer Art das Silber über alles liebten. Denn die Feen – so sagte man – kamen ursprünglich vom Mond auf die Welt hernieder und auf diesem würde der Boden und die Berge, ja, selbst die Pflanzen und Früchte aus reinem Silber bestehen. Diese Königin aus der Sage aber liebte das Silber so sehr, dass sie jedes Gramm dieses edlen Metalls, das ihre unzähligen in die ganze Welt hinaus gesandten Prospektoren fanden, zusammentrug und in die riesigen, tief im Erdboden gelegenen Schatzkammern ihres Schlosses bringen ließ – wo nur sie allein unbeschränkt Zutritt hatte.
Doch irgendwann führte die unersättliche Raffgier der Königin dazu, dass Silber auf der ganzen Welt so rar wurde wie rote Diamanten und all die anderen Feen, die das glitzernde Metall ja auch liebten und schätzten und sich gerne mit ihm umgaben, wurden wütend, weil ihnen die Freude am diesen wunderbaren, an die Heimat erinnernden Schimmer weg genommen wurde. Es war dann eine mächtige Zauberin dieses Volkes, die die Königin zur Rede stellte. Doch diese blieb uneinsichtig und wollte nichts von ihrem Silber abgeben, ja, sie war nicht einmal bereit, jemanden zu gestatten, ihren Schatz auch nur anzusehen.
So blieb der Zauberin nichts anderes übrig, als die Königin für ihren Hochmut und ihre Habsucht zu bestrafen. Sie zerstörte das Schloss und versiegelte die Schatzkammern für alle Zeiten, so dass niemand, nicht einmal sie selbst, jemals wieder die Möglichkeit haben würde, ihren Inhalt zu Gesicht zu bekommen. Die Königin aber verwandelte sie mithilfe eines mächtigen Zaubers in eine Silberweide, unsterblich zwar, aber nur wenig Freude an dem silbrigen Abglanz ihrer eigenen, vergänglichen Blätter findend.
Der Name der Königin war „Arian“, was – wie die Alten behaupteten – in einer lange vergangenen Sprache Nauthias „Silber“ hieß.
Jost starrte den Baum lange an. Es gab ja Leute, die behaupteten, der Schatz der Arian befände sich direkt unter den Wurzeln der Weide und man müsse nur graben, um an das größte Silbervorkommen, das die Welt je gesehen hatte, zu kommen. Aber Jost wusste um den Wahrheitsgehalt solcher uralten Sagen und was die Vorstellungen der Menschen daraus zu machen pflegten. Er selbst war schließlich mit einer solch ausufernden Fantasie geschlagen, dass er die Geschichte innerhalb von wenigen Wochen in so deutlich voneinander abweichenden Versionen erzählte, dass es seiner Zuhörerin – Tara – nicht einmal auffiel, dass sie sie schon einmal gehört hatte.
Und das letzte, was ihn interessierte, war Silber.
Jedenfalls hatte er sein vorläufiges Ziel erreicht. Von nun an war er angewiesen auf jenes geheimnisvolle Geschöpf namens Odelia. Er ging auf die Weide zu, schnallte seinen Rucksack ab und setzte sich, mit dem Rücken an dem mächtigen Stamm gelehnt, auf den Boden.
Er war nun sicherlich schon gut drei bis vier Stunden marschiert und hatte jenen mächtigen Hunger, der Jungen seines Alters häufig zueigen war.
Er griff in den Rucksack und zog ein dickes, in ein großes, graues Taschentuch geschlagenes Bündel aus. Malfalda hatte es gepackt und nachdem er das Tuch zur Seite geschlagen hatte, sah er, dass sich darin ein großes Stück jenes würzigen Käses befand, den auch Tara immer bei sich hatte, wenn sie bei den Ziegen auf der Weide war.
Ihm floss der Saft im Mund zusammen.
„Sieht lecker aus!“, sagte eine weiblich klingende Stimme direkt neben ihm.
Er drehte seinen Kopf in die entsprechende Richtung.
Er entdeckte, wer diese belanglosen Worte gesagt hatte.
Die Sprecherin stand nur zwei Schritte von ihm entfernt und betrachtete den Käse in seiner Hand voller Interesse. Die Augen, mit denen sie das tat, waren gelb wie Schwefel.
Und darunter befand sich ein riesiges Maul voller schimmernder, spitzer Zähne!
Darüber hinaus besaß dieses Wesen einen Körper, so kräftig wie der eines Löwen und so gewaltig, dass diese Kreatur selbst auf vier Beinen stehend so hoch gewachsen war wie ein einjähriges Pferd, mit einem Fell von dem Grau einer Morgendämmerung im Winter und Tatzen, die vermutlich eine Spur vom Umfang eines Bratentellers hinterließen.
Was da neugierig Josts Käseration beäugte, war nichts anderes als ein gewaltiger, mächtiger, vermutlich überaus blutrünstiger – Wolf!
Und seine Hauptnahrungsquelle würde bestimmt nicht Käse sein!