Muchnara 3
Feldarbeit
Hilde kam kurz nach Sonnenaufgang wieder in die Scheune. In dem Halbdunkel konnte sie zuerst nur eine undeutliche Kontur erkennen, dann schälten sich allmählich die Umrisse einer tief schlafenden Gestalt heraus. Aylene lag in ihrem kleidartigen Gewand zusammengekrümmt auf dem Stroh, die zu kleine Decke um die Beine gewickelt und die Arme überkreuzt vor die Brust gezogen. Hilde wartete noch, bis sie auch die Gesichtszüge erkennen konnte, schließlich löste sie ihren Blick von dem ausgezehrt wirkenden Gesicht mit den bläulichen Lippen und stieß der Fremden leicht mit dem Fuß in die Seite. Sogleich riss Aylene ihre Augen auf und starrte sie mit angstverzerrtem Gesicht an. Doch es währte nur einen Augenblick, dann nahm ihr Gesicht wieder jenen müden und unterwürfigen Ausdruck an, den Hilde bereits kannte. Die Bäuerin räusperte sich.
„Komm mit.“
Aylene stand schwerfällig auf. Die Kälte hatte ihre Glieder steif werden lassen und ihr Körper war von den Strapazen des Vortags noch geschwächt, doch wenigsten hatte sie seit unendlich lang erscheinender Zeit eine ruhige Nacht verbringen dürfen. Sie folgte der Bäuerin in das Freie, wo die Helligkeit des neuen Tages ließ sie blinzeln ließ. Auch Hilde blieb kurz stehen, dann ging es weiter um die Scheune herum bis zum Wohnhaus.
„Warte hier“, befahl sie und verschwand im Haus.
Zuerst erschien ein kleines Mädchen in der Haustür. Aylene war so überrascht über das keine zwei Schritte vor ihr stehende Kind, welches sie mit großen Augen anstarrte, dass sie einen Augenblick lang ihre Lage vergaß.
„Wer bist du denn?“, fragte sie sanft.
„Farah! Bist du verrückt geworden! Geh sofort zurück in das Haus!“, schimpfte eine dunkle Männerstimme, dann schob sich ein großer und kräftiger Mann ins Freie. Er packte das Kind und drängte es zurück in das Haus. Kaum hatte er die Tür hinter ihr geschlossen, drehte er sich um und eilte mit ausgreifenden Schritten auf Aylene zu.
„Rühre ja nie wieder meine Tochter an!“, rief er barsch. „Wenn du ihr zu nahe kommst, breche ich dir alle Knochen einzeln im Leib! Hast du mich verstanden, Sklavin?“
„Ja ... ja, natürlich, mein Herr“, stammelte Aylene und wich zurück. „Ich würde doch einem Kind nichts antun.“
„Lüg nicht so frech!“ Der Mann stieß ihr mit beiden Händen gegen den Oberkörper. Sie stürzte nach hinten und prallte hart auf ihre Schultern. Keron beugte sich über die auf dem Boden liegenden Aylene und schüttelte drohend seine rechte Faust. „Fast umgebracht hast du sie. Dafür hätte man dich gleich aufhängen sollen“, schrie er sie wütend an.
„Was?“
„Leugnest du das etwa?“
„Nein! Nein! Ich leugne nicht.“ Sie hob abwehrend ihre Hände. „Es war mein Fehler, sie nicht sofort erkannt zu haben.“
Keron holte aus, um zuzutreten. Doch dann verharrte er und stellte langsam das Bein wieder ab. Er schloss die Augen und presste die Zähne fest zusammen. Mit einem tiefen Atemzug gewann er den inneren Kampf um seine Beherrschung und entspannte sich wieder.
„Steh auf und folge mir“, sagte er mit gezwungen ruhiger Stimme und schritt an Aylene vorbei.
Sie rappelte sich mühselig auf und eilte so schnell es ging hinter ihm her. Keron ging zu einem kleinen Schuppen und holte eine große Schaufel heraus.
„Ich werde dich zu unseren Feldern bringen“, sagte er. „Dort sollst du arbeiten.“
Sie verließen den Hof über den Weg nach Norden. Aylene versuchte trotz ihrer wunden Füße dem mit großen Schritten vorauseilenden Mann zu folgen, doch immer öfter musste er wartend stehen bleiben. Keron trieb sie dann mit ungeduldigen Worten an, bis sie humpelnd aufgeholt hatte, um dann, ohne eine Pause für sie, sofort weiterzugehen. So ging es über viele Hügel schier endlos dahin, bis Keron auf der Kuppe eines flachen Hügels anhielt. Er hob den rechten Arm und deutete auf einen etwa dreihundert Schritte entfernt vor ihnen liegenden größeren See.
„Der See dort speist einen unserer größeren Bäche“, erklärte er und deutete in einem Bogen nach rechts. „Der Bach fließt dort entlang bis zu unserem Hof und dann weiter in den Fluss Galo.“ Sein Arm fuhr zurück und zeigte auf einen vor ihnen rechts vom Weg liegenden großen Acker. „Die Bewässerungskanäle des Feldes zwischen dem Weg und dem Bach müssen ausgebessert werden.“
Er hob die Schaufel, die er getragen hatte, hoch und warf sie nach vorne. Staub und Steinsplitter stoben auf, als sie dumpf krachend auf dem Weg aufschlug.
„Wage nicht, jemanden damit zu bedrohen. Sobald sich jemand nähert, legst du die Schaufel auf den Boden und entfernst dich einige Schritte von ihr.“ Er sah sie streng an. „Verstanden?“
„Ja, Herr.“
„Das will ich hoffen, oder du wirst mit den bloßen Händen weitergraben.“ Er blickte wieder zum Feld. „In drei Tagen bist du fertig.“
„Für den ganzen Acker?“, fragte Aylene ungläubig.
Keron ruckte zu ihr herum. „Habe ich mich unklar ausgerückt, Sklavin?“
„Nein, Herr, natürlich nicht.“
„Dann solltest du hier nicht länger herumstehen.“ Er drehte sich um und ging den Weg zurück zum Hof. „Diese Arbeit wird dich davon abhalten, wieder Kinder zu überfallen“, rief er noch über die Schulter zurück.
Aylene ging zu der Schaufel und hob sie auf. Sie war ein plumpes Werkzeug, mit einem großen und dicken Blatt aus Holz, dessen Unterkante mit einem stark abgenützt wirkenden Metallstreifen verstärkt war. Sie mochte vielleicht von einem kräftigen Mann handhabbar sein, doch für sie war diese Schaufel viel zu schwer und unhandlich. Enttäuscht ging sie den Hügel hinab zum Feld.
Ihre Augen suchten den Acker nach den Bewässerungsgräben ab. Die zweite Enttäuschung traf sie, als sie nur noch kaum erkennbare Überreste fand. Aylene folgte einer dieser knapp ellenbreiten Vertiefungen bis auf die gegenüberliegende Seite des Feldes, wo der Bach vorbeifloss. Etwa einen Schritt von ihm entfernt setzte sie die Schaufel an.
Es gelang ihr nicht, die Schaufel in den steinhart ausgedörrten Boden zu schieben. Ihr Blick schweifte über das große Feld. Nein, es gab keinen Zweifel über den Sinn dieses Auftrags. Mutlos geworden setzte sie sich auf den Boden und schloss die Augen. Jetzt, als nur noch das leise Säuseln des Windes zu hören war, stiegen die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft hoch. Gequält stöhnte sie auf und grub ihre Finger in den Boden. Es war unerträglich! Sie riss die Augen auf und sprang auf.
Aylene stellte sich auf die Schaufel und verlagerte abwechselnd ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere, um das viel zu dicke Holz Stück für Stück in den harten Boden zu treiben. Es war nicht einfach, dabei das Gleichgewicht zu bewahren und sie musste mehrmals wieder aufsteigen, doch sie ließ nicht nach, bis das Blatt endlich zur Hälfte im Boden steckte. Nun griff mit beiden Händen fest um den Stiel. Die Schaufel schien wie eingewachsen. Sie verstärkte ihre Anstrengung, zerrte an ihr, bis mit einem leichten Rumpeln endlich das erste Stück Erde herausbrach.
Nach einigen Stichen hatte Aylene sich auf Boden und Schaufel eingestellt. Sie konnte jetzt das Gleichgewicht wahren und mit ihrem Wiegetritt viel schneller als beim ersten Versuch das Blatt in Boden schieben. Zügig arbeite sie sich die Rinne entlang auf den Weg zu.
Sie hatte es geschafft, der erste Graben war fast fertig. Sie lief an ihm entlang zurück zum Bach und schaufelte das verbliebene Stück weg, das den Kanal absperrte. Als das Wasser anfing in ihn zu laufen, sank sie auf ihre Knie. Rauschend und gluckernd floss es an ihr vorbei, das Sonnenlicht brach sich glitzernd in den kleinen Wellen. Sie tauchte die Arme in das Wasser, dessen eisige Kälte wie tausend Nadeln in die Haut stachen. Mit der hohlen Hand schöpfte sie etwas davon, um es sich in das Gesicht zu spritzen und dann mit kleinen Schlucken zu trinken.
Nach der kleinen Pause stand Aylene auf. Frohen Mutes packte sie die Schaufel und wandte sich dem zweiten Graben zu. Es war zu schaffen.
Doch als sie den dritten Graben zur Hälfte fertig hatte, durchdrang der wachsende Schmerz ihre Konzentration. Es war die grobe Schaufelkante, die sich immer nachdrücklicher in ihre ohnehin wunden Fußsohlen drückte und so jeden Schaufelstich zu einer leisen aber beständigen Pein werden ließ. Aylene biss ihre Zähne zusammen, doch ihre Beine wurden immer schwerer. Sie hielt auf der Schaufel stehend inne. Ihre ganze Zuversicht kippte mit einem Schlag und sie fiel in ein tiefes Loch. Es war sinnlos. Man wollte sie nur demütigen. Ihre Hände verkrampften sich so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Nein!“
Sie rammte verzweifelt das Werkzeug tiefer in den Boden, während Tränen ohnmächtigen Zorns über ihr Gesicht liefen.
Eine Berührung am Rücken ließ Aylene innehalten.
„Hast du meine Rufe nicht gehört?“, hörte sie eine undeutliche Stimme. Mühsam drehte sie ihren Kopf um und erkannte Hilde.
„Verzeihung, Herrin, ich habe Euch nicht bemerkt“, stammelte sie und stieg vorsichtig von der Schaufel. Sie musste sich dabei am Stiel festhalten, um den nach ihr greifenden Schwindel zu bekämpfen.
„Was machst du hier?“, fragte Hilde weiter.
Das Rauschen in ihren Ohren ließ Aylene die Stimme immer noch undeutlich erscheinen. „Ich ziehe die Bewässerungsgräben nach.“
„Wer hat das gesagt?“
„Der junge Mann auf Eurem Hof.“
„Keron?“ Hilde schüttelte ihren Kopf. „Dieser Acker wird doch schon seit Jahren nicht mehr genutzt, da bei jedem Gewitter See und Bach über ihre Ufer treten und alles zerstören.“ Sie stellte ihren Korb ab und ergriff die Schaufel. „Das ist doch unsere große Sandschaufel“, stellte sie überrascht fest. „Ist die auch von ihm?“
„Ja, Herrin.“
Hilde wog das Werkzeug nachdenklich in der Hand. „Die ist für den harten Ackerboden hier völlig ungeeignet. Dafür haben wir Spaten mit Blättern aus geschmiedetem Eisen.“
Ihre Stimme war zunehmend gereizt geworden. Ihre Augen entdeckten die rot schimmernde Blattoberkante. Sie fuhr mit dem Zeigefinger ihrer anderen Hand darüber.
„Setze dich hin und zeige mir deine Füße.“
Aylene kam der Aufforderung nach. Hilde beugte sich zu ihr herab, hob das linke Bein an der Wade hoch und betrachte die Fußsohle. Ihr zuerst harter Griff wurde lockerer, bis sie das Bein wieder losließ. Nachdenklich geworden sah sie Aylene eine Weile stumm an. Schließlich nickte sie unmerklich. „Du wartest hier, bis ich wieder komme“, sagte sie. „Ruhe dich solange aus. Im Korb sind Kartoffeln und etwas Brot.“
Aylene sah der Bäuerin nach, die mir großen Schritten den Weg zurück zum Hof einschlug, bis sie hinter dem Hügel verschwunden war. Dann nahm sie den Korb und humpelte zum Bach, um sich dort auf einen großen Stein zu setzten.
Knapp zwei Stunden später konnte Aylene sehen, wie Hilde und Ragar auf der Kuppe des Hügels erschienen. Sie konnte erkennen, wie Beide auf dem höchsten Punkt stehen blieben, und die Frau in ihre Richtung deutete. Der Mann hatte einen Sack über die Schulter geworfen und gestikulierte etwas aufgeregt, dann gingen sie zusammen weiter den Weg herab.
Als Aylene von ihrem Stein aufstehen wollte, gab Ragar ihr ein Zeichen zu warten und ging dann zusammen mit seiner Frau über den Acker zu ihr. Etwas außer Atem stellte er den Sack ab.
„Hilde hat mir alles über deine Arbeit erzählt“, sagte er und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Ich wollte es erst nicht glauben, doch Keron hat es dann zugegeben.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Nein, das hätte ich nicht von ihm erwartet“, meinte er leise. „Nun“, seine Stimme hob sich wieder, „eine Sklavin hat keine Entschuldigung zu erwarten. Du sollst lediglich wissen, dass wir von dir harte Arbeit als Wiedergutmachung für deine Verbrechen erwarten, aber dich nicht quälen wollen. Wenn du gehorchst, soll dir kein Leid geschehen. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Herr.“
Ragar verzog ein wenig sein Gesicht, wandte sich ab und ging zu der am Boden liegenden Schaufel. Er hob sie auf und ging ohne weitere Erklärung davon.
Hilde deutete auf Aylenes Füße. „So schlimm zugerichtete Füße habe ich noch nie gesehen. Ragar und ich meinen daher, du solltest sie schonen, indem du auf unseren Feldern übernachtest. Das ist etwas kühl, doch es wird in den nächsten Tagen mit Sicherheit nicht regnen. In dem Sack sind neben Decken und Kleidung auch eine Dose mit Kräutersalbe, Tücher zum verbinden und ein Paar alte Sandalen. Genug für heute, versorge deine Füße und ruhe dich aus.“
„Danke, Herrin.“
„Wir machen das nur, um deine Arbeitskraft zu erhalten. Ab Morgen früh fängst du an, unsere Strauchwollfelder abzuernten.“ Sie deutete nach Süden. „Du müsstest sie bereits gesehen haben. Sie liegen ebenfalls zwischen Weg und Bach, gleich hinter dem Hügel fangen sie an und erstrecken sich bis zu unserem Hof. Morgen werde ich dir zeigen, was du zu tun hast.“ Sie stand auf, um zurückzukehren, drehte sich nach zwei Schritten aber noch einmal um. „Wenn du kannst, solltest du besser noch heute zum ersten Feld hinter dem Hügel gehen. Dann kannst du dich in den Sträuchern verbergen.“
Nachdem Hilde gegangen war, hielt Aylene die Luft an und tauchte beide Beine zugleich in den Bach. Der scharfe Schmerz ließ sie dennoch aufstöhnen und dunkle Flecken erschienen in ihrem Blickfeld. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Balance auf dem Stein, die sie mit rudernden Armen hielt. Es dauerte nicht lange, bis die Kälte des Wassers ihre Füße betäubte. Sie bewegte sie hin und her, um den Schmutz abzuspülen, dann hob sie beide Beine heraus und zog sie schneidersitzartig an den Leib. Als sie nun während des Trocknens ihre Fußsohlen sah, wurde sie blass vor Schreck. Hatte wirklich nur die Angst vor Strafe sie so weit getrieben? Kopfschüttelnd machte sie die Dose auf und tupfte die grüne Salbe auf. Anschließend wickelte sie Stoffstreifen aus glattem und dicht gewebtem Leinen herum. Dann zog sie die Sandalen aus dem Sack. Sie waren etwas zu groß für sie, doch Hilde hatte sie mit weichen Fellresten ausstopft. So saßen sie dennoch gut und, wie Aylene beim Aufstehen bemerkte, polsterten angenehm ihre Verletzungen ab. Erleichtert darüber, wieder so gut gehen zu können, schulterte sie den Sack und machte sich auf zu den Strauchwollfeldern.
Auf dem Hinweg hatte sie nicht auf die Umgebung geachtet, doch bereits von der Kuppe des Hügels aus waren die Felder zu erkennen. Der Anblick dieser dunkelgrünen Büsche mit den weißen Punkten war Aylene nicht unbekannt, doch sie hatte sich nie näher mit dem Strauchwollanbau befasst. Er schien hier gut zu gelingen, denn links vom Weg erstreckten sich sie sich so weit sie sehen konnte. Rechts vom Weg war die Landschaft dagegen nahezu kahl, hier befanden sich nur vereinzelte Felder, auf denen dann Getreide und einige Obstbäume standen.
Als sie den Hügel hinabging und die Strauchwollfelder erreichte, konnte sie den Grund für den spärlichen Anbau auf der rechten Wegseite erkennen. Das Gelände schwang sich hier in einer leichten Neigung nach oben um in einiger Entfernung in eine Hügelkette überzugehen, wodurch eine Bewässerung mit Gräben vom Bach aus nicht möglich war. Aylene ging noch etwas am ersten Feld entlang, bis zu einer kleinen Ansammlung von Bäumen auf der rechten Seite. Aus ihnen floss ein Rinnsal heraus, kreuzte die Straße um weiter in das Strauchwollfeld zu fließen und vermutlich in dem Bach zu münden. Aylene blickte sehnsüchtig zu den Äpfeln hinauf. Sie wirkten noch etwas unreif, doch es schien ihr ewig her, Obst gegessen zu haben. Wie gerne hätte sie sich einen Apfel genommen! Gewaltsam riss sie sich von dem gefährlichen Gedanken los und schob sich in das Strauchwollfeld hinein.
Die Büsche reichten ihr bis zu den Schultern, einige auch knapp über den Kopf. Aylene kam mühelos voran und musste fast ein Dutzend Schritte weit in das Feld gehen, bis sie die Bäume auf der gegenüber liegenden Seite kaum noch sah, denn so dicht die Büsche auch aus der Entfernung wirkten, standen sie nun eher weit und trugen wenig Laub. Hier suchte sie eine trockene Stelle und stellte den Sack auf dem sandigen Boden ab. Es war erst später Nachmittag, Zeit genug noch, um trockenes Gras zu suchen.
Als es dunkel wurde, hatte Aylene genügend Gras als Bodenpolster gefunden. Sie hatte sich abschließend gewaschen und umgezogen, und jetzt, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, legte sie sich zum Schlafen hin. Es war ein fast vergessenes Gefühl, einfach so in sauberer Kleidung dazuliegen und den sanft raschelnden Büschen zuzuhören. Ihr Blick ging nach oben. Die Sterne waren durch die Zweige hindurch gut zu sehen. Hatte sie diese Konstellation nicht am Vorabend des Überfalls gesehen? Wie lange war das nur her? Unbewusst tastete sie nach dem Ring, der um ihren Hals lag und etwas gegen das Kinn drückte.
„Aylene! Aylene, wo steckst du?“
Aylene schrak aus ihrem Schlaf. Es dauerte einen kurzen Moment der Orientierung, bis sie wieder wusste, wo sie war, dann stand sie auf und schlüpfte hastig in ihre Sandalen.
„Aylene!“
„Ich komme!“, rief sie und lief los. Die zu großen Sandalen ließen sie etwas schwerfällig aus dem Feld hervorvorkommen.
„Bitte verzeiht, Herrin, ich ...“
Die große Bäuerin unterbrach sie mit einer knappen Geste.
„Keron hilft Ragnar bei der Scheune, dafür sollst du die Strauchwolle pflücken“, sagte sie knapp und reichte Aylene zwei große Säcke. „Du stopfst die Wolle in sie hinein. Wenn einer voll ist, legst du ihn an den Wegesrand. Ich hole die Säcke ab, wenn ich dir zu Essen bringe.“
„Danke, Herrin.“
Hilde winke ab und ging zu einem der Sträucher. „Hier, diese weißen Bällchen sollst du pflücken. Das geht am besten, wenn du sie so anfasst“, sie nahm einen Bausch zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, „und dann mit einem kurzen Ruck abziehst.“
„Ja, Herrin.“
„Noch etwas: Du bleibst den ganzen Sommer über hier. Nur bei Regen sollst du in die kleine Scheune kommen.“
„Auch wenn meine Füße wieder verheilt sind?“
Hilde zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. „Wir wollen dich nicht auf unserem Hof haben“, erwiderte sie streng.
„Verstehe“, flüsterte Aylene und blickte zu Boden.
„Dann ist es ja gut“, meinte Hilde und ging zurück zum Weg.
Auf dem Hof fand Hilde Ragar und Keron bei der Arbeit für die neuen Scheune vor. Sie hatten vor über einer Woche damit angefangen und es ragten bereits die Stützbalken in den Himmel, an denen sie nun erste Verstrebungen anbrachten. Hilde ging zu Keron, der mit einer Axt eine Latte bearbeitete. Es war ihr eine Freude ihm dabei zuzusehen, wie er das plump erscheinende Werkzeug mit einer Geschicklichkeit führte, die selbst erfahrene Zimmerleute nur schwer aufbringen konnten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Aylene wird auf den Strauchwollfeldern bleiben.“
„Von mir aus kann sie dort für immer bleiben“, knurrte er. „Sie ist böse und gefährlich.“
„Ich weiß nicht...Was machst du denn da?“, unterbrach sich Hilde erschrocken.
Die neben ihrem Vater sitzende Farah sah nur kurz auf.
„Sie hilft uns.“, antwortete Keron stattdessen. „Wir brauchen noch eine Menge Dübel, um die Balken zu verbinden, und Farah macht sie uns.“ Er stieß seine Tochter leicht an. „Zeig Großmutter doch, wie toll du die machst.“
Farah legte ihr großes Messer weg und griff in den neben ihr stehenden Korb. Mit vor Stolz glänzenden Augen hielt sie einen handlangen und daumendicken Holzstab hoch. Hilde nahm in entgegen und betrachte ihn kurz. „Ja, das machst du gut, doch du könntest dich leicht verletzen.“
„Nein“, meinte Keron, „dazu ist meine Tochter viel zu geschickt.“ Er lächelte versonnen. „Das hat sie von ihrer Mutter.“
Hildes Gesicht verfinsterte sich etwas. Sie gab Farah den Dübel zurück. „Sei vorsichtig, mein Kind“, meinte sie und ging weiter zu Ragar.
„Ich habe nur noch etwas Mehl und Kartoffeln im Haus“, sagte sie. „Und ich habe Nichts, um auf dem Markt einzukaufen.“
Ragnar, der gerade ein Loch in einen der Stützbalken bohrte, wandte seinen Kopf zu ihr. „Ist es so schlimm?“
Hilde nickte nur.
Ragar legte den Bohrer auf den Boden und fuhr sich nachdenklich über das Gesicht. „Dann werden wir auch die zweite Kuh verkaufen müssen.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Aber dann haben wir keine Milch mehr.“
„Das will ich nicht. Wir brauchen sie für Farah, sie ist so furchtbar dürr.“
„Ja, aber was sollen wir dann verkaufen? Das Feuer hat unsere ganze Strauchwollernte vom Vorjahr vernichtet und das Holz für die Scheune kostet viel. Ich musste schon Schulden machen.“
Hilde dachte kurz nach, dann hob sie ihre rechte Hand und blickte auf ihren Ringfinger. „Ich könnte ihn verpfänden.“
„Deinen Ring?“, rutschte es Ragar entsetzt heraus.
Hilde legte einen Finger auf ihre Lippen. „Nur, wenn du einverstanden bist.“
Ragar schüttete den Kopf. „Nein, du hast ihn von deiner Mutter bekommen“, erwiderte er mit gedämpfter Stimme.
„Sie hätte es bestimmt auch so gewollt. Es fällt mir schwer, doch ich mache es gerne.“
Ragnar nickte schließlich. „Doch Keron darf nichts davon erfahren. Er hasst Aylene ohnehin, und ich will nicht, dass er sich erneut so gehen lässt. Am besten rede ich mit Galorian. Ich kenne ihn schon lange, er wird uns einen ehrlichen Preis geben und ich will ihn bitten, dich vorerst den Ring weiter tragen zu lassen.“
Feldarbeit
Hilde kam kurz nach Sonnenaufgang wieder in die Scheune. In dem Halbdunkel konnte sie zuerst nur eine undeutliche Kontur erkennen, dann schälten sich allmählich die Umrisse einer tief schlafenden Gestalt heraus. Aylene lag in ihrem kleidartigen Gewand zusammengekrümmt auf dem Stroh, die zu kleine Decke um die Beine gewickelt und die Arme überkreuzt vor die Brust gezogen. Hilde wartete noch, bis sie auch die Gesichtszüge erkennen konnte, schließlich löste sie ihren Blick von dem ausgezehrt wirkenden Gesicht mit den bläulichen Lippen und stieß der Fremden leicht mit dem Fuß in die Seite. Sogleich riss Aylene ihre Augen auf und starrte sie mit angstverzerrtem Gesicht an. Doch es währte nur einen Augenblick, dann nahm ihr Gesicht wieder jenen müden und unterwürfigen Ausdruck an, den Hilde bereits kannte. Die Bäuerin räusperte sich.
„Komm mit.“
Aylene stand schwerfällig auf. Die Kälte hatte ihre Glieder steif werden lassen und ihr Körper war von den Strapazen des Vortags noch geschwächt, doch wenigsten hatte sie seit unendlich lang erscheinender Zeit eine ruhige Nacht verbringen dürfen. Sie folgte der Bäuerin in das Freie, wo die Helligkeit des neuen Tages ließ sie blinzeln ließ. Auch Hilde blieb kurz stehen, dann ging es weiter um die Scheune herum bis zum Wohnhaus.
„Warte hier“, befahl sie und verschwand im Haus.
Zuerst erschien ein kleines Mädchen in der Haustür. Aylene war so überrascht über das keine zwei Schritte vor ihr stehende Kind, welches sie mit großen Augen anstarrte, dass sie einen Augenblick lang ihre Lage vergaß.
„Wer bist du denn?“, fragte sie sanft.
„Farah! Bist du verrückt geworden! Geh sofort zurück in das Haus!“, schimpfte eine dunkle Männerstimme, dann schob sich ein großer und kräftiger Mann ins Freie. Er packte das Kind und drängte es zurück in das Haus. Kaum hatte er die Tür hinter ihr geschlossen, drehte er sich um und eilte mit ausgreifenden Schritten auf Aylene zu.
„Rühre ja nie wieder meine Tochter an!“, rief er barsch. „Wenn du ihr zu nahe kommst, breche ich dir alle Knochen einzeln im Leib! Hast du mich verstanden, Sklavin?“
„Ja ... ja, natürlich, mein Herr“, stammelte Aylene und wich zurück. „Ich würde doch einem Kind nichts antun.“
„Lüg nicht so frech!“ Der Mann stieß ihr mit beiden Händen gegen den Oberkörper. Sie stürzte nach hinten und prallte hart auf ihre Schultern. Keron beugte sich über die auf dem Boden liegenden Aylene und schüttelte drohend seine rechte Faust. „Fast umgebracht hast du sie. Dafür hätte man dich gleich aufhängen sollen“, schrie er sie wütend an.
„Was?“
„Leugnest du das etwa?“
„Nein! Nein! Ich leugne nicht.“ Sie hob abwehrend ihre Hände. „Es war mein Fehler, sie nicht sofort erkannt zu haben.“
Keron holte aus, um zuzutreten. Doch dann verharrte er und stellte langsam das Bein wieder ab. Er schloss die Augen und presste die Zähne fest zusammen. Mit einem tiefen Atemzug gewann er den inneren Kampf um seine Beherrschung und entspannte sich wieder.
„Steh auf und folge mir“, sagte er mit gezwungen ruhiger Stimme und schritt an Aylene vorbei.
Sie rappelte sich mühselig auf und eilte so schnell es ging hinter ihm her. Keron ging zu einem kleinen Schuppen und holte eine große Schaufel heraus.
„Ich werde dich zu unseren Feldern bringen“, sagte er. „Dort sollst du arbeiten.“
Sie verließen den Hof über den Weg nach Norden. Aylene versuchte trotz ihrer wunden Füße dem mit großen Schritten vorauseilenden Mann zu folgen, doch immer öfter musste er wartend stehen bleiben. Keron trieb sie dann mit ungeduldigen Worten an, bis sie humpelnd aufgeholt hatte, um dann, ohne eine Pause für sie, sofort weiterzugehen. So ging es über viele Hügel schier endlos dahin, bis Keron auf der Kuppe eines flachen Hügels anhielt. Er hob den rechten Arm und deutete auf einen etwa dreihundert Schritte entfernt vor ihnen liegenden größeren See.
„Der See dort speist einen unserer größeren Bäche“, erklärte er und deutete in einem Bogen nach rechts. „Der Bach fließt dort entlang bis zu unserem Hof und dann weiter in den Fluss Galo.“ Sein Arm fuhr zurück und zeigte auf einen vor ihnen rechts vom Weg liegenden großen Acker. „Die Bewässerungskanäle des Feldes zwischen dem Weg und dem Bach müssen ausgebessert werden.“
Er hob die Schaufel, die er getragen hatte, hoch und warf sie nach vorne. Staub und Steinsplitter stoben auf, als sie dumpf krachend auf dem Weg aufschlug.
„Wage nicht, jemanden damit zu bedrohen. Sobald sich jemand nähert, legst du die Schaufel auf den Boden und entfernst dich einige Schritte von ihr.“ Er sah sie streng an. „Verstanden?“
„Ja, Herr.“
„Das will ich hoffen, oder du wirst mit den bloßen Händen weitergraben.“ Er blickte wieder zum Feld. „In drei Tagen bist du fertig.“
„Für den ganzen Acker?“, fragte Aylene ungläubig.
Keron ruckte zu ihr herum. „Habe ich mich unklar ausgerückt, Sklavin?“
„Nein, Herr, natürlich nicht.“
„Dann solltest du hier nicht länger herumstehen.“ Er drehte sich um und ging den Weg zurück zum Hof. „Diese Arbeit wird dich davon abhalten, wieder Kinder zu überfallen“, rief er noch über die Schulter zurück.
Aylene ging zu der Schaufel und hob sie auf. Sie war ein plumpes Werkzeug, mit einem großen und dicken Blatt aus Holz, dessen Unterkante mit einem stark abgenützt wirkenden Metallstreifen verstärkt war. Sie mochte vielleicht von einem kräftigen Mann handhabbar sein, doch für sie war diese Schaufel viel zu schwer und unhandlich. Enttäuscht ging sie den Hügel hinab zum Feld.
Ihre Augen suchten den Acker nach den Bewässerungsgräben ab. Die zweite Enttäuschung traf sie, als sie nur noch kaum erkennbare Überreste fand. Aylene folgte einer dieser knapp ellenbreiten Vertiefungen bis auf die gegenüberliegende Seite des Feldes, wo der Bach vorbeifloss. Etwa einen Schritt von ihm entfernt setzte sie die Schaufel an.
Es gelang ihr nicht, die Schaufel in den steinhart ausgedörrten Boden zu schieben. Ihr Blick schweifte über das große Feld. Nein, es gab keinen Zweifel über den Sinn dieses Auftrags. Mutlos geworden setzte sie sich auf den Boden und schloss die Augen. Jetzt, als nur noch das leise Säuseln des Windes zu hören war, stiegen die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft hoch. Gequält stöhnte sie auf und grub ihre Finger in den Boden. Es war unerträglich! Sie riss die Augen auf und sprang auf.
Aylene stellte sich auf die Schaufel und verlagerte abwechselnd ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere, um das viel zu dicke Holz Stück für Stück in den harten Boden zu treiben. Es war nicht einfach, dabei das Gleichgewicht zu bewahren und sie musste mehrmals wieder aufsteigen, doch sie ließ nicht nach, bis das Blatt endlich zur Hälfte im Boden steckte. Nun griff mit beiden Händen fest um den Stiel. Die Schaufel schien wie eingewachsen. Sie verstärkte ihre Anstrengung, zerrte an ihr, bis mit einem leichten Rumpeln endlich das erste Stück Erde herausbrach.
Nach einigen Stichen hatte Aylene sich auf Boden und Schaufel eingestellt. Sie konnte jetzt das Gleichgewicht wahren und mit ihrem Wiegetritt viel schneller als beim ersten Versuch das Blatt in Boden schieben. Zügig arbeite sie sich die Rinne entlang auf den Weg zu.
Sie hatte es geschafft, der erste Graben war fast fertig. Sie lief an ihm entlang zurück zum Bach und schaufelte das verbliebene Stück weg, das den Kanal absperrte. Als das Wasser anfing in ihn zu laufen, sank sie auf ihre Knie. Rauschend und gluckernd floss es an ihr vorbei, das Sonnenlicht brach sich glitzernd in den kleinen Wellen. Sie tauchte die Arme in das Wasser, dessen eisige Kälte wie tausend Nadeln in die Haut stachen. Mit der hohlen Hand schöpfte sie etwas davon, um es sich in das Gesicht zu spritzen und dann mit kleinen Schlucken zu trinken.
Nach der kleinen Pause stand Aylene auf. Frohen Mutes packte sie die Schaufel und wandte sich dem zweiten Graben zu. Es war zu schaffen.
Doch als sie den dritten Graben zur Hälfte fertig hatte, durchdrang der wachsende Schmerz ihre Konzentration. Es war die grobe Schaufelkante, die sich immer nachdrücklicher in ihre ohnehin wunden Fußsohlen drückte und so jeden Schaufelstich zu einer leisen aber beständigen Pein werden ließ. Aylene biss ihre Zähne zusammen, doch ihre Beine wurden immer schwerer. Sie hielt auf der Schaufel stehend inne. Ihre ganze Zuversicht kippte mit einem Schlag und sie fiel in ein tiefes Loch. Es war sinnlos. Man wollte sie nur demütigen. Ihre Hände verkrampften sich so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Nein!“
Sie rammte verzweifelt das Werkzeug tiefer in den Boden, während Tränen ohnmächtigen Zorns über ihr Gesicht liefen.
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Eine Berührung am Rücken ließ Aylene innehalten.
„Hast du meine Rufe nicht gehört?“, hörte sie eine undeutliche Stimme. Mühsam drehte sie ihren Kopf um und erkannte Hilde.
„Verzeihung, Herrin, ich habe Euch nicht bemerkt“, stammelte sie und stieg vorsichtig von der Schaufel. Sie musste sich dabei am Stiel festhalten, um den nach ihr greifenden Schwindel zu bekämpfen.
„Was machst du hier?“, fragte Hilde weiter.
Das Rauschen in ihren Ohren ließ Aylene die Stimme immer noch undeutlich erscheinen. „Ich ziehe die Bewässerungsgräben nach.“
„Wer hat das gesagt?“
„Der junge Mann auf Eurem Hof.“
„Keron?“ Hilde schüttelte ihren Kopf. „Dieser Acker wird doch schon seit Jahren nicht mehr genutzt, da bei jedem Gewitter See und Bach über ihre Ufer treten und alles zerstören.“ Sie stellte ihren Korb ab und ergriff die Schaufel. „Das ist doch unsere große Sandschaufel“, stellte sie überrascht fest. „Ist die auch von ihm?“
„Ja, Herrin.“
Hilde wog das Werkzeug nachdenklich in der Hand. „Die ist für den harten Ackerboden hier völlig ungeeignet. Dafür haben wir Spaten mit Blättern aus geschmiedetem Eisen.“
Ihre Stimme war zunehmend gereizt geworden. Ihre Augen entdeckten die rot schimmernde Blattoberkante. Sie fuhr mit dem Zeigefinger ihrer anderen Hand darüber.
„Setze dich hin und zeige mir deine Füße.“
Aylene kam der Aufforderung nach. Hilde beugte sich zu ihr herab, hob das linke Bein an der Wade hoch und betrachte die Fußsohle. Ihr zuerst harter Griff wurde lockerer, bis sie das Bein wieder losließ. Nachdenklich geworden sah sie Aylene eine Weile stumm an. Schließlich nickte sie unmerklich. „Du wartest hier, bis ich wieder komme“, sagte sie. „Ruhe dich solange aus. Im Korb sind Kartoffeln und etwas Brot.“
Aylene sah der Bäuerin nach, die mir großen Schritten den Weg zurück zum Hof einschlug, bis sie hinter dem Hügel verschwunden war. Dann nahm sie den Korb und humpelte zum Bach, um sich dort auf einen großen Stein zu setzten.
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Knapp zwei Stunden später konnte Aylene sehen, wie Hilde und Ragar auf der Kuppe des Hügels erschienen. Sie konnte erkennen, wie Beide auf dem höchsten Punkt stehen blieben, und die Frau in ihre Richtung deutete. Der Mann hatte einen Sack über die Schulter geworfen und gestikulierte etwas aufgeregt, dann gingen sie zusammen weiter den Weg herab.
Als Aylene von ihrem Stein aufstehen wollte, gab Ragar ihr ein Zeichen zu warten und ging dann zusammen mit seiner Frau über den Acker zu ihr. Etwas außer Atem stellte er den Sack ab.
„Hilde hat mir alles über deine Arbeit erzählt“, sagte er und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Ich wollte es erst nicht glauben, doch Keron hat es dann zugegeben.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Nein, das hätte ich nicht von ihm erwartet“, meinte er leise. „Nun“, seine Stimme hob sich wieder, „eine Sklavin hat keine Entschuldigung zu erwarten. Du sollst lediglich wissen, dass wir von dir harte Arbeit als Wiedergutmachung für deine Verbrechen erwarten, aber dich nicht quälen wollen. Wenn du gehorchst, soll dir kein Leid geschehen. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Herr.“
Ragar verzog ein wenig sein Gesicht, wandte sich ab und ging zu der am Boden liegenden Schaufel. Er hob sie auf und ging ohne weitere Erklärung davon.
Hilde deutete auf Aylenes Füße. „So schlimm zugerichtete Füße habe ich noch nie gesehen. Ragar und ich meinen daher, du solltest sie schonen, indem du auf unseren Feldern übernachtest. Das ist etwas kühl, doch es wird in den nächsten Tagen mit Sicherheit nicht regnen. In dem Sack sind neben Decken und Kleidung auch eine Dose mit Kräutersalbe, Tücher zum verbinden und ein Paar alte Sandalen. Genug für heute, versorge deine Füße und ruhe dich aus.“
„Danke, Herrin.“
„Wir machen das nur, um deine Arbeitskraft zu erhalten. Ab Morgen früh fängst du an, unsere Strauchwollfelder abzuernten.“ Sie deutete nach Süden. „Du müsstest sie bereits gesehen haben. Sie liegen ebenfalls zwischen Weg und Bach, gleich hinter dem Hügel fangen sie an und erstrecken sich bis zu unserem Hof. Morgen werde ich dir zeigen, was du zu tun hast.“ Sie stand auf, um zurückzukehren, drehte sich nach zwei Schritten aber noch einmal um. „Wenn du kannst, solltest du besser noch heute zum ersten Feld hinter dem Hügel gehen. Dann kannst du dich in den Sträuchern verbergen.“
Nachdem Hilde gegangen war, hielt Aylene die Luft an und tauchte beide Beine zugleich in den Bach. Der scharfe Schmerz ließ sie dennoch aufstöhnen und dunkle Flecken erschienen in ihrem Blickfeld. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Balance auf dem Stein, die sie mit rudernden Armen hielt. Es dauerte nicht lange, bis die Kälte des Wassers ihre Füße betäubte. Sie bewegte sie hin und her, um den Schmutz abzuspülen, dann hob sie beide Beine heraus und zog sie schneidersitzartig an den Leib. Als sie nun während des Trocknens ihre Fußsohlen sah, wurde sie blass vor Schreck. Hatte wirklich nur die Angst vor Strafe sie so weit getrieben? Kopfschüttelnd machte sie die Dose auf und tupfte die grüne Salbe auf. Anschließend wickelte sie Stoffstreifen aus glattem und dicht gewebtem Leinen herum. Dann zog sie die Sandalen aus dem Sack. Sie waren etwas zu groß für sie, doch Hilde hatte sie mit weichen Fellresten ausstopft. So saßen sie dennoch gut und, wie Aylene beim Aufstehen bemerkte, polsterten angenehm ihre Verletzungen ab. Erleichtert darüber, wieder so gut gehen zu können, schulterte sie den Sack und machte sich auf zu den Strauchwollfeldern.
Auf dem Hinweg hatte sie nicht auf die Umgebung geachtet, doch bereits von der Kuppe des Hügels aus waren die Felder zu erkennen. Der Anblick dieser dunkelgrünen Büsche mit den weißen Punkten war Aylene nicht unbekannt, doch sie hatte sich nie näher mit dem Strauchwollanbau befasst. Er schien hier gut zu gelingen, denn links vom Weg erstreckten sich sie sich so weit sie sehen konnte. Rechts vom Weg war die Landschaft dagegen nahezu kahl, hier befanden sich nur vereinzelte Felder, auf denen dann Getreide und einige Obstbäume standen.
Als sie den Hügel hinabging und die Strauchwollfelder erreichte, konnte sie den Grund für den spärlichen Anbau auf der rechten Wegseite erkennen. Das Gelände schwang sich hier in einer leichten Neigung nach oben um in einiger Entfernung in eine Hügelkette überzugehen, wodurch eine Bewässerung mit Gräben vom Bach aus nicht möglich war. Aylene ging noch etwas am ersten Feld entlang, bis zu einer kleinen Ansammlung von Bäumen auf der rechten Seite. Aus ihnen floss ein Rinnsal heraus, kreuzte die Straße um weiter in das Strauchwollfeld zu fließen und vermutlich in dem Bach zu münden. Aylene blickte sehnsüchtig zu den Äpfeln hinauf. Sie wirkten noch etwas unreif, doch es schien ihr ewig her, Obst gegessen zu haben. Wie gerne hätte sie sich einen Apfel genommen! Gewaltsam riss sie sich von dem gefährlichen Gedanken los und schob sich in das Strauchwollfeld hinein.
Die Büsche reichten ihr bis zu den Schultern, einige auch knapp über den Kopf. Aylene kam mühelos voran und musste fast ein Dutzend Schritte weit in das Feld gehen, bis sie die Bäume auf der gegenüber liegenden Seite kaum noch sah, denn so dicht die Büsche auch aus der Entfernung wirkten, standen sie nun eher weit und trugen wenig Laub. Hier suchte sie eine trockene Stelle und stellte den Sack auf dem sandigen Boden ab. Es war erst später Nachmittag, Zeit genug noch, um trockenes Gras zu suchen.
Als es dunkel wurde, hatte Aylene genügend Gras als Bodenpolster gefunden. Sie hatte sich abschließend gewaschen und umgezogen, und jetzt, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, legte sie sich zum Schlafen hin. Es war ein fast vergessenes Gefühl, einfach so in sauberer Kleidung dazuliegen und den sanft raschelnden Büschen zuzuhören. Ihr Blick ging nach oben. Die Sterne waren durch die Zweige hindurch gut zu sehen. Hatte sie diese Konstellation nicht am Vorabend des Überfalls gesehen? Wie lange war das nur her? Unbewusst tastete sie nach dem Ring, der um ihren Hals lag und etwas gegen das Kinn drückte.
*
„Aylene! Aylene, wo steckst du?“
Aylene schrak aus ihrem Schlaf. Es dauerte einen kurzen Moment der Orientierung, bis sie wieder wusste, wo sie war, dann stand sie auf und schlüpfte hastig in ihre Sandalen.
„Aylene!“
„Ich komme!“, rief sie und lief los. Die zu großen Sandalen ließen sie etwas schwerfällig aus dem Feld hervorvorkommen.
„Bitte verzeiht, Herrin, ich ...“
Die große Bäuerin unterbrach sie mit einer knappen Geste.
„Keron hilft Ragnar bei der Scheune, dafür sollst du die Strauchwolle pflücken“, sagte sie knapp und reichte Aylene zwei große Säcke. „Du stopfst die Wolle in sie hinein. Wenn einer voll ist, legst du ihn an den Wegesrand. Ich hole die Säcke ab, wenn ich dir zu Essen bringe.“
„Danke, Herrin.“
Hilde winke ab und ging zu einem der Sträucher. „Hier, diese weißen Bällchen sollst du pflücken. Das geht am besten, wenn du sie so anfasst“, sie nahm einen Bausch zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, „und dann mit einem kurzen Ruck abziehst.“
„Ja, Herrin.“
„Noch etwas: Du bleibst den ganzen Sommer über hier. Nur bei Regen sollst du in die kleine Scheune kommen.“
„Auch wenn meine Füße wieder verheilt sind?“
Hilde zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. „Wir wollen dich nicht auf unserem Hof haben“, erwiderte sie streng.
„Verstehe“, flüsterte Aylene und blickte zu Boden.
„Dann ist es ja gut“, meinte Hilde und ging zurück zum Weg.
Auf dem Hof fand Hilde Ragar und Keron bei der Arbeit für die neuen Scheune vor. Sie hatten vor über einer Woche damit angefangen und es ragten bereits die Stützbalken in den Himmel, an denen sie nun erste Verstrebungen anbrachten. Hilde ging zu Keron, der mit einer Axt eine Latte bearbeitete. Es war ihr eine Freude ihm dabei zuzusehen, wie er das plump erscheinende Werkzeug mit einer Geschicklichkeit führte, die selbst erfahrene Zimmerleute nur schwer aufbringen konnten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Aylene wird auf den Strauchwollfeldern bleiben.“
„Von mir aus kann sie dort für immer bleiben“, knurrte er. „Sie ist böse und gefährlich.“
„Ich weiß nicht...Was machst du denn da?“, unterbrach sich Hilde erschrocken.
Die neben ihrem Vater sitzende Farah sah nur kurz auf.
„Sie hilft uns.“, antwortete Keron stattdessen. „Wir brauchen noch eine Menge Dübel, um die Balken zu verbinden, und Farah macht sie uns.“ Er stieß seine Tochter leicht an. „Zeig Großmutter doch, wie toll du die machst.“
Farah legte ihr großes Messer weg und griff in den neben ihr stehenden Korb. Mit vor Stolz glänzenden Augen hielt sie einen handlangen und daumendicken Holzstab hoch. Hilde nahm in entgegen und betrachte ihn kurz. „Ja, das machst du gut, doch du könntest dich leicht verletzen.“
„Nein“, meinte Keron, „dazu ist meine Tochter viel zu geschickt.“ Er lächelte versonnen. „Das hat sie von ihrer Mutter.“
Hildes Gesicht verfinsterte sich etwas. Sie gab Farah den Dübel zurück. „Sei vorsichtig, mein Kind“, meinte sie und ging weiter zu Ragar.
„Ich habe nur noch etwas Mehl und Kartoffeln im Haus“, sagte sie. „Und ich habe Nichts, um auf dem Markt einzukaufen.“
Ragnar, der gerade ein Loch in einen der Stützbalken bohrte, wandte seinen Kopf zu ihr. „Ist es so schlimm?“
Hilde nickte nur.
Ragar legte den Bohrer auf den Boden und fuhr sich nachdenklich über das Gesicht. „Dann werden wir auch die zweite Kuh verkaufen müssen.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Aber dann haben wir keine Milch mehr.“
„Das will ich nicht. Wir brauchen sie für Farah, sie ist so furchtbar dürr.“
„Ja, aber was sollen wir dann verkaufen? Das Feuer hat unsere ganze Strauchwollernte vom Vorjahr vernichtet und das Holz für die Scheune kostet viel. Ich musste schon Schulden machen.“
Hilde dachte kurz nach, dann hob sie ihre rechte Hand und blickte auf ihren Ringfinger. „Ich könnte ihn verpfänden.“
„Deinen Ring?“, rutschte es Ragar entsetzt heraus.
Hilde legte einen Finger auf ihre Lippen. „Nur, wenn du einverstanden bist.“
Ragar schüttete den Kopf. „Nein, du hast ihn von deiner Mutter bekommen“, erwiderte er mit gedämpfter Stimme.
„Sie hätte es bestimmt auch so gewollt. Es fällt mir schwer, doch ich mache es gerne.“
Ragnar nickte schließlich. „Doch Keron darf nichts davon erfahren. Er hasst Aylene ohnehin, und ich will nicht, dass er sich erneut so gehen lässt. Am besten rede ich mit Galorian. Ich kenne ihn schon lange, er wird uns einen ehrlichen Preis geben und ich will ihn bitten, dich vorerst den Ring weiter tragen zu lassen.“