Christa Reuch
Mitglied
Felix und der Glücksdrache Kapitel 1 und 2
Kapitel 1: Ein fast normaler Nachmittag
Felix radelte mit seinem Freund Lukas in der Gegend herum. Sie hatten kein besonderes Ziel und der einzige Grund, warum sie überhaupt auf ihren Fahrrädern saßen, war Felix’ Mutter. Bis vor einer halben Stunde probierten Felix und Lukas nämlich das neue Computerspiel aus, welches Lukas zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und gerade als sie es so richtig gut beherrschten, befahl Felix’ Mutter, sie sollten diese ‚blöde’ Kiste endlich abschalten. Die hatte echt keine Ahnung! Maulend gehorchten die beiden, doch schon kurze Zeit später langweilten sie sich. Deshalb schlug die Mutter vor, sie könnten doch ein bisschen hinausgehen.
„Frische Luft tut euch gut!“, erklärte sie, in diesem speziellen Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Also stiegen sie auf ihre Räder und fuhren los. Am Skaterplatz hofften sie andere Jungs zu treffen, aber es hatte den halben Tag geregnet und alles war nass. Niemand fuhr heute hin und her oder übte irgendwelche gewagten Sprünge, von denen die Eltern besser nichts erfahren durften.
Ziellos radelten die beiden von einer Straße in die nächste, bis sie in eine Sackgasse einbogen.
„Da geht’s nicht weiter! Was wollen wir denn da?“, wollte Felix wissen.
„Wir könnten uns mal auf der Baustelle umsehen!“, antwortete Lukas und fügte geheimnisvoll hinzu: „Da soll es angeblich spuken!“
„Quatsch!“, entgegnete Felix und verzog das Gesicht, „Das sind wahrscheinlich Kinder oder irgendwelche Penner!“
Die Baustelle war ein halbfertiges Haus, welches seit Jahren auf seine Fertigstellung wartete und nun langsam verfiel.
„Eigentlich ist es ja verboten hier zu spielen!“, wandte Felix vorsichtig ein.
„Verboten!“, spottete sein Freund herablassend, „Es ist auch verboten bei Rot über die Straße zu gehen! Na und! Deswegen mach ich es trotzdem!“
„Ich nicht!“, murmelte Felix leise, so dass Lukas ihn nicht verstehen konnte, aber da er nicht als Feigling gelten wollte, folgte er ihm.
Für einen Dreizehnjährigen war Felix eher klein und schmächtig, konnte jedoch schnell rennen. Wie ein Wiesel, sagte Lukas immer und applaudierte stolz, wenn sein Freund wieder einmal den 100 Meter Lauf gewann. Freunde hatte Felix auch nicht viele. Eigentlich nur einen richtigen – Lukas!
Sie schoben die Fahrräder auf das Grundstück, lehnten sie gegen den Baustellenzaun, der inzwischen nur noch aus Fragmenten bestand und sperrten die Räder ordentlich ab. Dann betraten sie das Haus. Nur noch wenige Ziegel lagen auf dem Dach und so standen nach dem letzten Regen überall Pfützen. Andererseits genügte so das Tageslicht, um alles genau zu erkennen.
„Lass uns in den Keller gehen!“, schlug Lukas großspurig vor.
„Von mir aus!“
Vorsichtig, um auf den nassen Stufen nicht auszurutschen, stiegen sie hinunter. Nur wenig Licht drang in den Keller und so gingen sie ganz langsam weiter.
„Schau!“, flüsterte Lukas plötzlich, „Dort hinten ist ein Lichtschein! Lass uns nachsehen!“
„Ich weiß nicht!“, entgegnete Felix ebenso leise, „Wir sollten besser umkehren!“
„Angsthase!“, zischte sein Freund, „Dann geh’ ich halt alleine!“
Während Lukas dem Licht entgegenging, blieb Felix stehen und überlegte unschlüssig, was er machen sollte.
„Na!“, nuschelte da plötzlich jemand und Felix zuckte erschrocken zusammen, „Ganz schön gruselig hier unten, oder?“
Felix drehte den Kopf nach links und rechts, konnte jedoch niemanden erkennen.
„Du schaust falsch!“, erklärte die Stimme weiter, „Heb mal den Kopf hoch!“
Langsam folgte Felix der Anweisung und wirklich! Auf dem Sicherungskasten saß- ja, was war das eigentlich? Unsicher trat Felix einen Schritt näher und blinzelte ungläubig ein paar Mal mit den Augen. Das konnte nicht sein! Dort oben saß - ein Drache! Zugegeben ein sehr kleiner Drache, sozusagen in Miniaturform, aber trotzdem ein Drache! Das gab es nicht! Da spielte ihm jemand einen Streich! Lukas vielleicht?
„Nein!“, antwortete das Wesen, als ob es Gedanken lesen konnte, mit einer merkwürdig schnarrenden Stimme, „Lukas hat damit nichts zu tun! Mich gibt es wirklich! Ich bin ein Glücksdrache!“
„Von Drachen habe ich ja schon gehört!“, erklärte Felix unsicher, „Aber noch nie von Glücksdrachen! Was soll das sein? So etwas wie ein Glücksschwein?“
„Frechheit!“, fauchte der Drache und eine kleine Flamme schlug Felix entgegen, so dass dieser sicherheitshalber rasch einen Satz zurück machte.
Felix zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Sorry! Ich wollte dich nicht beleidigen! Also, ich bin Felix! Und du?“
„So, ein Zufall!“, rief der Drache und wedelte dabei so heftig mit den Flügeln, dass Felix eine Staubwolke ins Gesicht bekam und husten musste. „Ich heiße Fortunio, kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚glücklich’, genau wie Felix!“
„Aha!“, brummte Felix skeptisch, dann hellte sich sein Gesicht auf, „Jetzt weiß ich es! Fuchur ist auch ein Glücksdrache, also habe ich doch schon von Glücksdrachen gehört, besser gesagt gelesen. Es war mir nur entfallen!“
„Und was soll ‚Fuchur’ sein?“, fragte der Drache neugierig.
„Fuchur ist der Glücksdrache aus der Unendlichen Geschichte!“
„Und was ist die ‚Die Unendliche Geschichte’?“
„Das ist ein Buch von Michael Ende, einem deutschen Schriftsteller!“
„Und der hat einen Glücksdrachen?“
Felix lachte. „Nein, der hat sich eine Geschichte ausgedacht. Die Hauptperson ist Sebastian und der lernt Fuchur kennen, einen Glücksdrachen!“
„Aha!“ Nachdenklich wackelte der Minidrachen mit dem Kopf.
„Und wo kommst du her?“, fragte Felix, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten.
„Ich“, verkündete Fortunio und reckte stolz seinen schuppigen Drachenhals empor, „stamme von der Insel der Glücksdrachen!“
„Nie gehört!“, entgegnete der Junge stirnrunzelnd, „Wo soll denn die liegen?“
„120 Grad westliche Länge 20,5 Grad nördliche Breite, mitten im Pazifik!“, leierte der Drache herunter, „Bist du jetzt schlauer?“
„Ich muss jetzt heim!“ Felix zuckte bedauernd mit den Schultern und nahm sich in Gedanken vor, zu Hause sofort im Atlas nachzuschlagen! „War nett, dich kennengelernt zu haben! Mach’s gut Fortunio!“
„Ich begleite dich!“, verkündete Fortunio und flatterte um Felix herum.
„Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Zweifelnd betrachtete Felix den Minidrachen. „Die Leute würden bestimmt versuchen, dich zu fangen!“
„Keine Bange!“, grinste Fortunio, „Für die anderen bin ich unsichtbar! Aber nett von dir, dass du dir Sorgen um mich machst!“
Felix riss die Augen auf.
„Und warum kann ich dich dann sehen? Was ist überhaupt die Insel der Glücksdrachen?“
Der Drache ließ sich auf seiner Schulter nieder und sah Felix von der Seite an.
„Wir Glücksdrachen besuchen die Menschen immer nur für kurze Zeit. Du hast es gerade nötig, also bin ich da! Doch nur wenige Leute können uns sehen. Du bist anscheinend etwas Besonderes!“
„Das bezweifle ich!“, meinte Felix traurig, „Ich bin zu klein, habe keine Kraft und trage eine Brille! Was kann es schlimmeres für einen Jungen geben, der bald in die Pubertät kommt?“
„Pah!“ Der Drache schlug ärgerlich mit dem Schwanz hin und her. „Du hast schnelle Beine, bist fix im Kopf und Harry Potter trägt ebenfalls eine Brille!“
„Sehr freundlich von dir mich trösten zu wollen, aber Harry Potter ist eine Romanfigur und kann zaubern! So, jetzt muss ich Lukas suchen und dann müssen wir wirklich nach Hause, sonst kriegen wir noch Ärger!“
Entschlossen wandte er sich Richtung Ausgang und stieg die Kellerstufen empor. Lukas wartete bereits.
„War nur ein Loch in der Mauer“, verkündete er, „darum der Lichtstrahl!“
„Mit wem hast du denn gerade gesprochen?“, fragte Lukas neugierig.
„Mit den Gespenstern!“, antwortete sein Freund grinsend.
„Ha, ha!“
„Na gut!“, erklärte Felix, „Ich habe Fortunio getroffen, meinen Glücksdrachen! Netter Kerl übrigens!“
„Veralbern kann ich mich alleine!“, knurrte Lukas und schloss sein Fahrrad auf.
Felix entgegnete nichts und schweigend fuhren sie nach Hause.
Daheim verzog er sich sofort in sein Zimmer, suchte seinen Schulatlas hervor und sah die Längen – und Breitengrade nach, die Fortunio ihm genannt hatte.
„Das liegt mitten im Pazifik!“ verkündete er schließlich, „Da ist nichts außer Wasser!“
Der Drache flatterte herum und landete direkt auf dem aufgeschlagenen Buch.
„Meinst du wirklich, die Menschen würden unsere Insel so einfach finden? Selbst die, die schon einmal dort waren, sind nicht in der Lage, ohne einen von uns, dorthin zurück zu kehren! Und das ist gut so!“
„Musst du eigentlich fressen und trinken?“, wollte Felix wissen, doch der Drache winkte ab: „Kein Problem! Darum kümmere ich mich schon selbst!“
In diesem Augenblick betrat die Mutter das Zimmer.
„Wollte Lukas nicht mehr mitkommen?“, fragte sie.
Felix schüttelte den Kopf. „Der muss noch Vokabeln lernen!“
„Wenn ich mich nicht irre“, bemerkte seine Mutter, „wolltest du mir noch dein Referat für morgen vortragen?“
„Das ist nicht nötig!“, widersprach der Junge und wechselte schnell das Thema, „Gibt es bald Essen?“
„Dauert ungefähr noch eine Viertelstunde!“ Die Mutter verließ das Zimmer und ging in die Küche.
„Dürfte ich dir vielleicht mein Referat vorlesen?“ Schüchtern zog Felix zwei Zettel aus seinem Schulranzen.
„Natürlich!“ Fortunio setzte sich bequem hin und nickte aufmunternd: „Na, dann mal los!“
Nervös starrte der Junge auf das Papier und errötete.
„Leg das weg!“, befahl Fortunio und flog auf Felix’ Schulter. Felix gehorchte. Plötzlich sprudelten die Worte aus ihm heraus und er schaffte es, seinen Vortrag ohne einen einzigen Versprecher zu halten.
„Wow!“, staunte er schließlich, „Wenn das morgen auch so reibungslos läuft, muss ich mir ja keine Sorgen mehr machen!“
Nach dem Abendessen ging Felix, sehr zur Verwunderung seiner Eltern, sofort ins Bett. Er wolle noch lesen, das Buch sei gerade so spannend, erklärte er, als er den besorgten Blick seiner Mutter bemerkte. In Wirklichkeit wollte er dem Drachen noch einige Fragen stellen, vor allem interessierte ihn die Insel der Glücksdrachen. Doch Fortunio vertröstete ihn auf morgen und so blieb Felix schließlich nichts anderes übrig, als tatsächlich ins Bett zu gehen und obwohl er sich sicher war, kein Auge zu bekommen zu können, schlief er fast augenblicklich ein.
Kapitel 2: Die Insel der Glücksdrachen
Mitten in der Nacht erwachte Felix, weil jemand leise seinen Namen rief und ihn unsanft am Ohr zog.
„Nun wach schon auf! Ja, darf denn das wahr sein! So eine Schlafmütze!“
Endlich setzte sich der Junge auf und sah sich verwundert um. Sein Wecker zeigte erst Mitternacht. Felix gähnte.
„Raus mit dir!“, schimpfte der Minidrache und zerrte an der Bettdecke, „Wir haben noch viel vor!“
„Aha, und was, wenn ich fragen darf?“, brummte der Junge. Trotzdem stand er auf und schlüpfte in seine Jeans und zog einen Pullover über das T-Shirt.
„Du wolltest doch unbedingt die Insel der Glücksdrachen kennen lernen!“
„Ja, schon aber ...!“
„Nichts aber“, unterbrach Fortunio, „wie wär’s mit Schuhen oder gehst du barfuss?“
Wortlos holte Felix seine Turnschuhe und zog sie an.
„So, fertig! Und jetzt?“
„Gehen wir auf den Balkon!“ Fortunio scheuchte den Jungen vor sich her. Das sah bestimmt komisch aus. Gut, dass uns keiner sieht, dachte Felix.
Draußen stellte er fest, dass die Temperatur über Nacht ziemlich gesunken war, rannte wieder in sein Zimmer und kam mit Mütze, Anorak und Handschuhen zurück.
„Du setzt dich auf mich drauf und hältst dich fest! Mehr musst du nicht machen! Verstanden?“
Felix prustete los, die Vorstellung sich auf dem Minidrachen niederzulassen, fand er einfach zu lustig. Doch zu seiner Verwunderung meinte es Fortunio durchaus ernst.
Schließlich gehorchte der Junge, stellte sich breitbeinig über den Drachen und ehe er richtig begriff, was geschah, wuchs Fortunio. Der Minidrache verwandelte sich in einen riesengroßen.
Er breitete die Flügel aus und flog los.
„Was ist, wenn uns jemand bemerkt?“, fragte Felix mehr neugierig als ängstlich.
„Die Menschen sehen nur, was sie erwarten zu sehen. Also keine Bange!“
Der Junge krallte sich an Fortunio und presste sich fest an den Drachenkörper. Doch bald wurde er mutiger, richtete sich ein Stück auf und linste vorsichtig nach unten.
„Wo sind wir?“, schrie er nach vorne, denn er war sich nicht sicher, ob der Drache ihn sonst verstand.
„Wir überfliegen gerade das Mittelmeer und in Kürze überqueren wir die Sahara“, rief Fortunio ebenso laut zurück, „falls dir das was sagt!“
„Natürlich!“, entgegnete Felix leicht beleidigt und ergänzte dann: „Die Sahara ist die größte Trockenwüste der Welt! Neun Millionen Quadratkilometer! Deutschland hätte dort 26 Mal Platz! Nur ungefähr 20 Prozent sind mit Sand bedeckt, der Rest ist Stein oder Geröll!“
„Gut aufgepasst in der Schule!“, grinste der Drache.
„Von wegen Schule!“, widersprach der Junge, „Habe ich im Internet nachgelesen! Wikipedia, falls dir das was sagt! In der Schule lernen wir nur unnützes Zeug!“
„Wirklich?“
„Naja, manchmal ist der Unterricht auch interessant!“, gab Felix brummelnd zu.
„Wenn es jetzt hell wäre, würdest du nichts als Wasser sehen“, erklärte Fortunio kurze Zeit später, „wir befinden uns nämlich gerade über dem Atlantik, überfliegen anschließend Südamerika und dann ist es nicht mehr weit!“
„Können wir nicht irgendwo einmal landen?“, fragte Felix, „Südamerika hat mich schon immer interessiert, vor allem der Regenwald und die Kultur der Mayas und Inkas!“
Der Drache bog seinen Hals etwas seitlich, so dass er den Jungen ansehen konnte.
„Andere Jungs in deinem Alter finden Fußball und Autorennen gut, vielleicht auch noch irgendwelche Popstars, aber dass sich ein Kind für fremde Kulturen interessiert, ist doch eher selten!“
Felix zuckte mit den Schultern.
„Mir doch egal!“, gab er patzig zurück, „Dann bin ich halt anders!“
„Natürlich bist du das!“, stimmte Fortunio ihm zu, „Jeder Mensch ist etwas Besonderes, manche wollen das nur nicht wahr haben und versuchen sich anzugleichen! Das ist vielleicht einfacher, aber auf Dauer langweilig!“
„Könnte von meiner Mutter stammen!“, grinste Felix, „So etwas Ähnliches sagt sie, wenn sie meint mich trösten zu müssen, weil mich jemand geärgert hat!“
„Dann“, lächelte der Glücksdrache, „ist deine Mutter eine kluge Frau! So, und jetzt halte dich gut fest! Ladies and Gentlemen, wir befinden uns im Landeanflug auf die Glücksdracheninsel. Bitte stellen Sie Ihre Sitze wieder senkrecht und bleiben Sie angeschnallt, bis die roten Lichter erlöschen!“
Felix musste laut lachen, klammerte sich jedoch fest an den schuppigen Drachenhals.
Es dauerte nicht lange und der Drache landete sanft auf einem Felsplateau! Obwohl es immer noch Nacht war, konnte Felix alles ganz gut erkennen, gerade so, als ob jemand vom Wasser aus, die Insel in ein sanftes blaues Licht tauchen würde.
Der Junge kletterte herunter und sah sich staunend um. Zur Wasserseite fiel der Fels steil ab und schwarze Klippen reckten bedrohlich ihre gezackten Spitzen empor. Felix bekam eine Gänsehaut und wandte sich rasch um. Ein Stück weiter unten gab es eine Wiese, eine Art Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen, soweit Felix das in dem Dämmerlicht erkennen konnte, auf der jede Menge Drachen lagen und schliefen.
„Sind das alles Glücksdrachen?“, erkundigte er sich fast ehrfürchtig.
Fortunio nickte.
„Natürlich gibt es noch mehr! Manche sind sozusagen im Einsatz und befinden sich gerade nicht hier. Das ist jedoch ganz gut! Es wäre sonst schrecklich eng!“
„Ihr müsstet euch halt wieder verkleinern!“, gab der Junge zurück, „Dann hättet ihr genügend Platz!“
„Stimmt!“, lachte der Drache so laut, dass sein Bauch wackelte.
Ein schmaler Weg führte zu dem Drachenschlafplatz und gemütlich spazierten sie diesen entlang.
„Und, wenn einer aufwacht?“, flüsterte Felix ein bisschen ängstlich.
„Keine Bange!“, gab Fortunio ebenfalls leise zurück, „Wir Drachen sehen zwar furchterregend aus, aber meistens sind wir ganz harmlos!“
Trotzdem hielt sich Felix nun hinter dem Drachen und so ganz wohl fühlte er sich nicht, als sie die Drachenwiese erreichten.
„Woher wisst ihr eigentlich, wer gerade eure Hilfe benötigt!“
„Eine berechtigte Frage!“, nickte der Drache und fügte hinzu: „Einige von uns sind ständig unterwegs, sozusagen als Kundschafter! Sobald sie einen Menschen entdecken, der uns braucht, fliegt einer los, um ihm zu helfen! Allerdings, nicht alle Menschen wollen unsere Hilfe!“
Erstaunt riss Felix die Augen auf.
„Aber warum denn nicht? Das ist doch dumm!“, rief er entrüstet.
„Tja, für viele Menschen gibt es weder Glücksdrachen noch Schutzengel. Sie glauben nicht daran! Das ist schlimm, jedoch nicht zu ändern!“
Mit Blick auf all die schlafenden Glücksdrachen meinte Felix schließlich seufzend:
„Ich würde ja zu gerne bleiben, bis sie alle aufwachen!“
„Das geht heute leider nicht, aber denk’ dran, immer wenn du Sorgen hast oder größere Probleme, wird einer von uns sich aufmachen, zu dir eilen, um dir beizustehen!“
Schweigend standen der riesige Glücksdrache und der schmächtige Junge am Rande der Lichtung nebeneinander.
„Wir müssen langsam zurückfliegen!“, riss der Glücksdrache Felix aus seinen Gedanken und fügte grinsend hinzu, „Schließlich musst du ausgeschlafen sein! Für dein Referat, meine ich!“
„Ziemlich unnötig, mich jetzt daran zu erinnern!“, maulte Felix ärgerlich, stiefelte jedoch hinter dem Drachen in Richtung des Felsplateaus her.
Fortunio nahm denselben Weg zurück und da es auch jetzt noch Nacht und somit dunkel war, konnte Felix nur wenig erkennen.
Kurze Zeit später landeten sie leise auf dem Balkon vor Felix’ Zimmer. Abermals wunderte sich der Junge, dass so ein großes Wesen sich so geräuschlos bewegen konnte, aber ehe er zu Ende gedacht hatte, schrumpfte Fortunio wieder und aus dem großen, furchterregenden wurde ein kleiner, putziger Drache.
Felix fühlte sich plötzlich unendlich müde. Rasch zog er sich aus, murmelte noch „Gute Nacht“ und schlief augenblicklich ein.
Seltsamerweise fühlte er sich am nächsten Morgen trotzdem ausgeschlafen. Etwas unsicher überlegte er, ob er das alles nur geträumt hatte. Vielleicht gab es Fortunio und die Insel der Glücksdrachen gar nicht?
Doch in diesem Moment kroch Fortunio unter einem Wäscheberg, den Felix achtlos in der Ecke zusammen geschoben hatte, hervor. Er reckte und streckte sich, soweit das bei einem Minidrachen halt möglich ist.
„Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“, erkundigte er sich freundlich bei Felix.
Der nickte nur und betrachtete Fortunio mit zusammengekniffenen Augen, sagte jedoch nichts.
Nach dem Frühstück, holte der Junge sein Fahrrad aus der Garage und radelte zur Schule. Fortunio begleitete ihn. Unterwegs trafen sie noch Lukas und gemeinsam betraten sie kurz darauf das Schulhaus. Am liebsten hätte Felix seinem Freund alles erzählt, doch der würde ihm ohnehin nicht glauben. Wie denn auch?
Das Referat wurde ein voller Erfolg. Fortunio saß dem Jungen die ganze Zeit auf der Schulter, für alle Fälle, hatte Felix gebeten, falls er nicht mehr weiter wusste. Doch er redete flüssig, versprach sich kein einziges Mal und war sehr stolz auf sich und natürlich auf Fortunio, seinen Drachen von der Insel der Glücksdrachen.
Kapitel 1: Ein fast normaler Nachmittag
Felix radelte mit seinem Freund Lukas in der Gegend herum. Sie hatten kein besonderes Ziel und der einzige Grund, warum sie überhaupt auf ihren Fahrrädern saßen, war Felix’ Mutter. Bis vor einer halben Stunde probierten Felix und Lukas nämlich das neue Computerspiel aus, welches Lukas zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und gerade als sie es so richtig gut beherrschten, befahl Felix’ Mutter, sie sollten diese ‚blöde’ Kiste endlich abschalten. Die hatte echt keine Ahnung! Maulend gehorchten die beiden, doch schon kurze Zeit später langweilten sie sich. Deshalb schlug die Mutter vor, sie könnten doch ein bisschen hinausgehen.
„Frische Luft tut euch gut!“, erklärte sie, in diesem speziellen Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Also stiegen sie auf ihre Räder und fuhren los. Am Skaterplatz hofften sie andere Jungs zu treffen, aber es hatte den halben Tag geregnet und alles war nass. Niemand fuhr heute hin und her oder übte irgendwelche gewagten Sprünge, von denen die Eltern besser nichts erfahren durften.
Ziellos radelten die beiden von einer Straße in die nächste, bis sie in eine Sackgasse einbogen.
„Da geht’s nicht weiter! Was wollen wir denn da?“, wollte Felix wissen.
„Wir könnten uns mal auf der Baustelle umsehen!“, antwortete Lukas und fügte geheimnisvoll hinzu: „Da soll es angeblich spuken!“
„Quatsch!“, entgegnete Felix und verzog das Gesicht, „Das sind wahrscheinlich Kinder oder irgendwelche Penner!“
Die Baustelle war ein halbfertiges Haus, welches seit Jahren auf seine Fertigstellung wartete und nun langsam verfiel.
„Eigentlich ist es ja verboten hier zu spielen!“, wandte Felix vorsichtig ein.
„Verboten!“, spottete sein Freund herablassend, „Es ist auch verboten bei Rot über die Straße zu gehen! Na und! Deswegen mach ich es trotzdem!“
„Ich nicht!“, murmelte Felix leise, so dass Lukas ihn nicht verstehen konnte, aber da er nicht als Feigling gelten wollte, folgte er ihm.
Für einen Dreizehnjährigen war Felix eher klein und schmächtig, konnte jedoch schnell rennen. Wie ein Wiesel, sagte Lukas immer und applaudierte stolz, wenn sein Freund wieder einmal den 100 Meter Lauf gewann. Freunde hatte Felix auch nicht viele. Eigentlich nur einen richtigen – Lukas!
Sie schoben die Fahrräder auf das Grundstück, lehnten sie gegen den Baustellenzaun, der inzwischen nur noch aus Fragmenten bestand und sperrten die Räder ordentlich ab. Dann betraten sie das Haus. Nur noch wenige Ziegel lagen auf dem Dach und so standen nach dem letzten Regen überall Pfützen. Andererseits genügte so das Tageslicht, um alles genau zu erkennen.
„Lass uns in den Keller gehen!“, schlug Lukas großspurig vor.
„Von mir aus!“
Vorsichtig, um auf den nassen Stufen nicht auszurutschen, stiegen sie hinunter. Nur wenig Licht drang in den Keller und so gingen sie ganz langsam weiter.
„Schau!“, flüsterte Lukas plötzlich, „Dort hinten ist ein Lichtschein! Lass uns nachsehen!“
„Ich weiß nicht!“, entgegnete Felix ebenso leise, „Wir sollten besser umkehren!“
„Angsthase!“, zischte sein Freund, „Dann geh’ ich halt alleine!“
Während Lukas dem Licht entgegenging, blieb Felix stehen und überlegte unschlüssig, was er machen sollte.
„Na!“, nuschelte da plötzlich jemand und Felix zuckte erschrocken zusammen, „Ganz schön gruselig hier unten, oder?“
Felix drehte den Kopf nach links und rechts, konnte jedoch niemanden erkennen.
„Du schaust falsch!“, erklärte die Stimme weiter, „Heb mal den Kopf hoch!“
Langsam folgte Felix der Anweisung und wirklich! Auf dem Sicherungskasten saß- ja, was war das eigentlich? Unsicher trat Felix einen Schritt näher und blinzelte ungläubig ein paar Mal mit den Augen. Das konnte nicht sein! Dort oben saß - ein Drache! Zugegeben ein sehr kleiner Drache, sozusagen in Miniaturform, aber trotzdem ein Drache! Das gab es nicht! Da spielte ihm jemand einen Streich! Lukas vielleicht?
„Nein!“, antwortete das Wesen, als ob es Gedanken lesen konnte, mit einer merkwürdig schnarrenden Stimme, „Lukas hat damit nichts zu tun! Mich gibt es wirklich! Ich bin ein Glücksdrache!“
„Von Drachen habe ich ja schon gehört!“, erklärte Felix unsicher, „Aber noch nie von Glücksdrachen! Was soll das sein? So etwas wie ein Glücksschwein?“
„Frechheit!“, fauchte der Drache und eine kleine Flamme schlug Felix entgegen, so dass dieser sicherheitshalber rasch einen Satz zurück machte.
Felix zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Sorry! Ich wollte dich nicht beleidigen! Also, ich bin Felix! Und du?“
„So, ein Zufall!“, rief der Drache und wedelte dabei so heftig mit den Flügeln, dass Felix eine Staubwolke ins Gesicht bekam und husten musste. „Ich heiße Fortunio, kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚glücklich’, genau wie Felix!“
„Aha!“, brummte Felix skeptisch, dann hellte sich sein Gesicht auf, „Jetzt weiß ich es! Fuchur ist auch ein Glücksdrache, also habe ich doch schon von Glücksdrachen gehört, besser gesagt gelesen. Es war mir nur entfallen!“
„Und was soll ‚Fuchur’ sein?“, fragte der Drache neugierig.
„Fuchur ist der Glücksdrache aus der Unendlichen Geschichte!“
„Und was ist die ‚Die Unendliche Geschichte’?“
„Das ist ein Buch von Michael Ende, einem deutschen Schriftsteller!“
„Und der hat einen Glücksdrachen?“
Felix lachte. „Nein, der hat sich eine Geschichte ausgedacht. Die Hauptperson ist Sebastian und der lernt Fuchur kennen, einen Glücksdrachen!“
„Aha!“ Nachdenklich wackelte der Minidrachen mit dem Kopf.
„Und wo kommst du her?“, fragte Felix, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten.
„Ich“, verkündete Fortunio und reckte stolz seinen schuppigen Drachenhals empor, „stamme von der Insel der Glücksdrachen!“
„Nie gehört!“, entgegnete der Junge stirnrunzelnd, „Wo soll denn die liegen?“
„120 Grad westliche Länge 20,5 Grad nördliche Breite, mitten im Pazifik!“, leierte der Drache herunter, „Bist du jetzt schlauer?“
„Ich muss jetzt heim!“ Felix zuckte bedauernd mit den Schultern und nahm sich in Gedanken vor, zu Hause sofort im Atlas nachzuschlagen! „War nett, dich kennengelernt zu haben! Mach’s gut Fortunio!“
„Ich begleite dich!“, verkündete Fortunio und flatterte um Felix herum.
„Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Zweifelnd betrachtete Felix den Minidrachen. „Die Leute würden bestimmt versuchen, dich zu fangen!“
„Keine Bange!“, grinste Fortunio, „Für die anderen bin ich unsichtbar! Aber nett von dir, dass du dir Sorgen um mich machst!“
Felix riss die Augen auf.
„Und warum kann ich dich dann sehen? Was ist überhaupt die Insel der Glücksdrachen?“
Der Drache ließ sich auf seiner Schulter nieder und sah Felix von der Seite an.
„Wir Glücksdrachen besuchen die Menschen immer nur für kurze Zeit. Du hast es gerade nötig, also bin ich da! Doch nur wenige Leute können uns sehen. Du bist anscheinend etwas Besonderes!“
„Das bezweifle ich!“, meinte Felix traurig, „Ich bin zu klein, habe keine Kraft und trage eine Brille! Was kann es schlimmeres für einen Jungen geben, der bald in die Pubertät kommt?“
„Pah!“ Der Drache schlug ärgerlich mit dem Schwanz hin und her. „Du hast schnelle Beine, bist fix im Kopf und Harry Potter trägt ebenfalls eine Brille!“
„Sehr freundlich von dir mich trösten zu wollen, aber Harry Potter ist eine Romanfigur und kann zaubern! So, jetzt muss ich Lukas suchen und dann müssen wir wirklich nach Hause, sonst kriegen wir noch Ärger!“
Entschlossen wandte er sich Richtung Ausgang und stieg die Kellerstufen empor. Lukas wartete bereits.
„War nur ein Loch in der Mauer“, verkündete er, „darum der Lichtstrahl!“
„Mit wem hast du denn gerade gesprochen?“, fragte Lukas neugierig.
„Mit den Gespenstern!“, antwortete sein Freund grinsend.
„Ha, ha!“
„Na gut!“, erklärte Felix, „Ich habe Fortunio getroffen, meinen Glücksdrachen! Netter Kerl übrigens!“
„Veralbern kann ich mich alleine!“, knurrte Lukas und schloss sein Fahrrad auf.
Felix entgegnete nichts und schweigend fuhren sie nach Hause.
Daheim verzog er sich sofort in sein Zimmer, suchte seinen Schulatlas hervor und sah die Längen – und Breitengrade nach, die Fortunio ihm genannt hatte.
„Das liegt mitten im Pazifik!“ verkündete er schließlich, „Da ist nichts außer Wasser!“
Der Drache flatterte herum und landete direkt auf dem aufgeschlagenen Buch.
„Meinst du wirklich, die Menschen würden unsere Insel so einfach finden? Selbst die, die schon einmal dort waren, sind nicht in der Lage, ohne einen von uns, dorthin zurück zu kehren! Und das ist gut so!“
„Musst du eigentlich fressen und trinken?“, wollte Felix wissen, doch der Drache winkte ab: „Kein Problem! Darum kümmere ich mich schon selbst!“
In diesem Augenblick betrat die Mutter das Zimmer.
„Wollte Lukas nicht mehr mitkommen?“, fragte sie.
Felix schüttelte den Kopf. „Der muss noch Vokabeln lernen!“
„Wenn ich mich nicht irre“, bemerkte seine Mutter, „wolltest du mir noch dein Referat für morgen vortragen?“
„Das ist nicht nötig!“, widersprach der Junge und wechselte schnell das Thema, „Gibt es bald Essen?“
„Dauert ungefähr noch eine Viertelstunde!“ Die Mutter verließ das Zimmer und ging in die Küche.
„Dürfte ich dir vielleicht mein Referat vorlesen?“ Schüchtern zog Felix zwei Zettel aus seinem Schulranzen.
„Natürlich!“ Fortunio setzte sich bequem hin und nickte aufmunternd: „Na, dann mal los!“
Nervös starrte der Junge auf das Papier und errötete.
„Leg das weg!“, befahl Fortunio und flog auf Felix’ Schulter. Felix gehorchte. Plötzlich sprudelten die Worte aus ihm heraus und er schaffte es, seinen Vortrag ohne einen einzigen Versprecher zu halten.
„Wow!“, staunte er schließlich, „Wenn das morgen auch so reibungslos läuft, muss ich mir ja keine Sorgen mehr machen!“
Nach dem Abendessen ging Felix, sehr zur Verwunderung seiner Eltern, sofort ins Bett. Er wolle noch lesen, das Buch sei gerade so spannend, erklärte er, als er den besorgten Blick seiner Mutter bemerkte. In Wirklichkeit wollte er dem Drachen noch einige Fragen stellen, vor allem interessierte ihn die Insel der Glücksdrachen. Doch Fortunio vertröstete ihn auf morgen und so blieb Felix schließlich nichts anderes übrig, als tatsächlich ins Bett zu gehen und obwohl er sich sicher war, kein Auge zu bekommen zu können, schlief er fast augenblicklich ein.
Kapitel 2: Die Insel der Glücksdrachen
Mitten in der Nacht erwachte Felix, weil jemand leise seinen Namen rief und ihn unsanft am Ohr zog.
„Nun wach schon auf! Ja, darf denn das wahr sein! So eine Schlafmütze!“
Endlich setzte sich der Junge auf und sah sich verwundert um. Sein Wecker zeigte erst Mitternacht. Felix gähnte.
„Raus mit dir!“, schimpfte der Minidrache und zerrte an der Bettdecke, „Wir haben noch viel vor!“
„Aha, und was, wenn ich fragen darf?“, brummte der Junge. Trotzdem stand er auf und schlüpfte in seine Jeans und zog einen Pullover über das T-Shirt.
„Du wolltest doch unbedingt die Insel der Glücksdrachen kennen lernen!“
„Ja, schon aber ...!“
„Nichts aber“, unterbrach Fortunio, „wie wär’s mit Schuhen oder gehst du barfuss?“
Wortlos holte Felix seine Turnschuhe und zog sie an.
„So, fertig! Und jetzt?“
„Gehen wir auf den Balkon!“ Fortunio scheuchte den Jungen vor sich her. Das sah bestimmt komisch aus. Gut, dass uns keiner sieht, dachte Felix.
Draußen stellte er fest, dass die Temperatur über Nacht ziemlich gesunken war, rannte wieder in sein Zimmer und kam mit Mütze, Anorak und Handschuhen zurück.
„Du setzt dich auf mich drauf und hältst dich fest! Mehr musst du nicht machen! Verstanden?“
Felix prustete los, die Vorstellung sich auf dem Minidrachen niederzulassen, fand er einfach zu lustig. Doch zu seiner Verwunderung meinte es Fortunio durchaus ernst.
Schließlich gehorchte der Junge, stellte sich breitbeinig über den Drachen und ehe er richtig begriff, was geschah, wuchs Fortunio. Der Minidrache verwandelte sich in einen riesengroßen.
Er breitete die Flügel aus und flog los.
„Was ist, wenn uns jemand bemerkt?“, fragte Felix mehr neugierig als ängstlich.
„Die Menschen sehen nur, was sie erwarten zu sehen. Also keine Bange!“
Der Junge krallte sich an Fortunio und presste sich fest an den Drachenkörper. Doch bald wurde er mutiger, richtete sich ein Stück auf und linste vorsichtig nach unten.
„Wo sind wir?“, schrie er nach vorne, denn er war sich nicht sicher, ob der Drache ihn sonst verstand.
„Wir überfliegen gerade das Mittelmeer und in Kürze überqueren wir die Sahara“, rief Fortunio ebenso laut zurück, „falls dir das was sagt!“
„Natürlich!“, entgegnete Felix leicht beleidigt und ergänzte dann: „Die Sahara ist die größte Trockenwüste der Welt! Neun Millionen Quadratkilometer! Deutschland hätte dort 26 Mal Platz! Nur ungefähr 20 Prozent sind mit Sand bedeckt, der Rest ist Stein oder Geröll!“
„Gut aufgepasst in der Schule!“, grinste der Drache.
„Von wegen Schule!“, widersprach der Junge, „Habe ich im Internet nachgelesen! Wikipedia, falls dir das was sagt! In der Schule lernen wir nur unnützes Zeug!“
„Wirklich?“
„Naja, manchmal ist der Unterricht auch interessant!“, gab Felix brummelnd zu.
„Wenn es jetzt hell wäre, würdest du nichts als Wasser sehen“, erklärte Fortunio kurze Zeit später, „wir befinden uns nämlich gerade über dem Atlantik, überfliegen anschließend Südamerika und dann ist es nicht mehr weit!“
„Können wir nicht irgendwo einmal landen?“, fragte Felix, „Südamerika hat mich schon immer interessiert, vor allem der Regenwald und die Kultur der Mayas und Inkas!“
Der Drache bog seinen Hals etwas seitlich, so dass er den Jungen ansehen konnte.
„Andere Jungs in deinem Alter finden Fußball und Autorennen gut, vielleicht auch noch irgendwelche Popstars, aber dass sich ein Kind für fremde Kulturen interessiert, ist doch eher selten!“
Felix zuckte mit den Schultern.
„Mir doch egal!“, gab er patzig zurück, „Dann bin ich halt anders!“
„Natürlich bist du das!“, stimmte Fortunio ihm zu, „Jeder Mensch ist etwas Besonderes, manche wollen das nur nicht wahr haben und versuchen sich anzugleichen! Das ist vielleicht einfacher, aber auf Dauer langweilig!“
„Könnte von meiner Mutter stammen!“, grinste Felix, „So etwas Ähnliches sagt sie, wenn sie meint mich trösten zu müssen, weil mich jemand geärgert hat!“
„Dann“, lächelte der Glücksdrache, „ist deine Mutter eine kluge Frau! So, und jetzt halte dich gut fest! Ladies and Gentlemen, wir befinden uns im Landeanflug auf die Glücksdracheninsel. Bitte stellen Sie Ihre Sitze wieder senkrecht und bleiben Sie angeschnallt, bis die roten Lichter erlöschen!“
Felix musste laut lachen, klammerte sich jedoch fest an den schuppigen Drachenhals.
Es dauerte nicht lange und der Drache landete sanft auf einem Felsplateau! Obwohl es immer noch Nacht war, konnte Felix alles ganz gut erkennen, gerade so, als ob jemand vom Wasser aus, die Insel in ein sanftes blaues Licht tauchen würde.
Der Junge kletterte herunter und sah sich staunend um. Zur Wasserseite fiel der Fels steil ab und schwarze Klippen reckten bedrohlich ihre gezackten Spitzen empor. Felix bekam eine Gänsehaut und wandte sich rasch um. Ein Stück weiter unten gab es eine Wiese, eine Art Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen, soweit Felix das in dem Dämmerlicht erkennen konnte, auf der jede Menge Drachen lagen und schliefen.
„Sind das alles Glücksdrachen?“, erkundigte er sich fast ehrfürchtig.
Fortunio nickte.
„Natürlich gibt es noch mehr! Manche sind sozusagen im Einsatz und befinden sich gerade nicht hier. Das ist jedoch ganz gut! Es wäre sonst schrecklich eng!“
„Ihr müsstet euch halt wieder verkleinern!“, gab der Junge zurück, „Dann hättet ihr genügend Platz!“
„Stimmt!“, lachte der Drache so laut, dass sein Bauch wackelte.
Ein schmaler Weg führte zu dem Drachenschlafplatz und gemütlich spazierten sie diesen entlang.
„Und, wenn einer aufwacht?“, flüsterte Felix ein bisschen ängstlich.
„Keine Bange!“, gab Fortunio ebenfalls leise zurück, „Wir Drachen sehen zwar furchterregend aus, aber meistens sind wir ganz harmlos!“
Trotzdem hielt sich Felix nun hinter dem Drachen und so ganz wohl fühlte er sich nicht, als sie die Drachenwiese erreichten.
„Woher wisst ihr eigentlich, wer gerade eure Hilfe benötigt!“
„Eine berechtigte Frage!“, nickte der Drache und fügte hinzu: „Einige von uns sind ständig unterwegs, sozusagen als Kundschafter! Sobald sie einen Menschen entdecken, der uns braucht, fliegt einer los, um ihm zu helfen! Allerdings, nicht alle Menschen wollen unsere Hilfe!“
Erstaunt riss Felix die Augen auf.
„Aber warum denn nicht? Das ist doch dumm!“, rief er entrüstet.
„Tja, für viele Menschen gibt es weder Glücksdrachen noch Schutzengel. Sie glauben nicht daran! Das ist schlimm, jedoch nicht zu ändern!“
Mit Blick auf all die schlafenden Glücksdrachen meinte Felix schließlich seufzend:
„Ich würde ja zu gerne bleiben, bis sie alle aufwachen!“
„Das geht heute leider nicht, aber denk’ dran, immer wenn du Sorgen hast oder größere Probleme, wird einer von uns sich aufmachen, zu dir eilen, um dir beizustehen!“
Schweigend standen der riesige Glücksdrache und der schmächtige Junge am Rande der Lichtung nebeneinander.
„Wir müssen langsam zurückfliegen!“, riss der Glücksdrache Felix aus seinen Gedanken und fügte grinsend hinzu, „Schließlich musst du ausgeschlafen sein! Für dein Referat, meine ich!“
„Ziemlich unnötig, mich jetzt daran zu erinnern!“, maulte Felix ärgerlich, stiefelte jedoch hinter dem Drachen in Richtung des Felsplateaus her.
Fortunio nahm denselben Weg zurück und da es auch jetzt noch Nacht und somit dunkel war, konnte Felix nur wenig erkennen.
Kurze Zeit später landeten sie leise auf dem Balkon vor Felix’ Zimmer. Abermals wunderte sich der Junge, dass so ein großes Wesen sich so geräuschlos bewegen konnte, aber ehe er zu Ende gedacht hatte, schrumpfte Fortunio wieder und aus dem großen, furchterregenden wurde ein kleiner, putziger Drache.
Felix fühlte sich plötzlich unendlich müde. Rasch zog er sich aus, murmelte noch „Gute Nacht“ und schlief augenblicklich ein.
Seltsamerweise fühlte er sich am nächsten Morgen trotzdem ausgeschlafen. Etwas unsicher überlegte er, ob er das alles nur geträumt hatte. Vielleicht gab es Fortunio und die Insel der Glücksdrachen gar nicht?
Doch in diesem Moment kroch Fortunio unter einem Wäscheberg, den Felix achtlos in der Ecke zusammen geschoben hatte, hervor. Er reckte und streckte sich, soweit das bei einem Minidrachen halt möglich ist.
„Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“, erkundigte er sich freundlich bei Felix.
Der nickte nur und betrachtete Fortunio mit zusammengekniffenen Augen, sagte jedoch nichts.
Nach dem Frühstück, holte der Junge sein Fahrrad aus der Garage und radelte zur Schule. Fortunio begleitete ihn. Unterwegs trafen sie noch Lukas und gemeinsam betraten sie kurz darauf das Schulhaus. Am liebsten hätte Felix seinem Freund alles erzählt, doch der würde ihm ohnehin nicht glauben. Wie denn auch?
Das Referat wurde ein voller Erfolg. Fortunio saß dem Jungen die ganze Zeit auf der Schulter, für alle Fälle, hatte Felix gebeten, falls er nicht mehr weiter wusste. Doch er redete flüssig, versprach sich kein einziges Mal und war sehr stolz auf sich und natürlich auf Fortunio, seinen Drachen von der Insel der Glücksdrachen.