Christa Reuch
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Kapitel 3: Der Fahrradunfall
Später nach dem Abendessen verzog sich Felix wieder einmal sofort in sein Zimmer. Nachdenklich saß er im Schneidersitz auf seinem Bett und zog die Stirn in Falten. Fortunio ließ sich neben ihm nieder.
„Wenn ihr sofort einen Drachen losschickt“, begann Felix nach einer Weile, „wenn jemand Probleme hat, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Warum könnt Ihr nicht allen Menschen helfen?“
Fortunio neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete den Jungen einige Zeit aufmerksam bevor er antwortete.
„Eine vernünftige Frage! Doch leider sind auch wir nicht immer rechtzeitig zur Stelle, zweitens können wir nur denen helfen, die sich helfen lassen und drittens bedeutetet die Anwesenheit eines Glücksdrachen nicht immer automatisch ein Happyend!“
„Wie meinst du das?“, wollte Felix wissen und sah den Drachen verwirrt an.
„Ich werde dir eine Geschichte erzählen, vielleicht verstehst du dann, was ich meine! Schließe Deine Augen, dann kannst du dich besser konzentrieren!“, befahl Fortunio und während der Junge gehorchte, marschierte der Minidrache auf dem Teppich hin und her.
„Das Ereignis liegt schon einige Jahre zurück, genauer gesagt, 38 Jahre. Es passierte am 15. April 1974 um kurz vor acht Uhr morgens, ganz hier in der Nähe, an der gro0en Kreuzung, über die auch du fährst, wenn du zur Schule willst. Damals gab es noch keine verkehrsberuhigten Zonen und man durfte überall 50 km/h fahren. Der zehnjährige Peter war, wie schon so oft, viel zu spät aufgestanden. Nun musste er sich schicken, um noch pünktlich in der Schule zu sein. Er schnappte sich, wie jeden Morgen, sein Fahrrad und radelte so schnell er konnte. Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Er zog die Kapuze über den Kopf und trat wie wild in die Pedale. Als die Kreuzung in Sicht kam, sprang die Ampel gerade auf Rot. Weil er nicht warten wollte, beschloss er, die Straße einfach schon vor der Kreuzung zu überqueren. Durch die Kapuze und den Regen, der ihm ins Gesicht klatschte, war seine Sicht ziemlich eingeschränkt und so sah er das Auto nicht kommen und fuhr direkt auf den Wagen drauf. Der Fahrer trat sofort auf die Bremse, trotzdem wurde der Junge einige Meter mitgerissen und schließlich über die Motorhaube geschleudert. Er blieb auf der Straße liegen und bewegte sich nicht mehr. Die Menschen, die dort unterwegs waren, hatten den dumpfen Aufprall und die quietschenden Bremsen gehört und geschockt bildeten sie einen Kreis um das verletzte Kind. Der Verkehr kam zum Erliegen und eine gespenstische Stille breitete sich aus. Niemand reagierte! Bis sich plötzlich eine resolute Dame den Weg durch die Menschenmenge bahnte, sich zu dem Jungen kniete, ihren Mantel über seinen Körper ausbreitete und den Kopf des Jungen in ihren Schoß bettete. Dann sah sie auf und schrie einem älteren Mann zu:
„Los! Gehen Sie in den Laden dort drüben und rufen sie den Notarzt und die Polizei!“
Der Mann gehorchte und während sie auf den Krankenwagen warteten, hielt die Frau die ganze Zeit die Hand des Jungen fest.“
„Und?“, fragte Felix leise mit belegter Stimme dazwischen, „kam der Notarzt noch rechtzeitig?“
Traurig schüttelte Fortunio den Kopf. „Nein! Der Junge starb noch an der Unfallstelle, kurz bevor der Rettungswagen eintraf!“
„Das ist nicht fair!“, protestierte Felix wütend, „Wo war denn bitte sein Glücksdrache oder willst du behaupten, er hätte Glück gehabt, dass er gestorben ist?“
„Nein, natürlich nicht!“, rechtfertigte sich der Drache, „Aber er hatte keine Chance und ich habe dafür gesorgt, dass er nicht alleine war, als er sterben musste!“
„Du meinst“, sagte Felix leise und musste schlucken, „du hast ihm die Frau geschickt, die die ganze Zeit über seine Hand gehalten hat?“
Fortunio nickte schweigend.
„Was wurde denn aus dem Autofahrer?“, erkundigte sich Felix nach einer Weile, „Ist der wenigstens bestraft worden?“
Doch Fortunio musste ihn enttäuschen.
„Den Autofahrer traf keine Schuld!“, erklärte er und fügte hinzu, „Er hielt sich genau an die zulässige Geschwindigkeit und konnte einfach nicht schnell genug bremsen, als das Kind so plötzlich die Fahrbahn überqueren wollte. Aber glaube mir, er macht sich immer noch Vorwürfe, bis heute!“
„Warum hast du ihn nicht früher geweckt oder ihn daran gehindert einfach ohne zu schauen über die Straße zu fahren?“
Fortunio zuckte bedauernd mit den Schultern.
„Dann bräuchte jeder seinen eigenen, persönlichen Glücksdrachen! So viele Drachen gibt es aber nicht! Doch egal, ob du ein Drache oder ein Kind bist, jeder sollte jeden Tag versuchen, die Welt ein klein wenig besser zu machen!“
„Das bedeutet wohl, dass du bald wieder zurück fliegst!“, murmelte Felix traurig.
Der Drache nickte und auch ihm tat es sehr leid von hier fort zu müssen.
„Kann ich vielleicht einmal mit, wenn du wieder einmal ein Stückchen Welt rettest?“, fragte Felix mit einem schüchternen Grinsen.
„Versprechen kann ich es dir nicht, aber ich werde sehen, was sich da machen lässt!“, entgegnete Fortunio.
Dann hüpfte er zur Balkontüre, flatterte auf das Geländer und winkte zum Abschied mit den Flügeln.
„Mach’s gut Felix! Ich komme bestimmt irgendwann zurück!“
„Das wäre schön!“, flüsterte Felix und sah seinem Glücksdrachen selbst dann noch hinterher, als dieser seinem Blickfeld schon längst entschwunden war.
Kapitel 4: Verschüttet im Schnee
Tage, Wochen, Monate vergingen, ohne dass Fortunio sein Versprechen einlöste und sich wieder blicken ließ. Und so verblasste die Erinnerung an ihn langsam.
Felix erzählte niemandem von Fortunio und manchmal fragte er sich, ob er das alles nicht nur geträumt hatte.
Die Jahreszeiten wechselten sich ab. Im Mai radelte Felix mit seinen Freunden zum Baden ins Freibad radelte, während der Wettergott es im August mit den Schulkindern nicht gut meinte, denn er ließ es ständig regnen und die Temperaturen fielen auf maue 15 Grad. Der Herbst erwies sich als ganz passabel. Dafür warteten die Wintersportfreunde schon seit zwei Monaten sehnsüchtig, doch bisher leider vergebens, auf Schnee. Am Tag vor Heilig Abend reisten Felix’ Oma und sein Großonkel an und blieben bis Neujahr. Das neue Jahr begann wie das alte aufhörte: mit nur mäßig kaltem Schmuddelwetter. In den folgenden Tagen sanken die Temperaturen jedoch und nun begann es tatsächlich zu Schneien, allerdings reichlich spät, denn schließlich begann in drei Tagen die Schule wieder und die schönen Weihnachtsferien marschierten mit riesigen Schritten dem Ende zu.
Felix saß auf seinem Fenstersims. Er blickte den Schneeflocken nach, die vor seinem Fenster tanzten, ehe sie sanft zu Boden fielen und die braune, unansehnliche Rasenfläche in einen weiß gepuderten Teppich verwandelten.
Die Kinder freuten sich über den Schnee, während die meisten Erwachsenen über die Kälte, die Glätte und das ewige Schneeräumen schimpften. Im Nachbarsgarten versuchten kleine Kinder einzelne Flocken aus dem Schneegestöber zu erwischen.
Grinsend beobachtete Felix ihr Bemühen und dachte gerade darüber nach, ob er sich wohl auch einmal so kindisch aufgeführt hatte, als die aktuellen Verkehrsmeldungen die Musik im Radio unterbrachen. Zunächst noch ganz in seiner Beobachtung der spielenden Kinder versunken, schenkte Felix dem Radio zunächst keine Beachtung. Die Verkehrsnachrichten waren schon fast vorbei, als Felix seine Aufmerksamkeit dem Radio schenkte.
„… ebenso der Grenzübergang Mittenwald-Scharnitz. Im weiteren Verlauf ist die B177 zwischen dem Zirler Berg und Seefeld aufgrund eines Erdrutsches auf österreichischer Seite in beiden Richtungen gesperrt. Die Autofahrer werden gebeten, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Ebenfalls unpassierbar sind in Österreich vorübergehend der Arlberg, die Felberntauernstraße, der Flexenpass und der Wintersportort Kühtai.“
Das Kühtai kannte er. Letztes Jahr verbrachten sie dort in den Weihnachtsferien eine Woche beim Skifahren. Schade, dass sein Vater heuer nach Silvester gleich wieder arbeiten musste. Sein Magen knurrte hörbar und er beschloss in der Küche vorbei zuschauen, entweder um sich etwas Essbares zu organisieren oder vielleicht hatte er Glück, und es gab Abendessen. Er hatte Glück! Doppeltes Glück sogar, denn der Tisch war bereits gedeckt, so dass er sich nur noch setzen und essen musste.
„Hast du es gerochen, oder treibt dich der Hunger in die Küche?“, fragte seine Mutter schmunzelnd, als sie ihn sah.
„Sagen wir“, antwortete Felix grinsend, „ein angenehmer Zufall!“
Felix’ Vater kam gerade zur Tür herein und so konnten sie wieder einmal gemeinsam essen.
Sein Vater arbeitete als Arzt in einer kleinen Privatklinik und unvorhergesehene Ereignisse bescherten ihm ziemlich unregelmäßige Arbeitszeiten. Das allerdings regelmäßig! Andererseits fand Felix es ziemlich praktisch einen Arzt in der Familie zu haben.
Eine Zeit lang aßen sie schweigend, nur das Klappern des Bestecks unterbrach die Stille.
„Vorhin im Radio“, begann die Mutter nach einer Weile, „haben sie von einem 13 jährigen Mädchen berichtet! Sie verbringt mit ihren Eltern den Skiurlaub in Axamer-Lizum. Das ist ein Skiort in Tirol. Gestern Nachmittag wollte das Mädchen eine Abfahrt alleine fahren. Die Eltern warteten unten am Pistenende, doch ihre Tochter kam nicht. Seither wird sie vermisst!“ Die Mutter machte eine kurze Pause, schüttelte traurig den Kopf.
„Die armen Eltern!“, fuhr sie leise fort, „Was die wohl jetzt durchmachen? Wenn ich mir vorstelle, unserem Sohn würde so etwas passieren…!“ Sie betrachtete Felix stumm. Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Plötzlich lächelte seine Mutter und wandte sich an ihren Mann:
„Weißt du noch, unser erster Winterurlaub zu dritt? Den haben wir doch auch in Axamer Lizum verbracht! Und den ersten Skikurs hat er auch da gemacht! Erinnerst du dich an seine kleine Freundin?“ Sein Vater grinste und Felix stöhnte innerlich. Wie er diese Geschichten hasste! Die Erwachsenen fanden das lustig, er nur peinlich! Sollten sie doch irgendetwas aus ihrer eigenen Kindheit zum Besten geben!
„Ich“, begann er deshalb und versuchte wieder auf das ursprüngliche Thema zurück zukommen, „hätte eher Mitleid mit dem Mädchen! Vielleicht ist sie verletzt und konnte deshalb nicht weiter abfahren! Und außerdem: Ihr würdet mir nie erlauben irgendeine Piste alleine hinunter zu fahren!“
„Stimmt!“, gab ihm sein Vater recht, „einigen wir uns doch darauf, dass uns die ganze Familie leid tut! Vor allem da die Rettungsmaßnahmen mit Einbruch der Dunkelheit sicherlich abgebrochen wurden. Und bei den Schneemassen in Tirol ist es gar nicht sicher, ob die Bergwacht überhaupt das ganze Gebiet absuchen kann. Soviel ich gehört habe, besteht überall akute Lawinengefahr!“
Nach dem Abendessen half Felix zunächst beim Abspülen. Nicht gerade sein Lieblingsjob, aber da er danach ‚Harry Potter und der Halbblutprinz’ sehen wollte, konnte es nicht schaden, günstige Voraussetzungen zu schaffen - indem er zum Beispiel einen Teil der Hausarbeit übernahm.
Während sein Vater sich anschließend in sein Arbeitszimmer zurückzog, machten Felix und seine Mutter es sich vor dem Fernseher gemütlich.
Als er später im Bett lag, fiel ihm das verschwundene Mädchen wieder ein. Vielleicht hatte sie ja Glück, dachte er schläfrig und kurz bevor ihm die Augen endgültig zufielen, kam ihm Fortunio in den Sinn. Hoffentlich wussten die Glücksdrachen davon, schließlich passierten jeden Tag eine Menge schlimmer Dinge, bei denen Menschen und Tiere in Not gerieten und Hilfe benötigten.
„Fortunio“, murmelte er leise, „Hilf ihr!“
Mitten in der Nacht wachte Felix auf. Lächelnd starrte er an die Wand, an der das Mondlicht bizarre Schatten warf. Er hatte doch glatt von Fortunio geträumt, dass er ihn am Ohr zupfte, wie damals, als er ihn zur Insel der Glücksdrachen mitnahm. Felix drehte sich ein Stück zur Seite, um die Uhrzeit auf seinem Wecker ablesen zu können. Doch was war das? Der Junge rieb sich die Augen? Bestimmt schlief und träumte er noch!
„Weder schläfst, noch träumst du!“
Nein, diese merkwürdig schnarrende Stimme würde er nie vergessen.
Auf seinem Nachttisch marschierte Fortunio hin und her und betrachtete den Jungen aufmerksam.
„Wenn du jetzt wach bist, hättest du vielleicht die Güte endlich aufzustehen? Die Zeit drängt!“
„So, für was denn?“, gähnte Felix, sprang jedoch sogleich aus seinem Bett, kniete sich hin und fuhr dem Glücksdrachen vorsichtig über den schuppigen Rücken.
„Fortunio!“, rief er überglücklich, „Wie ich mich freue! Weißt du, dass ich mir erst gestern wünschte, du wärst hier?“
„Ja, ja, weiß ich! Aber ich muss doch sehr bitten!“, brummte der Drache und schüttelte sich, blinkerte jedoch kurz vor Rührung mit den goldenen Drachenaugen, „Ich bin doch kein Kuscheltier, also Schluss mit den Sentimentalitäten! Zieh Dich endlich an! Wir müssen los!“
„Wo fliegen wir denn hin?“, erkundigte sich der Junge neugierig, während er in Windeseile in seine Klamotten schlüpfte.
„Na, nach Österreich natürlich!“, erklärte der Glücksdrache und sein Drachenkopf wackelte missmutig hin und her, „Ts, ts, ts! Du wolltest doch, dass jemand dem Mädchen hilft! Und da bin ich! Geht das nicht schneller? Oh, diese Menschen mit ihren vielen Kleidungsstücken! Höchst unpraktisch, kann ich da nur sagen!“
„Kann ich nur bestätigen!“, erwiderte Felix grinsend, „Wenn ich jedoch nicht erfrieren will, muss ich mir noch schnell von unten meine Stiefel und meinen Anorak holen! Ich bin sofort wieder da!“
Mit diesen Worten schlüpfte Felix aus dem Kinderzimmer, blieb im Gang kurz stehen und lauschte. Dann schlich er leise nach unten, während Fortunio ungeduldig im Zimmer herumlief und vor sich hinschimpfte.
Der Junge schnappte sich noch eine Taschenlampe, eine Picknickdecke, etwas zu Essen und zu Trinken, verstaute alles in seinem Rucksack und eilte so leise wie möglich zurück in sein Zimmer.
„Hat aber doch länger gedauert“, meckerte der Drache.
„Bin halt nur ein Mensch!“, gab Felix grinsend zurück, öffnete die Balkontüre und sah Fortunio erwartungsvoll an.
Dieser watschelte mit hoch erhobenem Kopf über die Schwelle und wartete auf den Jungen.
Drachen bewegen sich in der Luft übrigens sehr elegant, ja fast graziös, während sie zu Fuß eher unbeholfen wirken, darum beschreibt „watscheln“ die Gangart ganz gut. Das würde Felix dem Drache gegenüber natürlich niemals laut aussprechen!
Felix wusste, zu welch imposanter Größe der Glücksdrache nun wachsen würde, aber nichts desto trotz erstaunte es ihn immer wieder. Da der Drache sich sofort in die Luft erhob, blieb dem Jungen keine Zeit, um noch länger den mächtigen Drachenkörper zu bewundern. Viel sehen konnte er diesmal auch nicht, denn eisige Luft blies ihm ins Gesicht, sobald er seine Nase nur eine Handbreit von dem wärmenden Drachenkörper entfernte, um nach unten zu blicken. Dabei tauchte der Mond die Landschaft in ein fahles, silbriges Licht und der weiße Schnee schien überall bläulich zu schimmern. Ab und zu linste Felix nach unten und fast ehrfürchtig betrachtete er dann kurz die Winterwelt, die nachts so anders wirkte als tagsüber. Er empfand dasselbe Gefühl, welches die Menschen in großen Kathedralen wie von selbst verstummen und sie tief im Inneren das Vorhandensein einer höheren Macht spüren lässt. Darüber vergaß er sogar für eine Weile die Eiseskälte, bei der die Schneeflocken, die sich in den Augenbrauen verfingen, sofort gefroren. Da Österreich direkt an Bayern grenzt, dauerte der Flug nicht allzu lang und der Drache landete sanft irgendwo in den Tiroler Bergen im weichen Schnee.
„Wo sind wir?“, wollte Felix wissen und versuchte irgendetwas zu erkennen, was durch den einsetzenden Schneefall gehörig erschwert wurde. Er rutschte von Fortunio hinunter und landete bis zu den Oberschenkeln im Schnee.
„Mist“, schimpfte er und fauchte Fortunio an: „Du hättest mich ja auch warnen können!“
„47,19 Grad nördliche Länge, 11,30 östliche Breite!“, leierte Fortunio gelangweilt herunter und überging Felix Gemecker geflissentlich.
„Leider habe ich ausgerechnet heute meinen Schulatlas nicht dabei!“, bemerkte Felix sarkastisch und setzte hinzu: „Geht’s auch etwas einfacher? Ich meine, so dass es normal intelligente Menschen verstehen können!“
„Du hast aber schlechte Laune“, wunderte der Drache sich, „und das, obwohl du mir doch helfen darfst das Mädchen zu retten! Aber vielleicht hast du nur Hunger? Also, wenn mir der Magen knurrt, bin ich auch ziemlich schlecht drauf!“
Felix gab es auf.
„W-o s-i-n-d w-i-r?“, wiederholte er genervt seine Frage.
„Na, in Axamer Lizum, da verschwand doch das Mädchen! Genauer gesagt in Axam und noch genauer oberhalb des Sporthotels Lizumerhof.“ Fortunio legte seinen Kopf schräg und in seinen Augen blitzte der Schalk. „Diese Antwort fällt hoffentlich zu deiner Zufriedenheit aus!“, setzte er hoheitsvoll hinzu.
„Ja“, entgegnete Felix und musste sich nun doch das Lachen verbeißen, „das kommt der Sache schon näher! Außerdem kenne ich den Lizumerhof. Vor ein paar Jahren verbrachten wir hier ein paar Tage im Winter zum Skifahren. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass da so viel Schnee lag!“
„Na, dann kannst du mir bestimmt etwas über das Tal hier erzählen!“, fragte Fortunio, mehr um den Jungen von seiner schlechten Laune, die seine nassen Jeans auslösten, abzulenken, als um wirklich etwas Wissenswertes zu erfahren. Doch da hatte er sich natürlich in Felix getäuscht. Der Junge war ein wandelndes Lexikon.
„Natürlich!“, erläuterte Felix bereitwillig, „Das Gebiet südwestlich von Innsbruck, welches wieder herum im österreichischen Bundesland Tirol liegt, wird als Axamer Lizum bezeichnet. Eine ‚Lizum’ ist ein Almgebiet am Talschluss. Seit der Olympiade 1962 ist Axamer Lizum ein internationales Wintersportzentrum und der Olympiade hat das Tal auch seine Erschließung zu verdanken. Kannst Du Dir vorstellen, dass erst 1961 das Tal richtig erschlossen wurde, indem hier mit dem Straßenbau der Hoadlstrasse begonnen wurde. Das ist die Strasse, die direkt zur Olympiaskistation führt. Naja, für eine Drachen nebensächlich, aber für die Menschen ausgesprochen wichtig!
Es gibt hier sogar eine beleuchtete Rodelbahn, die bis nach Axam führt. Bist du schon einmal gerodelt?“
Fortunio sah Felix entsetzt an.
„Drachen rodeln nicht!“, erklärte er schließlich würdevoll, „Unsere bevorzugte Fortbewegungsart ist bekanntlich das Fliegen, notfalls, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, gehen wir auch einmal zur Fuß, alles andere passt nicht zu, wie sagt man heute – zu unserem Image!“
Felix prustete los und musste aufpassen, nicht vor lauter Lachen das Gleichgewicht zu verlieren und nochmals im tiefen Schnee zu landen. Gleich darauf erinnerte er sich jedoch an das Mädchen, welches immer noch irgendwo hier in diesem weitläufigen Gebiet darauf wartete, dass jemand es fand.
„Wo wollen wir mit der Suche beginnen?“, wechselte er deshalb rasch das Thema. „Und“, fügte er hinzu, „wenn sie verschüttet ist, wie sollen wir sie orten?“
Der Drache überlegte und Felix sah ihm schweigend zu, wie er im Tiefschnee ein paar Meter hin und dann wieder zurück lief. Dabei hinterließ er natürlich tiefe Spuren im Schnee und Felix fragte sich, was die Leute morgen wohl denken mochten, wenn sie die Drachenspuren entdeckten.
„Ich sehe zwar nachts ausgezeichnet, auch ist mein Geruchssinn außergewöhnlich gut ausgebildet, doch dürfte es sogar für einen Drachen schwierig sein, ein verschüttetes Kind zu finden. Aber, wie heißt doch bei euch ein Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Also, beginnen wir dort, wo sie verschwunden ist!“
„Aha“, stellte Felix lakonisch fest, „Und wo war das?“
„Naja“, der Drache scharrte verlegen mit den Füßen im Schnee, so dass es aussah, als ob hier jemand versuchte den Boden zu pflügen, „So genau weiß ich das jetzt auch nicht!“
„Hast du mir nicht einmal erklärt, dass die Glücksdrachen ständig herumflögen und nach in Not geratenen Leuten zu suchen? Warum wisst ihr dann nichts von dem Mädchen?“
Fortunio seufzte unglücklich.
„Wie bereits erwähnt, können wir erstens nicht allen helfen, zweitens wollen manche das auch gar nicht und drittens-!“ Er stockte und dachte kurz, aber angestrengt, nach. „Und drittens fällt mir jetzt gerade nicht ein!“, gab er zu und wedelte dabei so heftig mit den Flügeln, dass Schnee hoch wirbelte und Felix das Gefühl hatte in einem Schneegestöber zu stehen.
„Fortunio“, protestierte er und hielt schützend die Hände vor das Gesicht, „Hör sofort auf damit!“
„Oh“, entschuldigte sich Fortunio zerknirscht, als er Felix betrachtete, der nun wie ein Schneemann aussah, „Das wollte ich nicht! Tut mir leid!“
Der Junge schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Ja, schon gut!“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, „Komm lass uns ins Dorf gehen!“
So stapften sie also los. Der Drache vorneweg, Felix hinterher! Schweigend liefen sie durch die mondhelle Nacht und hofften, keiner Menschenseele zu begegnen. Nicht weil sie fürchteten der Drache sorgte für Aufregung, sondern, weil Kinder oder Jugendliche (und Felix gehörte, auch wenn er das bisweilen anders sah, mit seinen 12 Jahren, einfach noch nicht zu den Erwachsenen) nach Mitternacht draußen nichts verloren hatten.
Beim Gehen konnte man ziemlich gut nachdenken, fand Felix, doch im Augenblick fiel ihm einfach nichts ein. Als sie an einer Informationstafel, die den Wintersportfreunden sämtliche Sessel- und Schlepplifte, sowie alle Pisten anzeigte, blieb er grübelnd davor stehen. Konzentriert betrachtete er die Tafel.
Fortunio, der zunächst weiter marschierte, kehrte um, als er nach einiger Zeit merkte, dass der Junge nicht mehr hinter ihm war.
„Kannst du nicht Bescheid sagen!“, brummte der Drache unfreundlich, doch mehr aus Sorge, als aus Ärger.
„Sorry“, murmelte Felix ganz in Gedanken.
„Kannst du überhaupt etwas erkennen?“, wollte Fortunio wissen, „Menschen können doch im Dunkeln nicht besonders gut sehen!“
Felix antwortete nicht, sondern fixierte weiterhin irgendeine Stelle auf der Info-Tafel. Der Drache blieb abwartend hinter dem Jungen stehen und störte ihn nicht.
„Jetzt weiß ich es wieder!“, rief Felix plötzlich und boxte Fortunio vor Freude in den Bauch, was diesen zwar überraschte, jedoch nicht wehtat.
„Beim Abendessen gestern-“, erklärte Felix, „-ach das ist nicht so wichtig! Auf jeden Fall erwähnte meine Mutter, dass ich als kleines Kind mal einen Skikurs machte und zwar eben an jener Stelle wo das Mädchen verschwand!“
„Und die findest du wieder?“, fragte der Drache skeptisch, der von dem menschlichen Erinnerungsvermögen nicht allzu viel hielt.
„Naja“, gab der Junge zu, „nicht genau, aber so ungefähr! Immerhin ein Anfang!“
„Stimmt! Na dann! Aufsteigen, wenn ich bitten darf! Zu Fuß sind wir zu langsam!“
Felix gehorchte und kletterte auf den Drachenrücken, ein anstrengendes Unterfangen, denn es gab keine Leiter oder etwas Ähnliches und so ein Drache ist ziemlich groß. Zu guter Letzt erhob sich Fortunio in die Luft und flog in die Richtung, die Felix ihm angab.
Schon kurze Zeit später landeten sie oben an der Skipiste.
„Sie stand hier und fuhr ins Tal ab, irgendwann ist sie dann verschwunden!“, dachte der Junge laut und kombinierte weiter, „wäre sie auf der Piste verunglückt, hätte man sie finden müssen, also muss sie aus irgendeinem Grund rechts oder links in den Wald gefahren sein!“
„Klingt logisch“, stimmte der Drache zu, „Auf welcher Seite suchen wir zuerst?“
„In ein paar Stunden wird es hell, allzu viel Zeit bleibt uns also nicht! Könntest du nicht erstmal über den Wald fliegen und nachsehen, ob zum Beispiel eine Lawine runter gegangen ist?“
Fortunio wackelte nachdenklich mit dem Kopf.
„Ich habe eine bessere Idee!“, verkündete er schließlich triumphierend! Im Wald ist meine normale Größe ziemlich hinderlich, also…“
„Also?“, wiederholte Felix neugierig.
„Klettere wieder auf meinen Rücken!“, befahl der Drache und Felix gehorchte.
„Es tut nicht weh! Du spürst höchstens ein leichtes Kribbeln und keine Angst, umgekehrt funktioniert es genauso gut!“
Bevor Felix Zeit hatte, über das so eben Gehörte nachzudenken, geschweige denn, Angst zu empfinden, schrumpfte der Drache auf Miniaturgröße- und mit ihm der Junge! So verkleinert, stellte es kein Problem mehr dar, zwischen den Bäumen herum zu fliegen und irgendwelche Auffälligkeiten zu suchen.
„Jetzt weiß ich“, rief Felix dem Drachen zu, „wie sich Nils Holgersson gefühlt haben muss?“
„Wer?“
„Na, du weißt schon!“, erklärte Felix, „Der Junge, der von einem Wichtelmännchen, als Strafe dafür, dass er immer so gemein zu den Tieren war, verzaubert wird, so dass er nur noch so groß ist, wie ein Wichtel! Später geht er dann mit den Wildgänsen auf Reise, erlebt viele Abendteuer und beweist, dass er doch kein so übler Kerl ist!“
„Kenne ich nicht! Wo lebt denn der Junge?“, erkundigte sich Fortunio interessiert.
„Aber den gibt es doch gar nicht!“, lachte Felix, „Das ist nur eine Geschichte von der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf! ‚Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen’ heißt das Buch genau!“
„Ach so!“, murmelte Fortunio etwas beleidigt, weil Felix immer noch vor sich hinkicherte.
„Sieh mal dort!“, unterbrach der Drache Felix’ Heiterkeitsausbruch.
Vor ihnen zog sich eine Schneise durch den Wald. Umgeknickte Bäume lagen auf dem Boden und es erweckte den Eindruck, als ob eine riesige Planierraupe einen Teil des Waldes eingeebnet hätte.
„Lawine?“, fragte Felix.
„Denke ich auch!“, bestätigte der Drache.
„Oh je!“ Verzweifelt betrachtete der Junge die, durch die Schneemassen angerichtete Verwüstung.
„Achte auf Erhebungen“, befahl Fortunio und flatterte langsam über die umgestürzten Bäume. Gespenstische Ruhe lag über dem Gebiet. Felix’ Armbanduhr zeigte halb vier Uhr und eigentlich müsste es im Wald stockfinster sein, denn düstere Wolken verdeckten inzwischen den Mond fast vollständig. Trotzdem konnte er jeden Baum, jeden Ast genau erkennen. Alles in unmittelbarer Nähe des Drachen leuchtete in sanftem Blau, welches Felix schon auf der Insel der Glücksdrachen aufgefallen war.
Kreuz und quer flogen sie durch den Wald, bis der Drache sanft auf einem Erdhaufen landete.
Fortunio sah an sich hinunter.
„Pah!“, meckerte er, „Alles dreckig! Ich brauche bestimmt ewig, bis ich wieder sauber bin!“
„Warum suchst du dir auch einen Dreckhaufen als Landeplatz?“, erkundigte sich Felix missbilligend.
„Weil“, knurrte der Drache ungehalten, „man nicht erkennen kann, ob der Schnee locker ist oder fest! Und ich keine Lust habe, im Schnee zu versinken!“
„Daran habe ich nicht gedacht!“, gab Felix zu. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, zischte Fortunio:
„Pst! Sei doch mal still!“
„Ich wollte doch nur“, versuchte es Felix noch einmal.
„Jetzt nicht!“, unterbrach der Drache ihn erneut, „Hörst du das nicht?“
Der Junge lauschte angestrengt in die Nacht, konnte jedoch beim besten Willen keine ungewöhnlichen Geräusche ausmachen.
„Ich höre nichts!“, verkündete er schließlich.
„Doch!“, widersprach Fortunio, „Das klingt wie-!“ Er überlegte kurz! „Miau! Ja genau! Eine Katze!“
„Eine Katze?“ Überrascht blickte Felix den Drachen an, doch der schien es wirklich ernst zu meinen.
„Ja“, seufzte Fortunio bedauernd, „leider nur eine Katze! Es sei denn das Mädchen würde miauen!“
„Das kann ich mir zwar auch nicht vorstellen, aber“, versuchte Felix zu trösten, „dann retten wir eben eine Katze! Die hat sich bestimmt verlaufen oder sitzt irgendwo fest! Also, aus welcher Richtung kommt denn das Miauen?“
Der Drache musterte ihn erstaunt.
„Du kannst das Geräusch wirklich nicht lokalisieren?“
„Nein! Um es lokalisieren zu können, müsste ich es erst einmal hören! Aber“, Felix lächelte, „wie Du mich ja bereits mehrmals darauf hingewiesen hast, sind die menschlichen Sinnesorgane den deinen weit unterlegen!“
„Von dort drüben!“
Der Drache deutete ein Stück den Hang hinunter. Felix bemühte sich dort etwas wahrzunehmen, doch vergeblich.
Schließlich nahm er wieder auf Fortunios Rücken Platz und sie hielten auf die Stelle zu, von welcher der Drache das Miauen hörte. Der Drache ließ sich abermals auf einem der abgeknickten Bäume nieder. Sogleich wuchsen Kind und Drache zu ihrer eigentlichen Größe. Es krachte und der Ast brach unter dem Gewicht des Drachens. Sie plumpsten zu Boden, erhoben sich prustend und schüttelten den Schnee ab.
Minutenlang verharrten sie und lauschten in die Nacht.
Nun vernahm auch Felix ein schwaches Maunzen und aufgeregt deutete er auf einen Schneehaufen.
„Da drunter, oder?“, rief er aufgeregt und begann sogleich mit den Händen den Schnee wegzuschaufeln.
Fortunio sah ihm eine Weile zu, dann schob er ihn energisch zur Seite, holte tief Luft, und spie vorsichtig Feuer in den Schnee, der sofort in sich zusammenfiel und schmolz. Ein kleines Rinnsal bahnte sich seinen Weg nach unten. Langsam kam die umgestürzte Wurzel einer mächtigen Tanne zum Vorschein. Wieder umgab den Drachen das angenehm, sanfte, blaue Licht und Felix stand einer dreifarbigen Katze gegenüber. Fauchend machte sie einen Katzenbuckel, das Fell gesträubt, und drückte sich ängstlich- an ein schlafendes Kind. Felix konnte nicht glauben, was er sah.
„Das vermisste Mädchen!“, jubelte er und drehte sich strahlend zu Fortunio um, doch die Stelle, an der der Drache eben noch stand, war leer. Verwundert schüttelte er den Kopf.
„Fortunio“, rief er halblaut in die Dunkelheit, doch statt des Drachens antwortete das Mädchen schläfrig.
„Ich heiße Meike!“
Der Junge wandte sich wieder der Baumwurzel zu.
„Hallo! Hörst du mich?“, fragte er, trat einen Schritt näher und rüttelte sie sanft an der Schulter, „Du musst aufstehen, wir gehen ins Tal.“
„Ich bin so müde!“, murmelte Meike, „Außerdem ist mir kalt und ich habe Hunger und Durst! Lass mich schlafen!“
„Das geht nicht!“, erklärte der Junge bestimmt und zog das Mädchen hoch. „Hier“, er nahm seinen Rucksack vom Rücken, „die Decke wird dich ein bisschen wärmen und fürs Erste musst du mit Keksen vorlieb nehmen! Hast du mich verstanden?“
Schläfrig nickte sie mit dem Kopf. Während Felix ihr die Decke um die Schultern wickelte, nahm sie zwei Kekse und begann daran zu knabbern.
„Geht’s?“, erkundigte sich Felix besorgt und fragte sich zum wiederholten Mal, wo in aller Welt Fortunio blieb.
Meike nickte und die Katze schmiegte sich angstvoll an die Beine des Mädchens. Felix beugte sich zu dem aufgeplusterten Fellknäuel hinunter und hielt ihr ein Brocken Keks hin. Vorsichtig schnupperte das Tier daran, dabei ließ sie den Jungen keine Sekunde aus den Augen. Doch der Hunger gewann und so kam sie näher, schnappte sich das Keksstück und schluckte es auf einmal hinunter.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte das Mädchen kauend.
„Oh“, erklärte Felix, während er die Katze weiter fütterte, „habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Ich bin Felix!“
„Freut mich Dich kennen zulernen Felix!“, bemerkte Meike, „Und wo kommst Du so plötzlich her?“
„Ich“, stotterte Felix nun etwas unsicher, beschloss jedoch bei der Wahrheit zu bleiben, „Mein Glücksdrache hat mich hergebracht. Wir suchen dich nun schon eine Zeit lang! Die Suchtrupps kommen hier ja nur schlecht hin! Die Maschinen sind zu schwer und Hubschrauber können nur bei gutem Wetter fliegen und die letzten Tage dürfte es hier wohl ununterbrochen geschneit haben!“
Meike nickte zustimmend. Sie schien sich überhaupt nicht zu wundern, im Gegenteil, neugierig reckte sie den Kopf.
„Und wo ist dein Glücksdrache?“
Bevor Felix sich eine Antwort zurecht legen konnte, denn er konnte ja noch nicht einmal sicher sein, dass sie den Drache sehen konnte, ertönte ein „Hier!“. Die Katze machte vor Schreck einen Satz in die Luft und verkroch sich blitzschnell unter der Decke des Mädchens, während Meike interessiert zur Seite blickte.
„Gestatten!“, stellte der Drache sich höflich vor, „Mein Name lautet Fortunio!“
Seine goldenen Augen leuchteten freundlich, trotzdem bewunderte Felix Meike. Anscheinend verspürte sie keinerlei Furcht vor dem riesigen Drachen und obwohl Felix Mädchen ganz allgemein doof fand, sie kicherten und alberten ihm zuviel und interessierten sich nie für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, so musste er Meike zugestehen, dass sie anders war. Kein bisschen ängstlich, das verdiente Respekt! Meike stand anfangs nur da und begutachtete den Drachen, dann wandte sie sich an wieder Felix zu.
„Und der gehört wirklich dir?“
Obwohl sich Felix geschmeichelt fühlte, sah er ein, dass er dieses Missverständnis aufklären musste.
„Ähm“, räusperte er sich deshalb verlegen, „eigentlich gehören Drachen niemandem. Sie kommen und gehen wie es ihnen gefällt!“
„Also nur geliehen sozusagen?“, hakte sie nach.
„Nein!“ Felix seufzte, solche Fragen konnte doch nur ein Mädchen stellen. „Verleihen kann ich ja auch nur etwas, was mir gehört!“
„Ach so!“, nickte Meike, „Fortunio ist also freiwillig bei dir, er könnte jedoch genauso gut bei mir bleiben, wenn er möchte! Jetzt habe ich es kapiert!“
„Na endlich!“, knurrte der Junge und betrachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Fortunio fand diese Unterhaltung überflüssig, andererseits amüsierte sie ihn. Er merkte allerdings, dass Felix sich ärgerte und beschloss deshalb einzugreifen.
„Wenn ihr fertig seid, könnten wir eventuell endlich daran denken Meike zurück zubringen? Langsam wird die Zeit knapp! Wenn deine Eltern keine Suchaktion starten sollen Felix, müsstest du spätestens in zwei oder drei Stunden im Bett liegen! Am besten laufen wir ein Stück, so dass wir den Waldrand erreichen!“
Felix blickte auf seine Armbanduhr und erschrak. Schon fast sechs! Außerdem begannen viele Einwohner sicher schon bald mit ihrer Arbeit. Dann würde es für Fortunio gefährlich, wenn nicht sogar unmöglich die Kinder fliegend heimzubringen, denn mit den Kindern auf dem Rücken waren sie für jedermann sichtbar. Die meisten Menschen die zufällig gerade dann in den Himmel blickten, wenn sich ein Drache dort zeigte, trauten Gott-sei-Dank ihren Augen nicht, und einmal Blinzeln reichte dem Drachen schon aus, um aus ihrem Blickfeld zu entschwinden.
Eine Frage musste er dem Mädchen jedoch noch stellen.
„Wie bist du überhaupt hier her gekommen? Du solltest doch einfach nur den Skihang hinunter fahren?“
„Na, wegen der Katze!“
Anscheinend ging sie davon aus, dass das als Erklärung genügte. Felix verstand jedoch gar nichts.
„Und das soll heißen?“, erkundigte er sich gereizt.
„Minka“, begann sie.
„Minka?“, fiel Felix ihr erstaunt ins Wort.
Meike verdrehte die Augen, blieb jedoch höflich.
„Minka, die Katze!“, fuhr sie ihre Ausführung selenruhig fort, „Schließlich musste ich ihr doch einen Namen geben! Minka ist so gut wie jeder andere! Also, Minka lief quer über die Skipiste. Ziemlich gefährlich! Ich wollte sie fangen und mit nach unten nehmen. Sie hatte sich doch bestimmt verirrt! Leider lief sie in den Wald! Da bin ich ihr dann hinterher und dann ging die Lawine ab. Ich wusste zuerst gar nicht, was der Lärm bedeutete, aber Minka schon! Sie verkroch sich unter der Baumwurzel! Ich folgte ihrem Beispiel und hoffte, dass irgendjemand kommt und uns rettet. Tja, ich hatte recht!“
Nachdenklich schaute Felix das Mädchen an. Braune Flecken zierten ihre ehemals weiße Schneehose und ein Ärmel ihres Anoraks hatte einen langen Riss. Ihr silberner Skihelm lag achtlos im Schnee und unter der schwarzen Skimütze lugten blonde Locken hervor, die durch die Kälte bereits Reif angesetzt hatten und nun widerspenstig in alle Richtungen abstanden. Trotzdem musste Felix sich eingestehen, dass sie ganz nett aussah. Er grinste vor sich hin und überlegte gerade, was seine Cousine wohl davon hielt, wenn er sie ‚nett’ fand! Die würde ihm wahrscheinlich die Augen auskratzen, auf alle Fälle jedoch wortreich fertig machen. Nicht, dass ihm das groß etwas ausmachen würde, es gab keine bessere Schule, um zu lernen sich gegen Verbalattacken zu wehren.
„Na, was ist?“, brummte Fortunio ungeduldig und unterbrach Felix’ Gedanken, „Seid Ihr fest gefroren oder klettert Ihr jetzt endlich auf meinen Rücken?“
Die beiden nickten und Felix machte eine Handbewegung, um Meike den Vortritt zu lassen.
„Oh“, lächelte sie, „ein Kavalier!“
Felix spürte wie er errötete. Wie peinlich, dachte er, dabei wollte er eigentlich gar nicht höflich sein, sondern nur sehen, wie sie sich abmühte auf den Drachenrücken hinaufzuklettern. Doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass sie wesentlich flinker als er den Rücken erklomm. Sportlich war sie also auch noch! Wie ärgerlich, dabei hätte er ihr zu gerne ganz lässig die Hand gereicht, um sie empor zu ziehen.
Meike setzte sich hin und drehte sich zu ihm um.
„So richtig?“, fragte sie lächelnd, „oder soll ich weiter nach vorne rutschen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, das passt so! Halt dich nur gut fest!“
Meike nickte, dann fiel ihr noch etwas ein.
„Ich muss aber doch Minka festhalten, da habe ich keine Hand mehr frei!“
„Du willst sie mitnehmen?“ Felix konnte es nicht fassen.
„Natürlich!“, verkündete sie so bestimmt, dass Felix wusste, er konnte sich jedes Argument sparen, da sie ohnehin nicht nachgeben würde. Sie schmiegte ihre Wange an das weiche Katzenfell und wartete.
Er seufzte, holte seinen Rucksack und mit vereinten Kräften schafften sie es das Tier hinein zu stecken. Ein schwieriges Unterfangen, und sie kamen gehörig ins Schwitzen, da die Katze sich wehrte, indem sie zu kratzen und beißen versuchte. Felix setzte den Rucksack wieder auf und es konnte endlich losgehen.
„Na endlich“, knurrte der Drache ungehalten, verlor jedoch keine weitere Zeit mit Vorhaltungen, sondern erhob sich in die Luft und flog in Richtung Tal. Es begann zu schneien, was den Kinder zwar die Sicht nahm, den Drachen jedoch nicht zu beeinträchtigen schien und die Gefahr verringerte bemerkt zu werden. Fortunio landete sanft oberhalb der ersten Häuser.
„Weißt du in welchem Hotel Deine Eltern wohnen?“, erkundigte er sich.
„Natürlich!“, entgegnete Meike beleidigt, „Ich bin zwar blond, aber nicht blöd!“
„Du bringst sie bis zum Hotel!“, befahl er Felix, „dann kommst du wieder zurück! Und beeil dich! Die Zeit drängt!“
Felix nickte, rutschte vom Drachenrücken hinunter und reichte dem Mädchen die Hand, als dieses mit einem kleinen Sprung den Boden erreichte.
So rasch der hohe Schnee es zuließ, liefen sie in Richtung Hotel und als der Eingang in Sichtweite kam, hielt er Meike am Arm fest.
„Warte!“, bat er, „Ich gebe dir Minka und verabschiede mich schon hier! Ich habe keine Zeit, um lange Fragen zu beantworten! Ich muss nach Hause!“
Er stellte den Rucksack auf den Boden und öffnete ihn langsam. Ein drohendes Knurren empfing ihn und er trat respektvoll einen Schritt zurück. Meike kniete sich nieder und mit einem Griff hatte sie die zappelnde Katze am Genick und zog sie heraus. Vorsichtig setzte sie das fauchende Tier auf den Boden. Seltsamerweise blieb die Katze neben dem Mädchen stehen, miaute ein paar Mal vorwurfsvoll und begann sich ausgiebig zu putzen.
„Sie macht sich schön, bevor sie wieder unter Leute geht!“, lachte Meike, dann umarmte sie Felix und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Danke! Und komm’ gut nach Hause!“
Sie drehte sich um, ging ein paar Schritte auf das Gebäude zu, kam jedoch noch einmal zurück.
„Hast du einen Stift?“
Felix kramte verwirrt in seinem Rucksack und reichte ihr einen Kugelschreiber.
Sie nahm seinen Arm, schob seinen Ärmel ein Stück nach oben und schrieb einige Zahlen darauf.
„Meine Handynummer!“, erklärte sie verlegen, „Vielleicht hast du ja Lust mich einmal anzurufen, damit ich weiß, dass du gut gelandet bist!“
Bevor er etwas entgegnen konnte, drückte sie ihm den Stift in die Hand und eilte davon, die Katze dicht hinter ihr.
Felix starrte ihr noch einen Augenblick nach, dann wandte er sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Er musste nicht weit laufen, denn Fortunio wartete bereits auf ihn.
„Hübsches Mädchen!“, grinste der Drache.
„So? Ist mir gar nicht aufgefallen!“, murmelte Felix verlegen und wechselte schnell das Thema, „Können wir jetzt zurückfliegen? Ich bin hundemüde!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kletterte der Junge auf den Drachen, krallte sich fest und schmiegte sich eng an den Drachenkörper. So konnte der Schnee ihm fast nichts anhaben.
Wie immer landete Fortunio geräuschlos auf dem Balkon und ließ Felix absteigen.
„Hat mich gefreut, dich wiederzusehen!“, murmelte er müde, strich dem Drachen schnell über den Flügel und öffnete leise die Balkontüre.
„Die Freude war ganz auf meiner Seite!“, entgegnete Fortunio gerührt, wartete bis sein Freund im Bett lag, erhob sich leise in die Luft und flog dem anbrechenden Tag entgegen.
Später nach dem Abendessen verzog sich Felix wieder einmal sofort in sein Zimmer. Nachdenklich saß er im Schneidersitz auf seinem Bett und zog die Stirn in Falten. Fortunio ließ sich neben ihm nieder.
„Wenn ihr sofort einen Drachen losschickt“, begann Felix nach einer Weile, „wenn jemand Probleme hat, warum gibt es dann so viel Elend auf der Welt? Warum könnt Ihr nicht allen Menschen helfen?“
Fortunio neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete den Jungen einige Zeit aufmerksam bevor er antwortete.
„Eine vernünftige Frage! Doch leider sind auch wir nicht immer rechtzeitig zur Stelle, zweitens können wir nur denen helfen, die sich helfen lassen und drittens bedeutetet die Anwesenheit eines Glücksdrachen nicht immer automatisch ein Happyend!“
„Wie meinst du das?“, wollte Felix wissen und sah den Drachen verwirrt an.
„Ich werde dir eine Geschichte erzählen, vielleicht verstehst du dann, was ich meine! Schließe Deine Augen, dann kannst du dich besser konzentrieren!“, befahl Fortunio und während der Junge gehorchte, marschierte der Minidrache auf dem Teppich hin und her.
„Das Ereignis liegt schon einige Jahre zurück, genauer gesagt, 38 Jahre. Es passierte am 15. April 1974 um kurz vor acht Uhr morgens, ganz hier in der Nähe, an der gro0en Kreuzung, über die auch du fährst, wenn du zur Schule willst. Damals gab es noch keine verkehrsberuhigten Zonen und man durfte überall 50 km/h fahren. Der zehnjährige Peter war, wie schon so oft, viel zu spät aufgestanden. Nun musste er sich schicken, um noch pünktlich in der Schule zu sein. Er schnappte sich, wie jeden Morgen, sein Fahrrad und radelte so schnell er konnte. Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Er zog die Kapuze über den Kopf und trat wie wild in die Pedale. Als die Kreuzung in Sicht kam, sprang die Ampel gerade auf Rot. Weil er nicht warten wollte, beschloss er, die Straße einfach schon vor der Kreuzung zu überqueren. Durch die Kapuze und den Regen, der ihm ins Gesicht klatschte, war seine Sicht ziemlich eingeschränkt und so sah er das Auto nicht kommen und fuhr direkt auf den Wagen drauf. Der Fahrer trat sofort auf die Bremse, trotzdem wurde der Junge einige Meter mitgerissen und schließlich über die Motorhaube geschleudert. Er blieb auf der Straße liegen und bewegte sich nicht mehr. Die Menschen, die dort unterwegs waren, hatten den dumpfen Aufprall und die quietschenden Bremsen gehört und geschockt bildeten sie einen Kreis um das verletzte Kind. Der Verkehr kam zum Erliegen und eine gespenstische Stille breitete sich aus. Niemand reagierte! Bis sich plötzlich eine resolute Dame den Weg durch die Menschenmenge bahnte, sich zu dem Jungen kniete, ihren Mantel über seinen Körper ausbreitete und den Kopf des Jungen in ihren Schoß bettete. Dann sah sie auf und schrie einem älteren Mann zu:
„Los! Gehen Sie in den Laden dort drüben und rufen sie den Notarzt und die Polizei!“
Der Mann gehorchte und während sie auf den Krankenwagen warteten, hielt die Frau die ganze Zeit die Hand des Jungen fest.“
„Und?“, fragte Felix leise mit belegter Stimme dazwischen, „kam der Notarzt noch rechtzeitig?“
Traurig schüttelte Fortunio den Kopf. „Nein! Der Junge starb noch an der Unfallstelle, kurz bevor der Rettungswagen eintraf!“
„Das ist nicht fair!“, protestierte Felix wütend, „Wo war denn bitte sein Glücksdrache oder willst du behaupten, er hätte Glück gehabt, dass er gestorben ist?“
„Nein, natürlich nicht!“, rechtfertigte sich der Drache, „Aber er hatte keine Chance und ich habe dafür gesorgt, dass er nicht alleine war, als er sterben musste!“
„Du meinst“, sagte Felix leise und musste schlucken, „du hast ihm die Frau geschickt, die die ganze Zeit über seine Hand gehalten hat?“
Fortunio nickte schweigend.
„Was wurde denn aus dem Autofahrer?“, erkundigte sich Felix nach einer Weile, „Ist der wenigstens bestraft worden?“
Doch Fortunio musste ihn enttäuschen.
„Den Autofahrer traf keine Schuld!“, erklärte er und fügte hinzu, „Er hielt sich genau an die zulässige Geschwindigkeit und konnte einfach nicht schnell genug bremsen, als das Kind so plötzlich die Fahrbahn überqueren wollte. Aber glaube mir, er macht sich immer noch Vorwürfe, bis heute!“
„Warum hast du ihn nicht früher geweckt oder ihn daran gehindert einfach ohne zu schauen über die Straße zu fahren?“
Fortunio zuckte bedauernd mit den Schultern.
„Dann bräuchte jeder seinen eigenen, persönlichen Glücksdrachen! So viele Drachen gibt es aber nicht! Doch egal, ob du ein Drache oder ein Kind bist, jeder sollte jeden Tag versuchen, die Welt ein klein wenig besser zu machen!“
„Das bedeutet wohl, dass du bald wieder zurück fliegst!“, murmelte Felix traurig.
Der Drache nickte und auch ihm tat es sehr leid von hier fort zu müssen.
„Kann ich vielleicht einmal mit, wenn du wieder einmal ein Stückchen Welt rettest?“, fragte Felix mit einem schüchternen Grinsen.
„Versprechen kann ich es dir nicht, aber ich werde sehen, was sich da machen lässt!“, entgegnete Fortunio.
Dann hüpfte er zur Balkontüre, flatterte auf das Geländer und winkte zum Abschied mit den Flügeln.
„Mach’s gut Felix! Ich komme bestimmt irgendwann zurück!“
„Das wäre schön!“, flüsterte Felix und sah seinem Glücksdrachen selbst dann noch hinterher, als dieser seinem Blickfeld schon längst entschwunden war.
Kapitel 4: Verschüttet im Schnee
Tage, Wochen, Monate vergingen, ohne dass Fortunio sein Versprechen einlöste und sich wieder blicken ließ. Und so verblasste die Erinnerung an ihn langsam.
Felix erzählte niemandem von Fortunio und manchmal fragte er sich, ob er das alles nicht nur geträumt hatte.
Die Jahreszeiten wechselten sich ab. Im Mai radelte Felix mit seinen Freunden zum Baden ins Freibad radelte, während der Wettergott es im August mit den Schulkindern nicht gut meinte, denn er ließ es ständig regnen und die Temperaturen fielen auf maue 15 Grad. Der Herbst erwies sich als ganz passabel. Dafür warteten die Wintersportfreunde schon seit zwei Monaten sehnsüchtig, doch bisher leider vergebens, auf Schnee. Am Tag vor Heilig Abend reisten Felix’ Oma und sein Großonkel an und blieben bis Neujahr. Das neue Jahr begann wie das alte aufhörte: mit nur mäßig kaltem Schmuddelwetter. In den folgenden Tagen sanken die Temperaturen jedoch und nun begann es tatsächlich zu Schneien, allerdings reichlich spät, denn schließlich begann in drei Tagen die Schule wieder und die schönen Weihnachtsferien marschierten mit riesigen Schritten dem Ende zu.
Felix saß auf seinem Fenstersims. Er blickte den Schneeflocken nach, die vor seinem Fenster tanzten, ehe sie sanft zu Boden fielen und die braune, unansehnliche Rasenfläche in einen weiß gepuderten Teppich verwandelten.
Die Kinder freuten sich über den Schnee, während die meisten Erwachsenen über die Kälte, die Glätte und das ewige Schneeräumen schimpften. Im Nachbarsgarten versuchten kleine Kinder einzelne Flocken aus dem Schneegestöber zu erwischen.
Grinsend beobachtete Felix ihr Bemühen und dachte gerade darüber nach, ob er sich wohl auch einmal so kindisch aufgeführt hatte, als die aktuellen Verkehrsmeldungen die Musik im Radio unterbrachen. Zunächst noch ganz in seiner Beobachtung der spielenden Kinder versunken, schenkte Felix dem Radio zunächst keine Beachtung. Die Verkehrsnachrichten waren schon fast vorbei, als Felix seine Aufmerksamkeit dem Radio schenkte.
„… ebenso der Grenzübergang Mittenwald-Scharnitz. Im weiteren Verlauf ist die B177 zwischen dem Zirler Berg und Seefeld aufgrund eines Erdrutsches auf österreichischer Seite in beiden Richtungen gesperrt. Die Autofahrer werden gebeten, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Ebenfalls unpassierbar sind in Österreich vorübergehend der Arlberg, die Felberntauernstraße, der Flexenpass und der Wintersportort Kühtai.“
Das Kühtai kannte er. Letztes Jahr verbrachten sie dort in den Weihnachtsferien eine Woche beim Skifahren. Schade, dass sein Vater heuer nach Silvester gleich wieder arbeiten musste. Sein Magen knurrte hörbar und er beschloss in der Küche vorbei zuschauen, entweder um sich etwas Essbares zu organisieren oder vielleicht hatte er Glück, und es gab Abendessen. Er hatte Glück! Doppeltes Glück sogar, denn der Tisch war bereits gedeckt, so dass er sich nur noch setzen und essen musste.
„Hast du es gerochen, oder treibt dich der Hunger in die Küche?“, fragte seine Mutter schmunzelnd, als sie ihn sah.
„Sagen wir“, antwortete Felix grinsend, „ein angenehmer Zufall!“
Felix’ Vater kam gerade zur Tür herein und so konnten sie wieder einmal gemeinsam essen.
Sein Vater arbeitete als Arzt in einer kleinen Privatklinik und unvorhergesehene Ereignisse bescherten ihm ziemlich unregelmäßige Arbeitszeiten. Das allerdings regelmäßig! Andererseits fand Felix es ziemlich praktisch einen Arzt in der Familie zu haben.
Eine Zeit lang aßen sie schweigend, nur das Klappern des Bestecks unterbrach die Stille.
„Vorhin im Radio“, begann die Mutter nach einer Weile, „haben sie von einem 13 jährigen Mädchen berichtet! Sie verbringt mit ihren Eltern den Skiurlaub in Axamer-Lizum. Das ist ein Skiort in Tirol. Gestern Nachmittag wollte das Mädchen eine Abfahrt alleine fahren. Die Eltern warteten unten am Pistenende, doch ihre Tochter kam nicht. Seither wird sie vermisst!“ Die Mutter machte eine kurze Pause, schüttelte traurig den Kopf.
„Die armen Eltern!“, fuhr sie leise fort, „Was die wohl jetzt durchmachen? Wenn ich mir vorstelle, unserem Sohn würde so etwas passieren…!“ Sie betrachtete Felix stumm. Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Plötzlich lächelte seine Mutter und wandte sich an ihren Mann:
„Weißt du noch, unser erster Winterurlaub zu dritt? Den haben wir doch auch in Axamer Lizum verbracht! Und den ersten Skikurs hat er auch da gemacht! Erinnerst du dich an seine kleine Freundin?“ Sein Vater grinste und Felix stöhnte innerlich. Wie er diese Geschichten hasste! Die Erwachsenen fanden das lustig, er nur peinlich! Sollten sie doch irgendetwas aus ihrer eigenen Kindheit zum Besten geben!
„Ich“, begann er deshalb und versuchte wieder auf das ursprüngliche Thema zurück zukommen, „hätte eher Mitleid mit dem Mädchen! Vielleicht ist sie verletzt und konnte deshalb nicht weiter abfahren! Und außerdem: Ihr würdet mir nie erlauben irgendeine Piste alleine hinunter zu fahren!“
„Stimmt!“, gab ihm sein Vater recht, „einigen wir uns doch darauf, dass uns die ganze Familie leid tut! Vor allem da die Rettungsmaßnahmen mit Einbruch der Dunkelheit sicherlich abgebrochen wurden. Und bei den Schneemassen in Tirol ist es gar nicht sicher, ob die Bergwacht überhaupt das ganze Gebiet absuchen kann. Soviel ich gehört habe, besteht überall akute Lawinengefahr!“
Nach dem Abendessen half Felix zunächst beim Abspülen. Nicht gerade sein Lieblingsjob, aber da er danach ‚Harry Potter und der Halbblutprinz’ sehen wollte, konnte es nicht schaden, günstige Voraussetzungen zu schaffen - indem er zum Beispiel einen Teil der Hausarbeit übernahm.
Während sein Vater sich anschließend in sein Arbeitszimmer zurückzog, machten Felix und seine Mutter es sich vor dem Fernseher gemütlich.
Als er später im Bett lag, fiel ihm das verschwundene Mädchen wieder ein. Vielleicht hatte sie ja Glück, dachte er schläfrig und kurz bevor ihm die Augen endgültig zufielen, kam ihm Fortunio in den Sinn. Hoffentlich wussten die Glücksdrachen davon, schließlich passierten jeden Tag eine Menge schlimmer Dinge, bei denen Menschen und Tiere in Not gerieten und Hilfe benötigten.
„Fortunio“, murmelte er leise, „Hilf ihr!“
Mitten in der Nacht wachte Felix auf. Lächelnd starrte er an die Wand, an der das Mondlicht bizarre Schatten warf. Er hatte doch glatt von Fortunio geträumt, dass er ihn am Ohr zupfte, wie damals, als er ihn zur Insel der Glücksdrachen mitnahm. Felix drehte sich ein Stück zur Seite, um die Uhrzeit auf seinem Wecker ablesen zu können. Doch was war das? Der Junge rieb sich die Augen? Bestimmt schlief und träumte er noch!
„Weder schläfst, noch träumst du!“
Nein, diese merkwürdig schnarrende Stimme würde er nie vergessen.
Auf seinem Nachttisch marschierte Fortunio hin und her und betrachtete den Jungen aufmerksam.
„Wenn du jetzt wach bist, hättest du vielleicht die Güte endlich aufzustehen? Die Zeit drängt!“
„So, für was denn?“, gähnte Felix, sprang jedoch sogleich aus seinem Bett, kniete sich hin und fuhr dem Glücksdrachen vorsichtig über den schuppigen Rücken.
„Fortunio!“, rief er überglücklich, „Wie ich mich freue! Weißt du, dass ich mir erst gestern wünschte, du wärst hier?“
„Ja, ja, weiß ich! Aber ich muss doch sehr bitten!“, brummte der Drache und schüttelte sich, blinkerte jedoch kurz vor Rührung mit den goldenen Drachenaugen, „Ich bin doch kein Kuscheltier, also Schluss mit den Sentimentalitäten! Zieh Dich endlich an! Wir müssen los!“
„Wo fliegen wir denn hin?“, erkundigte sich der Junge neugierig, während er in Windeseile in seine Klamotten schlüpfte.
„Na, nach Österreich natürlich!“, erklärte der Glücksdrache und sein Drachenkopf wackelte missmutig hin und her, „Ts, ts, ts! Du wolltest doch, dass jemand dem Mädchen hilft! Und da bin ich! Geht das nicht schneller? Oh, diese Menschen mit ihren vielen Kleidungsstücken! Höchst unpraktisch, kann ich da nur sagen!“
„Kann ich nur bestätigen!“, erwiderte Felix grinsend, „Wenn ich jedoch nicht erfrieren will, muss ich mir noch schnell von unten meine Stiefel und meinen Anorak holen! Ich bin sofort wieder da!“
Mit diesen Worten schlüpfte Felix aus dem Kinderzimmer, blieb im Gang kurz stehen und lauschte. Dann schlich er leise nach unten, während Fortunio ungeduldig im Zimmer herumlief und vor sich hinschimpfte.
Der Junge schnappte sich noch eine Taschenlampe, eine Picknickdecke, etwas zu Essen und zu Trinken, verstaute alles in seinem Rucksack und eilte so leise wie möglich zurück in sein Zimmer.
„Hat aber doch länger gedauert“, meckerte der Drache.
„Bin halt nur ein Mensch!“, gab Felix grinsend zurück, öffnete die Balkontüre und sah Fortunio erwartungsvoll an.
Dieser watschelte mit hoch erhobenem Kopf über die Schwelle und wartete auf den Jungen.
Drachen bewegen sich in der Luft übrigens sehr elegant, ja fast graziös, während sie zu Fuß eher unbeholfen wirken, darum beschreibt „watscheln“ die Gangart ganz gut. Das würde Felix dem Drache gegenüber natürlich niemals laut aussprechen!
Felix wusste, zu welch imposanter Größe der Glücksdrache nun wachsen würde, aber nichts desto trotz erstaunte es ihn immer wieder. Da der Drache sich sofort in die Luft erhob, blieb dem Jungen keine Zeit, um noch länger den mächtigen Drachenkörper zu bewundern. Viel sehen konnte er diesmal auch nicht, denn eisige Luft blies ihm ins Gesicht, sobald er seine Nase nur eine Handbreit von dem wärmenden Drachenkörper entfernte, um nach unten zu blicken. Dabei tauchte der Mond die Landschaft in ein fahles, silbriges Licht und der weiße Schnee schien überall bläulich zu schimmern. Ab und zu linste Felix nach unten und fast ehrfürchtig betrachtete er dann kurz die Winterwelt, die nachts so anders wirkte als tagsüber. Er empfand dasselbe Gefühl, welches die Menschen in großen Kathedralen wie von selbst verstummen und sie tief im Inneren das Vorhandensein einer höheren Macht spüren lässt. Darüber vergaß er sogar für eine Weile die Eiseskälte, bei der die Schneeflocken, die sich in den Augenbrauen verfingen, sofort gefroren. Da Österreich direkt an Bayern grenzt, dauerte der Flug nicht allzu lang und der Drache landete sanft irgendwo in den Tiroler Bergen im weichen Schnee.
„Wo sind wir?“, wollte Felix wissen und versuchte irgendetwas zu erkennen, was durch den einsetzenden Schneefall gehörig erschwert wurde. Er rutschte von Fortunio hinunter und landete bis zu den Oberschenkeln im Schnee.
„Mist“, schimpfte er und fauchte Fortunio an: „Du hättest mich ja auch warnen können!“
„47,19 Grad nördliche Länge, 11,30 östliche Breite!“, leierte Fortunio gelangweilt herunter und überging Felix Gemecker geflissentlich.
„Leider habe ich ausgerechnet heute meinen Schulatlas nicht dabei!“, bemerkte Felix sarkastisch und setzte hinzu: „Geht’s auch etwas einfacher? Ich meine, so dass es normal intelligente Menschen verstehen können!“
„Du hast aber schlechte Laune“, wunderte der Drache sich, „und das, obwohl du mir doch helfen darfst das Mädchen zu retten! Aber vielleicht hast du nur Hunger? Also, wenn mir der Magen knurrt, bin ich auch ziemlich schlecht drauf!“
Felix gab es auf.
„W-o s-i-n-d w-i-r?“, wiederholte er genervt seine Frage.
„Na, in Axamer Lizum, da verschwand doch das Mädchen! Genauer gesagt in Axam und noch genauer oberhalb des Sporthotels Lizumerhof.“ Fortunio legte seinen Kopf schräg und in seinen Augen blitzte der Schalk. „Diese Antwort fällt hoffentlich zu deiner Zufriedenheit aus!“, setzte er hoheitsvoll hinzu.
„Ja“, entgegnete Felix und musste sich nun doch das Lachen verbeißen, „das kommt der Sache schon näher! Außerdem kenne ich den Lizumerhof. Vor ein paar Jahren verbrachten wir hier ein paar Tage im Winter zum Skifahren. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass da so viel Schnee lag!“
„Na, dann kannst du mir bestimmt etwas über das Tal hier erzählen!“, fragte Fortunio, mehr um den Jungen von seiner schlechten Laune, die seine nassen Jeans auslösten, abzulenken, als um wirklich etwas Wissenswertes zu erfahren. Doch da hatte er sich natürlich in Felix getäuscht. Der Junge war ein wandelndes Lexikon.
„Natürlich!“, erläuterte Felix bereitwillig, „Das Gebiet südwestlich von Innsbruck, welches wieder herum im österreichischen Bundesland Tirol liegt, wird als Axamer Lizum bezeichnet. Eine ‚Lizum’ ist ein Almgebiet am Talschluss. Seit der Olympiade 1962 ist Axamer Lizum ein internationales Wintersportzentrum und der Olympiade hat das Tal auch seine Erschließung zu verdanken. Kannst Du Dir vorstellen, dass erst 1961 das Tal richtig erschlossen wurde, indem hier mit dem Straßenbau der Hoadlstrasse begonnen wurde. Das ist die Strasse, die direkt zur Olympiaskistation führt. Naja, für eine Drachen nebensächlich, aber für die Menschen ausgesprochen wichtig!
Es gibt hier sogar eine beleuchtete Rodelbahn, die bis nach Axam führt. Bist du schon einmal gerodelt?“
Fortunio sah Felix entsetzt an.
„Drachen rodeln nicht!“, erklärte er schließlich würdevoll, „Unsere bevorzugte Fortbewegungsart ist bekanntlich das Fliegen, notfalls, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, gehen wir auch einmal zur Fuß, alles andere passt nicht zu, wie sagt man heute – zu unserem Image!“
Felix prustete los und musste aufpassen, nicht vor lauter Lachen das Gleichgewicht zu verlieren und nochmals im tiefen Schnee zu landen. Gleich darauf erinnerte er sich jedoch an das Mädchen, welches immer noch irgendwo hier in diesem weitläufigen Gebiet darauf wartete, dass jemand es fand.
„Wo wollen wir mit der Suche beginnen?“, wechselte er deshalb rasch das Thema. „Und“, fügte er hinzu, „wenn sie verschüttet ist, wie sollen wir sie orten?“
Der Drache überlegte und Felix sah ihm schweigend zu, wie er im Tiefschnee ein paar Meter hin und dann wieder zurück lief. Dabei hinterließ er natürlich tiefe Spuren im Schnee und Felix fragte sich, was die Leute morgen wohl denken mochten, wenn sie die Drachenspuren entdeckten.
„Ich sehe zwar nachts ausgezeichnet, auch ist mein Geruchssinn außergewöhnlich gut ausgebildet, doch dürfte es sogar für einen Drachen schwierig sein, ein verschüttetes Kind zu finden. Aber, wie heißt doch bei euch ein Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Also, beginnen wir dort, wo sie verschwunden ist!“
„Aha“, stellte Felix lakonisch fest, „Und wo war das?“
„Naja“, der Drache scharrte verlegen mit den Füßen im Schnee, so dass es aussah, als ob hier jemand versuchte den Boden zu pflügen, „So genau weiß ich das jetzt auch nicht!“
„Hast du mir nicht einmal erklärt, dass die Glücksdrachen ständig herumflögen und nach in Not geratenen Leuten zu suchen? Warum wisst ihr dann nichts von dem Mädchen?“
Fortunio seufzte unglücklich.
„Wie bereits erwähnt, können wir erstens nicht allen helfen, zweitens wollen manche das auch gar nicht und drittens-!“ Er stockte und dachte kurz, aber angestrengt, nach. „Und drittens fällt mir jetzt gerade nicht ein!“, gab er zu und wedelte dabei so heftig mit den Flügeln, dass Schnee hoch wirbelte und Felix das Gefühl hatte in einem Schneegestöber zu stehen.
„Fortunio“, protestierte er und hielt schützend die Hände vor das Gesicht, „Hör sofort auf damit!“
„Oh“, entschuldigte sich Fortunio zerknirscht, als er Felix betrachtete, der nun wie ein Schneemann aussah, „Das wollte ich nicht! Tut mir leid!“
Der Junge schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Ja, schon gut!“, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, „Komm lass uns ins Dorf gehen!“
So stapften sie also los. Der Drache vorneweg, Felix hinterher! Schweigend liefen sie durch die mondhelle Nacht und hofften, keiner Menschenseele zu begegnen. Nicht weil sie fürchteten der Drache sorgte für Aufregung, sondern, weil Kinder oder Jugendliche (und Felix gehörte, auch wenn er das bisweilen anders sah, mit seinen 12 Jahren, einfach noch nicht zu den Erwachsenen) nach Mitternacht draußen nichts verloren hatten.
Beim Gehen konnte man ziemlich gut nachdenken, fand Felix, doch im Augenblick fiel ihm einfach nichts ein. Als sie an einer Informationstafel, die den Wintersportfreunden sämtliche Sessel- und Schlepplifte, sowie alle Pisten anzeigte, blieb er grübelnd davor stehen. Konzentriert betrachtete er die Tafel.
Fortunio, der zunächst weiter marschierte, kehrte um, als er nach einiger Zeit merkte, dass der Junge nicht mehr hinter ihm war.
„Kannst du nicht Bescheid sagen!“, brummte der Drache unfreundlich, doch mehr aus Sorge, als aus Ärger.
„Sorry“, murmelte Felix ganz in Gedanken.
„Kannst du überhaupt etwas erkennen?“, wollte Fortunio wissen, „Menschen können doch im Dunkeln nicht besonders gut sehen!“
Felix antwortete nicht, sondern fixierte weiterhin irgendeine Stelle auf der Info-Tafel. Der Drache blieb abwartend hinter dem Jungen stehen und störte ihn nicht.
„Jetzt weiß ich es wieder!“, rief Felix plötzlich und boxte Fortunio vor Freude in den Bauch, was diesen zwar überraschte, jedoch nicht wehtat.
„Beim Abendessen gestern-“, erklärte Felix, „-ach das ist nicht so wichtig! Auf jeden Fall erwähnte meine Mutter, dass ich als kleines Kind mal einen Skikurs machte und zwar eben an jener Stelle wo das Mädchen verschwand!“
„Und die findest du wieder?“, fragte der Drache skeptisch, der von dem menschlichen Erinnerungsvermögen nicht allzu viel hielt.
„Naja“, gab der Junge zu, „nicht genau, aber so ungefähr! Immerhin ein Anfang!“
„Stimmt! Na dann! Aufsteigen, wenn ich bitten darf! Zu Fuß sind wir zu langsam!“
Felix gehorchte und kletterte auf den Drachenrücken, ein anstrengendes Unterfangen, denn es gab keine Leiter oder etwas Ähnliches und so ein Drache ist ziemlich groß. Zu guter Letzt erhob sich Fortunio in die Luft und flog in die Richtung, die Felix ihm angab.
Schon kurze Zeit später landeten sie oben an der Skipiste.
„Sie stand hier und fuhr ins Tal ab, irgendwann ist sie dann verschwunden!“, dachte der Junge laut und kombinierte weiter, „wäre sie auf der Piste verunglückt, hätte man sie finden müssen, also muss sie aus irgendeinem Grund rechts oder links in den Wald gefahren sein!“
„Klingt logisch“, stimmte der Drache zu, „Auf welcher Seite suchen wir zuerst?“
„In ein paar Stunden wird es hell, allzu viel Zeit bleibt uns also nicht! Könntest du nicht erstmal über den Wald fliegen und nachsehen, ob zum Beispiel eine Lawine runter gegangen ist?“
Fortunio wackelte nachdenklich mit dem Kopf.
„Ich habe eine bessere Idee!“, verkündete er schließlich triumphierend! Im Wald ist meine normale Größe ziemlich hinderlich, also…“
„Also?“, wiederholte Felix neugierig.
„Klettere wieder auf meinen Rücken!“, befahl der Drache und Felix gehorchte.
„Es tut nicht weh! Du spürst höchstens ein leichtes Kribbeln und keine Angst, umgekehrt funktioniert es genauso gut!“
Bevor Felix Zeit hatte, über das so eben Gehörte nachzudenken, geschweige denn, Angst zu empfinden, schrumpfte der Drache auf Miniaturgröße- und mit ihm der Junge! So verkleinert, stellte es kein Problem mehr dar, zwischen den Bäumen herum zu fliegen und irgendwelche Auffälligkeiten zu suchen.
„Jetzt weiß ich“, rief Felix dem Drachen zu, „wie sich Nils Holgersson gefühlt haben muss?“
„Wer?“
„Na, du weißt schon!“, erklärte Felix, „Der Junge, der von einem Wichtelmännchen, als Strafe dafür, dass er immer so gemein zu den Tieren war, verzaubert wird, so dass er nur noch so groß ist, wie ein Wichtel! Später geht er dann mit den Wildgänsen auf Reise, erlebt viele Abendteuer und beweist, dass er doch kein so übler Kerl ist!“
„Kenne ich nicht! Wo lebt denn der Junge?“, erkundigte sich Fortunio interessiert.
„Aber den gibt es doch gar nicht!“, lachte Felix, „Das ist nur eine Geschichte von der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf! ‚Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen’ heißt das Buch genau!“
„Ach so!“, murmelte Fortunio etwas beleidigt, weil Felix immer noch vor sich hinkicherte.
„Sieh mal dort!“, unterbrach der Drache Felix’ Heiterkeitsausbruch.
Vor ihnen zog sich eine Schneise durch den Wald. Umgeknickte Bäume lagen auf dem Boden und es erweckte den Eindruck, als ob eine riesige Planierraupe einen Teil des Waldes eingeebnet hätte.
„Lawine?“, fragte Felix.
„Denke ich auch!“, bestätigte der Drache.
„Oh je!“ Verzweifelt betrachtete der Junge die, durch die Schneemassen angerichtete Verwüstung.
„Achte auf Erhebungen“, befahl Fortunio und flatterte langsam über die umgestürzten Bäume. Gespenstische Ruhe lag über dem Gebiet. Felix’ Armbanduhr zeigte halb vier Uhr und eigentlich müsste es im Wald stockfinster sein, denn düstere Wolken verdeckten inzwischen den Mond fast vollständig. Trotzdem konnte er jeden Baum, jeden Ast genau erkennen. Alles in unmittelbarer Nähe des Drachen leuchtete in sanftem Blau, welches Felix schon auf der Insel der Glücksdrachen aufgefallen war.
Kreuz und quer flogen sie durch den Wald, bis der Drache sanft auf einem Erdhaufen landete.
Fortunio sah an sich hinunter.
„Pah!“, meckerte er, „Alles dreckig! Ich brauche bestimmt ewig, bis ich wieder sauber bin!“
„Warum suchst du dir auch einen Dreckhaufen als Landeplatz?“, erkundigte sich Felix missbilligend.
„Weil“, knurrte der Drache ungehalten, „man nicht erkennen kann, ob der Schnee locker ist oder fest! Und ich keine Lust habe, im Schnee zu versinken!“
„Daran habe ich nicht gedacht!“, gab Felix zu. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, zischte Fortunio:
„Pst! Sei doch mal still!“
„Ich wollte doch nur“, versuchte es Felix noch einmal.
„Jetzt nicht!“, unterbrach der Drache ihn erneut, „Hörst du das nicht?“
Der Junge lauschte angestrengt in die Nacht, konnte jedoch beim besten Willen keine ungewöhnlichen Geräusche ausmachen.
„Ich höre nichts!“, verkündete er schließlich.
„Doch!“, widersprach Fortunio, „Das klingt wie-!“ Er überlegte kurz! „Miau! Ja genau! Eine Katze!“
„Eine Katze?“ Überrascht blickte Felix den Drachen an, doch der schien es wirklich ernst zu meinen.
„Ja“, seufzte Fortunio bedauernd, „leider nur eine Katze! Es sei denn das Mädchen würde miauen!“
„Das kann ich mir zwar auch nicht vorstellen, aber“, versuchte Felix zu trösten, „dann retten wir eben eine Katze! Die hat sich bestimmt verlaufen oder sitzt irgendwo fest! Also, aus welcher Richtung kommt denn das Miauen?“
Der Drache musterte ihn erstaunt.
„Du kannst das Geräusch wirklich nicht lokalisieren?“
„Nein! Um es lokalisieren zu können, müsste ich es erst einmal hören! Aber“, Felix lächelte, „wie Du mich ja bereits mehrmals darauf hingewiesen hast, sind die menschlichen Sinnesorgane den deinen weit unterlegen!“
„Von dort drüben!“
Der Drache deutete ein Stück den Hang hinunter. Felix bemühte sich dort etwas wahrzunehmen, doch vergeblich.
Schließlich nahm er wieder auf Fortunios Rücken Platz und sie hielten auf die Stelle zu, von welcher der Drache das Miauen hörte. Der Drache ließ sich abermals auf einem der abgeknickten Bäume nieder. Sogleich wuchsen Kind und Drache zu ihrer eigentlichen Größe. Es krachte und der Ast brach unter dem Gewicht des Drachens. Sie plumpsten zu Boden, erhoben sich prustend und schüttelten den Schnee ab.
Minutenlang verharrten sie und lauschten in die Nacht.
Nun vernahm auch Felix ein schwaches Maunzen und aufgeregt deutete er auf einen Schneehaufen.
„Da drunter, oder?“, rief er aufgeregt und begann sogleich mit den Händen den Schnee wegzuschaufeln.
Fortunio sah ihm eine Weile zu, dann schob er ihn energisch zur Seite, holte tief Luft, und spie vorsichtig Feuer in den Schnee, der sofort in sich zusammenfiel und schmolz. Ein kleines Rinnsal bahnte sich seinen Weg nach unten. Langsam kam die umgestürzte Wurzel einer mächtigen Tanne zum Vorschein. Wieder umgab den Drachen das angenehm, sanfte, blaue Licht und Felix stand einer dreifarbigen Katze gegenüber. Fauchend machte sie einen Katzenbuckel, das Fell gesträubt, und drückte sich ängstlich- an ein schlafendes Kind. Felix konnte nicht glauben, was er sah.
„Das vermisste Mädchen!“, jubelte er und drehte sich strahlend zu Fortunio um, doch die Stelle, an der der Drache eben noch stand, war leer. Verwundert schüttelte er den Kopf.
„Fortunio“, rief er halblaut in die Dunkelheit, doch statt des Drachens antwortete das Mädchen schläfrig.
„Ich heiße Meike!“
Der Junge wandte sich wieder der Baumwurzel zu.
„Hallo! Hörst du mich?“, fragte er, trat einen Schritt näher und rüttelte sie sanft an der Schulter, „Du musst aufstehen, wir gehen ins Tal.“
„Ich bin so müde!“, murmelte Meike, „Außerdem ist mir kalt und ich habe Hunger und Durst! Lass mich schlafen!“
„Das geht nicht!“, erklärte der Junge bestimmt und zog das Mädchen hoch. „Hier“, er nahm seinen Rucksack vom Rücken, „die Decke wird dich ein bisschen wärmen und fürs Erste musst du mit Keksen vorlieb nehmen! Hast du mich verstanden?“
Schläfrig nickte sie mit dem Kopf. Während Felix ihr die Decke um die Schultern wickelte, nahm sie zwei Kekse und begann daran zu knabbern.
„Geht’s?“, erkundigte sich Felix besorgt und fragte sich zum wiederholten Mal, wo in aller Welt Fortunio blieb.
Meike nickte und die Katze schmiegte sich angstvoll an die Beine des Mädchens. Felix beugte sich zu dem aufgeplusterten Fellknäuel hinunter und hielt ihr ein Brocken Keks hin. Vorsichtig schnupperte das Tier daran, dabei ließ sie den Jungen keine Sekunde aus den Augen. Doch der Hunger gewann und so kam sie näher, schnappte sich das Keksstück und schluckte es auf einmal hinunter.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte das Mädchen kauend.
„Oh“, erklärte Felix, während er die Katze weiter fütterte, „habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Ich bin Felix!“
„Freut mich Dich kennen zulernen Felix!“, bemerkte Meike, „Und wo kommst Du so plötzlich her?“
„Ich“, stotterte Felix nun etwas unsicher, beschloss jedoch bei der Wahrheit zu bleiben, „Mein Glücksdrache hat mich hergebracht. Wir suchen dich nun schon eine Zeit lang! Die Suchtrupps kommen hier ja nur schlecht hin! Die Maschinen sind zu schwer und Hubschrauber können nur bei gutem Wetter fliegen und die letzten Tage dürfte es hier wohl ununterbrochen geschneit haben!“
Meike nickte zustimmend. Sie schien sich überhaupt nicht zu wundern, im Gegenteil, neugierig reckte sie den Kopf.
„Und wo ist dein Glücksdrache?“
Bevor Felix sich eine Antwort zurecht legen konnte, denn er konnte ja noch nicht einmal sicher sein, dass sie den Drache sehen konnte, ertönte ein „Hier!“. Die Katze machte vor Schreck einen Satz in die Luft und verkroch sich blitzschnell unter der Decke des Mädchens, während Meike interessiert zur Seite blickte.
„Gestatten!“, stellte der Drache sich höflich vor, „Mein Name lautet Fortunio!“
Seine goldenen Augen leuchteten freundlich, trotzdem bewunderte Felix Meike. Anscheinend verspürte sie keinerlei Furcht vor dem riesigen Drachen und obwohl Felix Mädchen ganz allgemein doof fand, sie kicherten und alberten ihm zuviel und interessierten sich nie für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, so musste er Meike zugestehen, dass sie anders war. Kein bisschen ängstlich, das verdiente Respekt! Meike stand anfangs nur da und begutachtete den Drachen, dann wandte sie sich an wieder Felix zu.
„Und der gehört wirklich dir?“
Obwohl sich Felix geschmeichelt fühlte, sah er ein, dass er dieses Missverständnis aufklären musste.
„Ähm“, räusperte er sich deshalb verlegen, „eigentlich gehören Drachen niemandem. Sie kommen und gehen wie es ihnen gefällt!“
„Also nur geliehen sozusagen?“, hakte sie nach.
„Nein!“ Felix seufzte, solche Fragen konnte doch nur ein Mädchen stellen. „Verleihen kann ich ja auch nur etwas, was mir gehört!“
„Ach so!“, nickte Meike, „Fortunio ist also freiwillig bei dir, er könnte jedoch genauso gut bei mir bleiben, wenn er möchte! Jetzt habe ich es kapiert!“
„Na endlich!“, knurrte der Junge und betrachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Fortunio fand diese Unterhaltung überflüssig, andererseits amüsierte sie ihn. Er merkte allerdings, dass Felix sich ärgerte und beschloss deshalb einzugreifen.
„Wenn ihr fertig seid, könnten wir eventuell endlich daran denken Meike zurück zubringen? Langsam wird die Zeit knapp! Wenn deine Eltern keine Suchaktion starten sollen Felix, müsstest du spätestens in zwei oder drei Stunden im Bett liegen! Am besten laufen wir ein Stück, so dass wir den Waldrand erreichen!“
Felix blickte auf seine Armbanduhr und erschrak. Schon fast sechs! Außerdem begannen viele Einwohner sicher schon bald mit ihrer Arbeit. Dann würde es für Fortunio gefährlich, wenn nicht sogar unmöglich die Kinder fliegend heimzubringen, denn mit den Kindern auf dem Rücken waren sie für jedermann sichtbar. Die meisten Menschen die zufällig gerade dann in den Himmel blickten, wenn sich ein Drache dort zeigte, trauten Gott-sei-Dank ihren Augen nicht, und einmal Blinzeln reichte dem Drachen schon aus, um aus ihrem Blickfeld zu entschwinden.
Eine Frage musste er dem Mädchen jedoch noch stellen.
„Wie bist du überhaupt hier her gekommen? Du solltest doch einfach nur den Skihang hinunter fahren?“
„Na, wegen der Katze!“
Anscheinend ging sie davon aus, dass das als Erklärung genügte. Felix verstand jedoch gar nichts.
„Und das soll heißen?“, erkundigte er sich gereizt.
„Minka“, begann sie.
„Minka?“, fiel Felix ihr erstaunt ins Wort.
Meike verdrehte die Augen, blieb jedoch höflich.
„Minka, die Katze!“, fuhr sie ihre Ausführung selenruhig fort, „Schließlich musste ich ihr doch einen Namen geben! Minka ist so gut wie jeder andere! Also, Minka lief quer über die Skipiste. Ziemlich gefährlich! Ich wollte sie fangen und mit nach unten nehmen. Sie hatte sich doch bestimmt verirrt! Leider lief sie in den Wald! Da bin ich ihr dann hinterher und dann ging die Lawine ab. Ich wusste zuerst gar nicht, was der Lärm bedeutete, aber Minka schon! Sie verkroch sich unter der Baumwurzel! Ich folgte ihrem Beispiel und hoffte, dass irgendjemand kommt und uns rettet. Tja, ich hatte recht!“
Nachdenklich schaute Felix das Mädchen an. Braune Flecken zierten ihre ehemals weiße Schneehose und ein Ärmel ihres Anoraks hatte einen langen Riss. Ihr silberner Skihelm lag achtlos im Schnee und unter der schwarzen Skimütze lugten blonde Locken hervor, die durch die Kälte bereits Reif angesetzt hatten und nun widerspenstig in alle Richtungen abstanden. Trotzdem musste Felix sich eingestehen, dass sie ganz nett aussah. Er grinste vor sich hin und überlegte gerade, was seine Cousine wohl davon hielt, wenn er sie ‚nett’ fand! Die würde ihm wahrscheinlich die Augen auskratzen, auf alle Fälle jedoch wortreich fertig machen. Nicht, dass ihm das groß etwas ausmachen würde, es gab keine bessere Schule, um zu lernen sich gegen Verbalattacken zu wehren.
„Na, was ist?“, brummte Fortunio ungeduldig und unterbrach Felix’ Gedanken, „Seid Ihr fest gefroren oder klettert Ihr jetzt endlich auf meinen Rücken?“
Die beiden nickten und Felix machte eine Handbewegung, um Meike den Vortritt zu lassen.
„Oh“, lächelte sie, „ein Kavalier!“
Felix spürte wie er errötete. Wie peinlich, dachte er, dabei wollte er eigentlich gar nicht höflich sein, sondern nur sehen, wie sie sich abmühte auf den Drachenrücken hinaufzuklettern. Doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass sie wesentlich flinker als er den Rücken erklomm. Sportlich war sie also auch noch! Wie ärgerlich, dabei hätte er ihr zu gerne ganz lässig die Hand gereicht, um sie empor zu ziehen.
Meike setzte sich hin und drehte sich zu ihm um.
„So richtig?“, fragte sie lächelnd, „oder soll ich weiter nach vorne rutschen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, das passt so! Halt dich nur gut fest!“
Meike nickte, dann fiel ihr noch etwas ein.
„Ich muss aber doch Minka festhalten, da habe ich keine Hand mehr frei!“
„Du willst sie mitnehmen?“ Felix konnte es nicht fassen.
„Natürlich!“, verkündete sie so bestimmt, dass Felix wusste, er konnte sich jedes Argument sparen, da sie ohnehin nicht nachgeben würde. Sie schmiegte ihre Wange an das weiche Katzenfell und wartete.
Er seufzte, holte seinen Rucksack und mit vereinten Kräften schafften sie es das Tier hinein zu stecken. Ein schwieriges Unterfangen, und sie kamen gehörig ins Schwitzen, da die Katze sich wehrte, indem sie zu kratzen und beißen versuchte. Felix setzte den Rucksack wieder auf und es konnte endlich losgehen.
„Na endlich“, knurrte der Drache ungehalten, verlor jedoch keine weitere Zeit mit Vorhaltungen, sondern erhob sich in die Luft und flog in Richtung Tal. Es begann zu schneien, was den Kinder zwar die Sicht nahm, den Drachen jedoch nicht zu beeinträchtigen schien und die Gefahr verringerte bemerkt zu werden. Fortunio landete sanft oberhalb der ersten Häuser.
„Weißt du in welchem Hotel Deine Eltern wohnen?“, erkundigte er sich.
„Natürlich!“, entgegnete Meike beleidigt, „Ich bin zwar blond, aber nicht blöd!“
„Du bringst sie bis zum Hotel!“, befahl er Felix, „dann kommst du wieder zurück! Und beeil dich! Die Zeit drängt!“
Felix nickte, rutschte vom Drachenrücken hinunter und reichte dem Mädchen die Hand, als dieses mit einem kleinen Sprung den Boden erreichte.
So rasch der hohe Schnee es zuließ, liefen sie in Richtung Hotel und als der Eingang in Sichtweite kam, hielt er Meike am Arm fest.
„Warte!“, bat er, „Ich gebe dir Minka und verabschiede mich schon hier! Ich habe keine Zeit, um lange Fragen zu beantworten! Ich muss nach Hause!“
Er stellte den Rucksack auf den Boden und öffnete ihn langsam. Ein drohendes Knurren empfing ihn und er trat respektvoll einen Schritt zurück. Meike kniete sich nieder und mit einem Griff hatte sie die zappelnde Katze am Genick und zog sie heraus. Vorsichtig setzte sie das fauchende Tier auf den Boden. Seltsamerweise blieb die Katze neben dem Mädchen stehen, miaute ein paar Mal vorwurfsvoll und begann sich ausgiebig zu putzen.
„Sie macht sich schön, bevor sie wieder unter Leute geht!“, lachte Meike, dann umarmte sie Felix und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Danke! Und komm’ gut nach Hause!“
Sie drehte sich um, ging ein paar Schritte auf das Gebäude zu, kam jedoch noch einmal zurück.
„Hast du einen Stift?“
Felix kramte verwirrt in seinem Rucksack und reichte ihr einen Kugelschreiber.
Sie nahm seinen Arm, schob seinen Ärmel ein Stück nach oben und schrieb einige Zahlen darauf.
„Meine Handynummer!“, erklärte sie verlegen, „Vielleicht hast du ja Lust mich einmal anzurufen, damit ich weiß, dass du gut gelandet bist!“
Bevor er etwas entgegnen konnte, drückte sie ihm den Stift in die Hand und eilte davon, die Katze dicht hinter ihr.
Felix starrte ihr noch einen Augenblick nach, dann wandte er sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Er musste nicht weit laufen, denn Fortunio wartete bereits auf ihn.
„Hübsches Mädchen!“, grinste der Drache.
„So? Ist mir gar nicht aufgefallen!“, murmelte Felix verlegen und wechselte schnell das Thema, „Können wir jetzt zurückfliegen? Ich bin hundemüde!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kletterte der Junge auf den Drachen, krallte sich fest und schmiegte sich eng an den Drachenkörper. So konnte der Schnee ihm fast nichts anhaben.
Wie immer landete Fortunio geräuschlos auf dem Balkon und ließ Felix absteigen.
„Hat mich gefreut, dich wiederzusehen!“, murmelte er müde, strich dem Drachen schnell über den Flügel und öffnete leise die Balkontüre.
„Die Freude war ganz auf meiner Seite!“, entgegnete Fortunio gerührt, wartete bis sein Freund im Bett lag, erhob sich leise in die Luft und flog dem anbrechenden Tag entgegen.