Christa Reuch
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Kapitel 9: Die Schatzsuche Teil III
Felix verbarg sich hinter einer der Felsensäulen und beobachtete kurz die Flugschau, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Ungeheuer zu. Dieses schien verwirrt, entschied sich aber dafür dem Glücksdrachen hinterher zu jagen. Felix atmete auf und spurtete los. Völlig außer Atem erreichte er den hinteren Teil der Höhle.
Eine schmale Steintreppe führte weiter nach unten. Er überlegte kurz und folgte schließlich vorsichtig den Stufen. Ob die Stufen einen natürlichen Ursprung hatten, überlegte Felix, oder doch von Menschen geschaffen? Das bedeutete jedoch, dass irgendjemand dieses unterirdische Höhlenlabyrinth kannte. Die Treppe führte in einen Stollen, rechts und links stützten Holzbalken das Gestein, und bestätigten somit seine Theorie von menschlicher Erschaffung. Allerdings schien dieses Bergwerk, so denn es eines gewesen war, schon längst nicht mehr in Betrieb zu sein. Auch fehlten jegliche elektrische Leitungen! Wieder herum ein Punkt, der gegen eine aktuelle Nutzung des Stollens sprach. Felix entzündete abermals eine der Fackeln, um die Batterien seiner Taschenlampe zu schonen und hetzte dann möglichst leise weiter. Im Gegensatz zu oben, konnte man hier eine Stecknadel fallen hören.
Ich müsste mal dringend daheim anrufen, durchfuhr es ihn plötzlich, meine Eltern machten sich bestimmt schreckliche Sorgen, wenn er abends nicht erschien. Er zog sein iPhone aus der Hosentasche, doch natürlich gab es hier unten keinen Empfang. „Fortunio hat recht!“, brummte er, „Da nützen die tollsten Apps natürlich nichts!“
Der Stollen wurde breiter und plötzlich versperrte ein Graben den Weg.
„Na toll!“, schimpfte Felix. Er schätzte die Entfernung auf ungefähr vier Meter. Theoretisch könnte er drüber springen, aber nicht mit Rucksack. Und was, wenn er sich irrte und der Spalt doch breiter wäre? Minutenlang stand er am Rand und starrte in die Finsternis des Spaltes. „Denk nach Felix!“, befahl er sich, doch es wollte ihm nichts einfallen. Keine zündende Idee, kein noch so kleiner Geistesblitz durchzuckte ihn und brachte ihn ein Stück näher ans Ziel.
Frustriert stellte er den Rucksack ab und fixierte ihn wütend. Da hatten sie es so weit geschafft und nun stand er hier, mit einem Rucksack voller nutzloser Dinge und wusste nicht weiter. Sein Magen knurrte. Na wenigstens dagegen konnte er etwas tun. Er öffnete den Rucksack und wühlte darin herum. Plötzlich stutzte er. Das Seil! Natürlich! Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Er hatte mit seinem Vater letztes Jahr einen Kletterkurs gemacht. Eine besondere Begabung dafür hatte sein Vater nicht, doch er wollte unbedingt so ein Vater-Sohn-Ding durchziehen. Eltern kamen ja auf die absonderlichsten Ideen, wenn es um ihren Nachwuchs ging. Um ihn nicht zu enttäuschen machte Felix mit, doch genau dies kam ihm jetzt hoffentlich zu gute. Er befestigte das Seil an einem der Stützbalken, prüfte nochmals den Knoten, dann begann er mit dem Abstieg. Und wenn das Seil nicht reichte oder das Holz des Balkens sich als morsch erwies?
Positiv denken, befahl er sich und kletterte langsam in die Tiefe. Seine Taschenlampe hing eingeschaltet an seinem Gürtel. Sie erhellte die Umgebung zwar nur unzureichend, aber immerhin! Er hatte Glück. Das Seil reichte! Neugierig richtete er den Strahl der Lampe auf seine Umgebung. Wieder einmal gingen zwei Gänge von hier ab. Welchen sollte er nehmen? Hör auf Dein Herz, erinnerte er sich an die Worte aus dem Drachenbuch und wählte darum den linken.
Felix wünschte sich den Glücksdrachen an seine Seite. Tapfer lief er die leicht bergab führende, felsige Röhre weiter. Wasser tropfte von der Decke und lief an den Wänden herunter. Unten sammelte es sich in feinen Rinnsalen und verwandelte den steinigen Untergrund in eine Rutschbahn. Der glitschige Boden nötigte ihn dazu noch langsamer zu gehen. Doch mit einem Mal zog es ihm die Füße weg, er verlor den Halt, landete auf dem Po und kam sich vor wie im Rutschenparadies der Erdinger Therme, nur, dass er keine Badehose trug und der Untergrund ziemlich uneben war. „Oooooooh! Neiiiin!“, rief Felix, als er unaufhörlich nach unten segelte. „Fortunioooooo!“ Jetzt hätte er den Glücksdrachen bitter nötig.
„Autsch!“ Plötzlich war die Rutschpartie zu Ende und er plumpste unsanft in eine Pfütze. „Na prima! Ich bin patschnass!“, schimpfte er, „Morgen habe ich bestimmt eine Lungenentzündung! Super! Und wo ist jetzt dieser blöde Ring?“
„Hast du dir weh getan?“
Felix fuhr herum. „Du tauchst ja reichlich spät auf!“, schnauzte er Fortunio an, ohne auf dessen Frage einzugehen. „Ich hätte mich ernstlich verletzten können oder vielleicht sogar sterben!“, maulte er weiter und wusste selbst, dass er maßlos übertrieb.
Der Glücksdrache schüttelte den mächtigen Kopf. „Wenn du wirklich in Gefahr gewesen wärst, so hätte ich das gespürt!“, versicherte er, „Davon abgesehen, musste ich ja schließlich etwas erledigen und habe nicht zum Spaß herum getrödelt!“
„Ja, ja!“, lenkte Felix ein, „Dann lass uns jetzt den Ring holen und verschwinden.“
Der Glücksdrache nickte und gemeinsam sahen sie sich um.
Das Wasser, das Felix zuvor zu der unfreiwilligen Rutschpartie verholfen hatte, sammelte sich in einem Bach. Die beiden beschlossen, dem Verlauf des Wassers zu folgen. Vorsichtig, um nicht noch einmal auf die Nase zu fliegen, setzte der Junge einen Fuß vor den anderen.
„Jetzt komm schon!“, nörgelte der Glücksdrache, der einige Meter vor ihm herflatterte.
„Der Untergrund ist hier glitschig! Ich habe keine Lust nochmals hinzufallen!“, erklärte Felix patzig, beschleunigte jedoch seine Schritte etwas.
„Bemerkst du das auch?“, fragte Felix nach einiger Zeit.
„Es wird heller!“, nickte der Drache.
Kurz darauf kamen sie in eine weitere Höhle. Nicht so beeindruckend wie die zuvor, dafür jedoch erleuchtet wie ein Ballsaal.
„Wir sind am Ziel!“, erklärte der Junge bestimmt.
„Sicher?“, fragte Fortunio, obwohl er die Antwort bereits wusste.
„Ganz sicher! Jetzt müssen wir nur noch den Ring finden!“
„So, so!“, krächzte da eine Stimme, „Ihr wollt also den Drachenring holen!“
„Ganz genau!“, entgegnete Felix, nachdem er sich von dem Schrecken erholt hatte, „Wir sind schon ziemlich lange unterwegs, ich habe Hunger und bin müde. Du könntest uns eine Menge Ärger ersparen, wenn du ihn uns einfach aushändigst!“
Er konnte nicht erkennen mit wem er sprach, denn das Wesen hielt sich im Schatten auf, so dass er nur die glühenden Augen und die Konturen wahrnahm, die sich jedoch ständig zu verändern schienen. „Bist du ein Drache?“, platzte er neugierig heraus.
„Eines muss man deinem jungen Menschenfreund lassen! Er scheint keine Angst zu haben! Allerdings habt ihr euch ganz schön Zeit gelassen. Ich habe bereits viel früher mit eurem Erscheinen gerechnet!“
„Du wusstest, dass ich mit Fortunio komme und den Drachenring holen würde?“, fragte der Junge verblüfft.
„So ungefähr! Dass die Glücksdrachen Fortunio schicken würden, nahm ich als selbstverständlich an. Genau wie die Tatsache, dass er nur einen jungen Mensch überreden konnte, ihm zu helfen!“
Kompliment oder Beleidigung oder einfach nur eine Tatsache? Da er dies nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, beschloss Felix, die letzte Bemerkung unkommentiert zu lassen.
„Bekommen wir nun den Ring?“, hakte Felix stattdessen nach.
„Ganz schön hartnäckig! Gefällt mir!“ Es entstand eine Pause, in der niemand etwas sagte. „Gut, ihr könnt ihn haben!“
Ein leises „Pling“ ertönte, als der Ring zu Boden fiel und auf sie zurollte. Er beschrieb einige immer kleiner werdende Kreise und kam mit einem weiteren „Pling“ kurz vor ihnen zum Stehen.
„Einfach so?“, wollte Felix wissen und misstrauisch beäugten sie das Ziel ihrer Schatzsuche, welches nun ruhig auf dem felsigen Boden lag. „Wo ist der Haken?“
„Kein Haken! Naja – nur eine Kleinigkeit!“
Felix und Fortunio sahen sich an. „Und die wäre?“, fragten die beiden wie im Chor.
„Wenn ihr es aus dem Höhlenlabyrinth bis an die Oberfläche schafft, dann gehört der Ring euch!“
„Das ist alles?“ Felix’ Miene drückte Verblüffung aus.
„Das ist alles!“, bestätigte das Wesen und seine Stimme erinnerte den Jungen an eine quietschende Türe. Vorsichtig hob er den goldenen Gegenstand auf und streckte ihn dem Glücksdrachen hin. Der nahm ihn behutsam und sofort leuchtete der Ring in schwachem Blau.
„Wow!“ Beeindruckt begutachtete Felix das Schmuckstück. Recht gewöhnlich, dachte er, denn abgesehen von dem blauen Licht, sah es aus der Nähe eher aus wie ein einfacher Siegelring. „Ist der Drachenring eigentlich der ganze Schatz?“, erkundigte er sich noch rasch.
„Selbstverständlich nicht, falls du Gold, Silber und Edelsteine meinst!“, erklärte der Hüter des Schatzes, wobei er in Felix Augen dieser Aufgabe nicht besonders gut nachkam, wenn er ihn einfach so weggab. „Dies besitzen wir zu Hauf. Da die Bewohner hier selbst nicht strahlen und auch so gut wie nie das Tageslicht erblicken, lieben sie das Glitzern und Funkeln. Aber wertvoller als alles andere ist der Drachenring!“
Nachdenklich starrte der Junge in Richtung des Wesens. Warum sollte jemand etwas anscheinend so Wertvolles einfach so hergeben? Da stimmte doch etwas nicht!
„Wir können jetzt gehen?“, versicherte er sich noch einmal.
„Falls du hier heraus findest, darfst du den Ring behalten! Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass ein Mensch den Ring tragen muss. Seine magischen Kräfte darfst du allerdings nicht benutzen! Legst du ihn ab, bist du dazu bestimmt mir zu dienen!“
„Wie viele haben es denn bereits erfolglos versucht?“, erkundigte sich Felix, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob er es wirklich wissen wollte.
„Deren Zahl wächst stetig!“
Na toll! „Wir sollten uns dann mal auf den Rückweg machen!“, meinte Felix zu Fortunio.
Der Glücksdrache nickte und übergab dem Jungen den Drachenring. „Verwahre ihn gut!“ Felix steckte das Kleinod in die Hosentasche und sie verließen die Höhle.
„Gehab dich wohl!“, rief Felix dem Wesen zu, von dem nur die beiden rot glühenden Augen seine Anwesenheit verrieten.
Kaum kehrten sie in den Gang zurück, der sie hergeführt hatte, ertönte hinter ihnen ein lautes Rumpeln und Krachen. Der Junge drehte sich erschrocken um, um gerade noch mit anzusehen, wie ein mächtiger Felsbrocken den Höhleneingang verschloss.
„Hast du das gesehen?“
Eine rein rhetorische Frage. Fortunio stupste den Jungen an.
„Wir sollten hier schleunigst verschwinden!“
„Schleunigst!“, wiederholte Felix nickend und mit einem letzten Blick auf den sich langsam, aber stetig nähernden Felsbrocken wandte er sich ab. Der Glücksdrache, nun wieder auf Spatzengröße geschrumpft, flatterte vor Felix her und trieb den Jungen zur Eile an.
„Schneller!“, rief er ein ums andere Mal.
„Du hast leicht reden!“, schnaufte Felix verärgert, „Wenn ich fliegen könnte...!“
„Kannst du aber nicht!“, entgegnete Fortunio knapp, „Und meine Kräfte wirken hier unten nicht so!“
Felix blieb keuchend stehen. „Was bedeutet das genau?“, erkundigte er sich, bemüht seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen.
„Du musst aus eigener Kraft hier herauskommen!“
„Na toll!“
„Selbstverständlich helfe ich dir, aber verkleinern geht zum Beispiel nicht!“
„Oh, na dann!“, entgegnete Felix sarkastisch, „Großartig! Wir haben diesen dämlichen Ring gefunden, wenn ich das jemandem erzählen würde, wäre ich ein Held, vorausgesetzt die Story glaubt jemand. Nur schade, dass es niemand erfahren wird, weil es keinen Ausweg gibt und wir diesem, diesem verdammten Unwesen bis in alle Ewigkeit Gesellschaft leisten werden!“
„He“, entrüstete sich der Glücksdrache, „woher dieser plötzliche Pessimismus? Es gibt immer eine Chance!“
„Na klar!“ Resigniert malte Felix mit seiner Schuhspitze Kreise in den sandigen Boden. Sofort füllte sich die kleine Mulde mit Wasser und ein dünnes Rinnsal floss in Richtung der sich unaufhaltsam nähernden Gefahr. Stirnrunzelnd verfolgte der Junge den Lauf des Wassers. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Es geht bergauf!“, rief er enthusiastisch, „Nur ganz leicht, aber doch bergauf!“
„Aha!“ Fortunio hatte keine Ahnung worauf Felix hinaus wollte.
„Dinge rollen immer bergab, nur mit viel Schwung schaffen sie es hinauf!“, erklärte der Junge ungeduldig und unterstrich seine Worte mit Gesten, „Der Gang ist eng, die steinerne Kugel bleibt ständig hängen und verlangsamt dadurch ihr Tempo. Nicht lange, sie wird zum Stillstand kommen und in die entgegensetzte Richtung rollen!“
„Na dann!“ Vergnügt flatterte der Glücksdrache weiter und Felix bemühte sich mit ihm Schritt zu halten. Sie eilten weiter und kurze Zeit später vernahmen sie ein fürchterliches Krachen.
„Kaputt!“, grinste Fortunio und ließ sich zufrieden auf Felix’ Schulter nieder. Erleichtert marschierten sie den nun immer steiler werdenden Gang weiter. Hin und wieder nahm der Junge aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, doch ging sein Blick starr geradeaus. Er wollte lieber nicht so genau wissen, welche Wesen sie beobachteten. Oder bildete er sich das nur ein? Wahrscheinlich sah er schon Gespenster!
„Achtung!“, rief der Glücksdrache auf einmal und riss Felix aus seinen Gedanken. Er blieb stehen, was anderes blieb ihm auch gar nicht übrig, denn seine Schuhsohlen standen auf irgendetwas fürchterlich Klebrigem. Jemand hatte hier Leim ausgekippt!
„Iiihgitt! Was ist das denn?“ Der Junge schaute den Drachen hilfesuchend an.
Fortunio wies mit einer Kopfbewegung nach vorne. Felix leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Gang und kniff die Augen zusammen. Er glaubte zu träumen. „Das ist“, stammelte er, „das ist eine Schnecke!“ Allerdings eine ziemlich große Schnecke. „Eine Afrikanische Riesenschnecke?“, fragte er.
„Eine was?“
„Afrikanische Riesenschnecke! Das Gehäuse dieser Tiere kann bis zu 20 Zentimetern groß werden!!
„Wir sind hier aber nicht in Afrika!“
„Stimmt“, bestätigte Felix, „aber die Schnecke wurde in alle möglichen Länder eingeschleppt! Die Menschen versuchen sie dort wieder auszurotten!“
„Aha!“, entgegnete der Drache, „Warum?“
„Vor allem in Florida bekämpfen die Menschen die Riesenschnecke, weil sie eine besondere Form der Hirnhautentzündung überträgt. Allerdings leben die Viecher bis zu neun Jahren und legen bis zu 1200 Eier pro Jahr! Außerdem sind sie äußerst gefräßig. Nicht nur Garten - und Nutzpflanzen, sondern auch Kalkstein und sogar Autoreifen! Stand mal irgendwann ein Artikel im Spiegel!“ Er zuckte mit den Schultern, als ob er sich für sein Wissen entschuldigen wollte.
„Seit wann stehen in einem Spiegel Artikel?“, wollte Fortunio wissen.
„Der Spiegel“, erklärte Felix grinsend, „ist eine deutsche Zeitung, ein Nachrichtenmagazin!“ Er wandte sich wieder dem Tier zu. Seiner Schätzung nach hatte das Schneckenhaus bestimmt 30cm Durchmesser und eine ähnliche Färbung wie seine Umgebung. Bestens getarnt, dachte Felix und ließ den Lichtkegel seiner Funzel langsam von der Schnecke zu seinen Füßen wandern. Und nun wusste er auch, was ihn festhielt: Schneckenschleim!
Vorsichtig hob er den rechten Fuß. Nur unter größter Anstrengung schaffte er es ihn einige Zentimeter zu heben. Doch das eklige Zeug haftete wie Sekundenkleber und gab seine Beute nicht frei. „Pfui Teufel!“, schimpfte er, zog sein Taschenmesser aus der Jacke und versuchte die zähen Schleimfäden abzuschneiden. Ein mühsames Unterfangen, funktionierte jedoch. „Geschafft!“, jubelte er, als er den ersten Fuß frei bekam.
„Felix!“, zischte Fortunio, und stupste den Jungen unsanft an, so dass der fast das Gleichgewicht verloren hätte und gerade noch verhindern konnte, den Fuß wieder auf den Boden zu setzen.
„He!“, protestierte Felix erbost, „Was soll das?“
Doch statt einer Antwort, starrte der Drache einfach nur in Richtung Schnecke.
Felix folgte dem Blick. „Wow! Krass!“, entfuhr es ihm unwillkürlich, denn die Schnecke schien zu wachsen. „Jetzt scheint sie eher ein Bellerophon zu sein! Das ist ein“, wollte er erklärend hinzufügen, doch Fortunio winkte ab. „Das ist eine urtümliche Schnecke, allerdings schon ausgestorben, lebte vor 500 bis 250 Millionen Jahren! Findet man nur noch als Fossil!“
„Richtig!“ Felix warf dem Drachen einen bewundernden Blick zu.
„Nicht der Rede wert!“, entgegnete Fortunio wie beiläufig, doch Felix sah ihm an, dass de Drache vor Stolz fast platzte, „Auch wir Glücksdrachen haben ein ziemlich breit gefächertes Wissen!“
„Dann kannst du mir bestimmt erklären, was dieses Monstrum hier macht, wo sie doch eigentlich bereits ausgestorben ist!“
„Ähm!“ Verlegen kratzte sich Fortunio mit dem Flügel hinter dem Kopf, doch dann hellte sich seine betrübte Miene schlagartig auf, „Genau genommen bist du dran schuld!“
„Aha! Und an was soll ich schuld sein?“
„Na, jedesmal, wenn du einen dieser Schleimfäden durchgeschnitten hast, wuchs die Schnecke ein Stück!“
„Im Ernst?“
Fortunio nickte.
„Das bedeutet, dass sie noch größer wird, wenn ich den zweiten Schuh ebenfalls von dem Glibberzeug befreie!“
„So wird es sein!“
„Ob sie uns versteht?“
„Keine Ahnung!“ Der Drache flatterte vorsichtshalber wieder einmal auf Felix’ Schulter, denn natürlich würde der Junge das Tier ansprechen. Da wandte sich Felix auch schon an die Schnecke.
„Hallo!“, rief er und richtete den Strahl seiner Taschenlampe erneut auf das Bellerophon. Auch wenn der Lichtkegel die Umgebung nur unzureichend erhellte, fühlte sich das Tier sichtlich unwohl und zog sich langsam in sein Schneckenhaus zurück.
„Waaas wiiillst duuu?“ Das Urzeitgeschöpf hatte seine Sprechweise an seine behäbigen Bewegungen angeglichen. Die Stimme erinnerte Felix entfernt an Darth Vader aus Krieg der Sterne.
„Ich möchte vorbei!“
„Sooo sooo!“ Im Zeitlupentempo kam der Körper des Bellerophons wieder zum Vorschein und es senkte seinen Kopf in Richtung der beiden Eindringlinge. „Waaas beeekooommeee iiich daaafüüür?“
Fieberhaft überlegte Felix, dann zog er die Rolle Alufolie aus seinem Rucksack und begann sie zu falten und zu drehen.
„Was wird das?“, zischte Fortunio, „Origami zur Beruhigung, oder wie?“
„Blödsinn“, wisperte der Junge und setzte seine Basteltätigkeit ungerührt fort.
„Was soll das werden?“, hakte der Glücksdrache nach und seine Stimme schwankte zwischen Verärgerung und Belustigung, „Eine Schlange?“
„So ähnlich“, grinste Felix schelmisch, legte die Enden der Aluminiumschlange aufeinander und verdrehte sie einige Male, so dass sie sich fürs Erste nicht lösen würden. „Fertig!“
Felix wandte sich an das Bellerophon und hielt sein Kunstwerk am gestreckten Arm in Richtung des Urzeittieres. „Wenn du den Weg freimachst und mir verrätst, wie ich meinen Fuß frei bekommen - bekommst du dafür diese wunderbar glitzernde Kette von uns!“ Er ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über das silberne Gebilde wandern.
„Oooooh“, hauchte die Riesenschnecke, gänzlich in ihrer, ohnehin kaum wahrnehmbaren, Bewegung verharrend. Nach einer Weile, sicherlich nur einige Minuten, doch Felix kam es entsetzlich lange vor, schickte das Tier ein „wiiirklich füüür miiich“ hinterher.
„Ganz allein für dich!“, bestätigte Felix und ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund.
Das Bellerophon erinnerte ihn ein wenig an Jakob, einen Nachbarsjungen. Hin und wieder, wenn ihn furchtbare Langeweile quälte, spielte Felix mit dem Zweijährigen und der Kleine freute sich wie ein Schneekönig, wenn der Ältere Sandkuchen formte und mit Steinchen, kleinen Zweigen oder Blütenblättern verzierte.
»Wenn ich meinen linken Fuß bewegen könnte, würde ich es dir umhängen«, erklärte der Junge.
»Duuu muuusst nuuur deiiinen Fuuuß beeeweeegen!«
Felix runzelte die Stirn. Was war denn das jetzt wieder für ein Ratschlag? Plötzlich fiel es ihm ein. Na klar! »Thixotropie!«, rief er und klatschte kurz in die Hände.
»Hä?« Der Glücksdrache betrachte den Jungen besorgt und überlegte sich gerade eine freundliche Umschreibung für »Hast du den Verstand verloren«, da wandte sich Felix zu ihm um.
»Der Ketchupeffekt«, erklärte er geduldig. Da Fortunio ihn weiterhin verständnislos anblickte, fühlte er sich verpflichtet, es genauer zu erläutern: »Eine Ketchupflasche kennst du«, fragte er deshalb zunächst.
Der Drache nickte eifrig. »Das rote Zeug, das sich vor allem Kinder auf alle möglichen Speisen schütten.«
»Genau! Hält man eine Ketchupflasche mit der Öffnung nach unten, passiert nichts. Gar nichts! Erst, wenn man die Flasche schüttelt, beginnt das Ketchup langsam zu fließen. Diesen Effekt, den man zum Beispiel auch bei Treibsand findet, nennt man Thixotropie! Und mit Schneckenschleim scheint es wohl genauso zu funktionieren. Ich muss also nur meinen Fuß leicht bewegen, und-« Felix setzte seine Worte sofort in die Tat um, und siehe da, der zähe Stoff unter seinem Turnschuh begann sich zu verflüssigen.
»Igitt«, sagte der Drache, als Felix auf der Fäden ziehenden Glibbermasse langsam vorwärts bewegte.
»Besser, als hier ewig festzuhängen!« Zügig ging er auf das Bellerophon zu und hängte ihm das Schmuckstück um. Zentimeter um Zentimeter gab das Urzeittier den Weg frei - das Wort »Schneckentempo« bekam plötzlich einen sehr realistischen Hintergrund, fand Felix. Während er darauf wartete, weitergehen zu können, betrachtete er die Riesenschnecke ausgiebig. Was von Weitem wie ein gewöhnliches Schneckenhaus ausgesehen hatte, war, aus der Nähe betrachtet, ein wahres Wunderwerk der Natur: ein Mosaik aus den verschiedensten Formen und Farben, in vollkommener Harmonie zusammengewebt, gleich einem der alten Gobelinteppiche, die er in irgendeiner Ausstellung begutachtet hatte, in die ihn seine Großmutter mitschleppte. Zugegebenermaßen interessierte ihn das damals nicht besonders und lediglich seiner Oma zuliebe, ging er mit. Doch nun erinnerte er sich wieder daran, und musste der Natur zugestehen, wesentlich filigranerer Muster zu schaffen, als das Menschen je vermochten.
»He«, riss der Glücksdrache ihn aus seinen Überlegungen, »wir können vorbei!«
Felix bedankte sich noch einmal höflich bei dem Bellerophon, dann gingen sie weiter.
Kurz bevor sie das Tier aus den Augen verloren, drehte er sich noch einmal um. »Hast du auch einen Namen?«
»Daaalmaaa!«
»Ungewöhnlich, aber schön! Dann mach’s gut, Dalma!«
Der Gang wurde zusehends steiler und rutschiger und der Junge hatte Mühe vorwärtszukommen. Zwei Schritte voran und drei Schritte zurück. Felix blieb schnaufend stehen.
»So wird das nie was!« Resigniert starrte er auf den Weg vor ihnen. Dunkle Wasserfäden kamen ihnen entgegen, durchweichten mit der Zeit die Schuhe und die Kleidung wurde durch die feuchte Luft klamm. Plötzlich erinnerte er sich an seine unfreiwillige Rutschpartie vor – einiger Zeit. Felix konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange sie schon hier unten weilten. Wenigen Stunden, ein Tag, mehrere Tage, eine Ewigkeit?
»Hier war ich schon einmal!“ Der Glücksdrache sah ihn abwartend an. »Auf dem Hinweg! Das muss ein alter, inzwischen stillgelegter Stollen sein. Der glitschige Untergrund zog mir die Beine weg und ich rutschte hinunter!«
»Kinder lieben es zu rutschen!«
»Aber nicht, wenn der Boden total uneben und danach alles nass ist«, gab der Junge schlecht gelaunt zurück.
»Hast Du keine Idee«, erkundigte sich der Glücksdrachen vorsichtig, »nicht den geringsten, allerkleinsten Vorschlag? Du hast doch sonst immer so tolle Einfälle!«
»Denk doch selbst nach«, brummte Felix, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt. Ganz in Gedanken versunken, spielte er mit dem Reißverschluss seiner Jacke, indem er ihn rauf und runter zog, ein Geräusch, welches dem Drachen bald gehörig auf die Nerven ging, er sich jedoch hütete, den sichtlich angestrengt grübelnden Jungen zu stören. »Ich hab’s«, rief Felix nach einiger Zeit und ließ von seiner Jacke ab – was Fortunio einen langen Seufzer entlockte. Felix schnipste vor Freude kurz mit den Fingern und musste grinsen, da es ihn stark an Wickie erinnerte. Egal, hier sah und hörte ihn ja niemand, von Fortunio mal abgesehen. »Wir müssen noch mal zu Dalma«, verkündete er und machte sofort kehrt.
»He, willst du mir nicht verraten, was du vorhast?«
»Gleich!«
Der Junge schlitterte zurück. Der Glücksdrache flatterte hinterher.
Kam es ihm nur so vor, oder befand sich das Bellerophon immer noch genau an derselben Stelle? Felix blieb einige Meter vor dem Urzeittier stehen, er wollte es schließlich nicht erschrecken.
»Hallo, Dalma«, sprach er die Riesenschnecke freundlich an, »würdest du mir eventuell nochmals einen großen Gefallen tun?«
»Weenn iich kaann!«
»Der Weg dort hinauf ist ziemlich rutschig, ob ich wohl etwas von deinem Schneckenschleim bekommen könnte?«
»Naatüürliich! Iich heelfee geernee!«
»Prima«, freute sich Felix, während Fortunio ein angewidertes »Igitt« hervorwürgte.
Tapfer tauchte Felix Hände und Schuhe in die klebrige Masse, bedankte sich artig und machte sich nun endgültig auf den Rückweg. Auch er fand das Gibberzeug eklig, nichtsdestotrotz ermöglichte es ihm nun endlich, wie ein Affe den rutschigen Weg zu bewältigen.
»Da sieh mal!« Felix deutete mit einem Kopfnicken nach vorne. »Da hängt noch mein Seil!«
Schnaufend und keuchend erreichte Felix die Stelle und beide blickten schweigend das baumelnde Seil an. »Erst muss ich etwas essen«, erklärte er und versuchte durch gezieltes Ein – und Ausatmen seinen schnellen Puls zu beruhigen. Doch als er den Rucksack abnehmen wollte, hinderte ihn das Glibberzeug an seinen Händen daran. »Oh, nein«, stöhnte er. Interessiert sah der Glücksdrache dem Jungen zu, der fluchend und schimpfend in mühsamer Kleinarbeit den Schneckenschleim abrubbelte. »Was«, schnauzte Felix Fortunio an.
»Ich wusste gar nicht», sagte der Drache scheinbar ungerührt, bemüht möglichst nicht zu lachen, »wie viele verschiedene Schimpfwörter Kinder so kennen».
»Glaube mir», knurrte der Junge, »mein Repertoire ist ziemlich eingeschränkt. Da gibt es wesentlich schlimmere Ausdrücke! Ich bekomme allerdings Ärger, wenn ich die daheim verwende, also habe ich sie aus meinem Vokabular gestrichen. Erspart mir einige Diskussionen! Sonst noch Fragen?«
Fortunio hütete sich zu antworten und zuckte stattdessen lediglich mit den Flügeln. Felix schüttelte den Kopf. »So brauche ich ewig!« Wieder neigte er den Kopf ein wenig zur Seite und dachte nach. »Du darfst mir nicht helfen, aber spricht was dagegen, einfach so zum Spaß, die Holzstückchen, die dort liegen, anzuzünden?«
»Eine meine leichtesten Übungen«, grinste der Glücksdrache, »und wenn ich es mir recht überlege, sollte man seine Fähigkeiten regelmäßig testen, man rostet sonst ein.«
Er schob einige Holzscheite in der Mitte zusammen, um nicht die Balken des Stollens auch gleich mit abzufackeln, schnaubte kurz und im Nu brannte es lichterloh. Schweigend sahen die beiden den Flammen zu und nach kurzer Zeit blieb nur ein Häufchen Asche zurück. »Und jetzt», wollte Fortunio wissen.
«Früher hatten die Menschen keine Seife und benutzten deshalb Asche«, erklärte der Junge, schob die noch heiße Asche mit dem beschuhten Fuß in eine kleine Wasserlache, mischte das Ganze, ebenfalls mit dem Fuß, und tauchte dann die Hände hinein. Endlich konnte er sich von dem Schneckenschleim befreien. In einer anderen Pfütze wusch er sich schließlich den schwarzen Dreck hinunter. Zufrieden betrachtete sein Werk.
Jetzt konnte er endlich etwas essen. Er zog die Keksschachtel und einen Schokoriegel aus dem Rucksack und hatte die Hälfte bereits verschlungen, als ihm einfiel, dem Drachen auch etwas anzubieten. Doch der lehnte dankend ab – was dem Jungen ehrlich gesagt, gar nicht so unrecht war, denn er hatte wirklich großen Hunger. Zum Schluss spülte er alles mit einer halben Flasche Saftschorle nach, verstaute das Ganze wieder im Rucksack und machte sich frisch gestärkt an den Aufstieg.
»Erinnere mich daran», schnaufte er nach einiger Zeit, »dass ich mich bei meinem Vater für den Kletterkurs bedanke!«
Fortunio nickte und flog langsame Kreise ziehend, ähnlich einem Bussard, hinauf. Felix beneidete ihn, denn schon bald schmerzten seine Arme, aufgrund der ungewohnten Bewegung und seine Hände brannten. Alternativen gab es jedoch nicht, darum schenkte er sich jegliche Schimpftiraden und sparte lieber seinen Atem. Oben angekommen sank er zunächst kraftlos auf den Boden, gleichzeitig war er sehr stolz, es geschafft zu haben.
«Na endlich», meckerte der Drache, «ich warte schon eine Ewigkeit!»
«Nicht gerade motivierend, deine Art», gab Felix verärgert zurück, packte seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg.
Der Glücksdrache rollte mit den Augen – kaum zu glauben, aber auch Drachen beherrschen dies ziemlich gut. «Jetzt sei doch nicht beleidigt! War nicht so gemeint! Für einen Menschen kannst du ziemlich viel!»
Der Junge warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu, ging jedoch unbeirrt weiter.
Fortunio wollte gerade eine Entschuldigung anhängen, da blieb Felix abrupt stehen und deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorne. »Licht«, stieß er aufgeregt hervor und begann zu laufen. Nach etwa fünf Minuten erreichte sie das Ende des Tunnels und gelanten ungefähr hundert Meter weiter rechts ins Freie, wo ihre Schatzsuche begonnen hatte. «Das verstehe ich nicht!» Ungläubig schüttelte Felix den Kopf.
»Musst du auch nicht«, gab der Glücksdrache lächelnd zurück, «freu dich einfach, dass dir dort unten jemand anscheinend ausgesprochen wohl gesonnen ist!»
Der Junge drehte sich um, formte die Hände zu einem Trichter und rief »danke« in den Gang hinein, in der Hoffnung, es möge die Wesen dort unten erreichen.
Anschließend zog er den Drachenring aus seiner Hosentasche.
»Hier«, sagte er lächelnd und hielt ihn Fortunio hin.
«Könntest du ihn mir bitte an eine meiner Krallen stecken», bat er und streckte Felix seinen Fuß hin.
»Tut mir leid, Kumpel«, lachte der Junge, «aber niemals passt der kleine Ring an deine Riesenkralle!»
»Ungläubiger«, schnaubte der Glücksdrache kopfschüttelnd, «du wirst schon sehen!»
Und wirklich! Der Ring passte – und wer es sich recht überlegte, hatte er in der letzten Zeit zu viele Merkwürdigkeiten erlebt, um sich über solch eine Kleinigkeit noch zu wundern.
Anschließe griff er erneut in seine Hosentasche und zog sein iPhone heraus, glücklicherweise hatte er endlich wieder ein Netz.
«Ich muss mich dringend bei meinen Eltern melden, bevor sie die Polizei rufen!»
Nachdem er angerufen hatte, starrte er eine Weile wortlos auf sein iPhone.
»Alles in Ordnung«, fragte Fortunio vorsichtig nach.
«Ja, das ist es ja gerade! Ich könnte schwören, wir haben hier mehrere Tage verbracht, aber anscheinend nicht, denn meine Mutter meinte nur, dass sie in einer knappen Stunde daheim wäre, und ob ich es bis dahin noch aushalten könne oder ob ich schon am verhungern sei!»
Der Glücksdrache schlug leicht mit den Flügeln. »Versuch gar nicht erst, es zu verstehen!«
«Eine knappe Stunde», wiederholte Felix nachdenklich, dann sah er den Drachen fragend an, »Schaffen wir das«.
«Selbstverständlich», grinste Fortunio, blinzelte verschwörerisch mit seinen goldenen Drachenaugen, ließ den Jungen aufsteigen, erhob sich majestätisch in die Lüfte.
Felix verbarg sich hinter einer der Felsensäulen und beobachtete kurz die Flugschau, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Ungeheuer zu. Dieses schien verwirrt, entschied sich aber dafür dem Glücksdrachen hinterher zu jagen. Felix atmete auf und spurtete los. Völlig außer Atem erreichte er den hinteren Teil der Höhle.
Eine schmale Steintreppe führte weiter nach unten. Er überlegte kurz und folgte schließlich vorsichtig den Stufen. Ob die Stufen einen natürlichen Ursprung hatten, überlegte Felix, oder doch von Menschen geschaffen? Das bedeutete jedoch, dass irgendjemand dieses unterirdische Höhlenlabyrinth kannte. Die Treppe führte in einen Stollen, rechts und links stützten Holzbalken das Gestein, und bestätigten somit seine Theorie von menschlicher Erschaffung. Allerdings schien dieses Bergwerk, so denn es eines gewesen war, schon längst nicht mehr in Betrieb zu sein. Auch fehlten jegliche elektrische Leitungen! Wieder herum ein Punkt, der gegen eine aktuelle Nutzung des Stollens sprach. Felix entzündete abermals eine der Fackeln, um die Batterien seiner Taschenlampe zu schonen und hetzte dann möglichst leise weiter. Im Gegensatz zu oben, konnte man hier eine Stecknadel fallen hören.
Ich müsste mal dringend daheim anrufen, durchfuhr es ihn plötzlich, meine Eltern machten sich bestimmt schreckliche Sorgen, wenn er abends nicht erschien. Er zog sein iPhone aus der Hosentasche, doch natürlich gab es hier unten keinen Empfang. „Fortunio hat recht!“, brummte er, „Da nützen die tollsten Apps natürlich nichts!“
Der Stollen wurde breiter und plötzlich versperrte ein Graben den Weg.
„Na toll!“, schimpfte Felix. Er schätzte die Entfernung auf ungefähr vier Meter. Theoretisch könnte er drüber springen, aber nicht mit Rucksack. Und was, wenn er sich irrte und der Spalt doch breiter wäre? Minutenlang stand er am Rand und starrte in die Finsternis des Spaltes. „Denk nach Felix!“, befahl er sich, doch es wollte ihm nichts einfallen. Keine zündende Idee, kein noch so kleiner Geistesblitz durchzuckte ihn und brachte ihn ein Stück näher ans Ziel.
Frustriert stellte er den Rucksack ab und fixierte ihn wütend. Da hatten sie es so weit geschafft und nun stand er hier, mit einem Rucksack voller nutzloser Dinge und wusste nicht weiter. Sein Magen knurrte. Na wenigstens dagegen konnte er etwas tun. Er öffnete den Rucksack und wühlte darin herum. Plötzlich stutzte er. Das Seil! Natürlich! Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Er hatte mit seinem Vater letztes Jahr einen Kletterkurs gemacht. Eine besondere Begabung dafür hatte sein Vater nicht, doch er wollte unbedingt so ein Vater-Sohn-Ding durchziehen. Eltern kamen ja auf die absonderlichsten Ideen, wenn es um ihren Nachwuchs ging. Um ihn nicht zu enttäuschen machte Felix mit, doch genau dies kam ihm jetzt hoffentlich zu gute. Er befestigte das Seil an einem der Stützbalken, prüfte nochmals den Knoten, dann begann er mit dem Abstieg. Und wenn das Seil nicht reichte oder das Holz des Balkens sich als morsch erwies?
Positiv denken, befahl er sich und kletterte langsam in die Tiefe. Seine Taschenlampe hing eingeschaltet an seinem Gürtel. Sie erhellte die Umgebung zwar nur unzureichend, aber immerhin! Er hatte Glück. Das Seil reichte! Neugierig richtete er den Strahl der Lampe auf seine Umgebung. Wieder einmal gingen zwei Gänge von hier ab. Welchen sollte er nehmen? Hör auf Dein Herz, erinnerte er sich an die Worte aus dem Drachenbuch und wählte darum den linken.
Felix wünschte sich den Glücksdrachen an seine Seite. Tapfer lief er die leicht bergab führende, felsige Röhre weiter. Wasser tropfte von der Decke und lief an den Wänden herunter. Unten sammelte es sich in feinen Rinnsalen und verwandelte den steinigen Untergrund in eine Rutschbahn. Der glitschige Boden nötigte ihn dazu noch langsamer zu gehen. Doch mit einem Mal zog es ihm die Füße weg, er verlor den Halt, landete auf dem Po und kam sich vor wie im Rutschenparadies der Erdinger Therme, nur, dass er keine Badehose trug und der Untergrund ziemlich uneben war. „Oooooooh! Neiiiin!“, rief Felix, als er unaufhörlich nach unten segelte. „Fortunioooooo!“ Jetzt hätte er den Glücksdrachen bitter nötig.
„Autsch!“ Plötzlich war die Rutschpartie zu Ende und er plumpste unsanft in eine Pfütze. „Na prima! Ich bin patschnass!“, schimpfte er, „Morgen habe ich bestimmt eine Lungenentzündung! Super! Und wo ist jetzt dieser blöde Ring?“
„Hast du dir weh getan?“
Felix fuhr herum. „Du tauchst ja reichlich spät auf!“, schnauzte er Fortunio an, ohne auf dessen Frage einzugehen. „Ich hätte mich ernstlich verletzten können oder vielleicht sogar sterben!“, maulte er weiter und wusste selbst, dass er maßlos übertrieb.
Der Glücksdrache schüttelte den mächtigen Kopf. „Wenn du wirklich in Gefahr gewesen wärst, so hätte ich das gespürt!“, versicherte er, „Davon abgesehen, musste ich ja schließlich etwas erledigen und habe nicht zum Spaß herum getrödelt!“
„Ja, ja!“, lenkte Felix ein, „Dann lass uns jetzt den Ring holen und verschwinden.“
Der Glücksdrache nickte und gemeinsam sahen sie sich um.
Das Wasser, das Felix zuvor zu der unfreiwilligen Rutschpartie verholfen hatte, sammelte sich in einem Bach. Die beiden beschlossen, dem Verlauf des Wassers zu folgen. Vorsichtig, um nicht noch einmal auf die Nase zu fliegen, setzte der Junge einen Fuß vor den anderen.
„Jetzt komm schon!“, nörgelte der Glücksdrache, der einige Meter vor ihm herflatterte.
„Der Untergrund ist hier glitschig! Ich habe keine Lust nochmals hinzufallen!“, erklärte Felix patzig, beschleunigte jedoch seine Schritte etwas.
„Bemerkst du das auch?“, fragte Felix nach einiger Zeit.
„Es wird heller!“, nickte der Drache.
Kurz darauf kamen sie in eine weitere Höhle. Nicht so beeindruckend wie die zuvor, dafür jedoch erleuchtet wie ein Ballsaal.
„Wir sind am Ziel!“, erklärte der Junge bestimmt.
„Sicher?“, fragte Fortunio, obwohl er die Antwort bereits wusste.
„Ganz sicher! Jetzt müssen wir nur noch den Ring finden!“
„So, so!“, krächzte da eine Stimme, „Ihr wollt also den Drachenring holen!“
„Ganz genau!“, entgegnete Felix, nachdem er sich von dem Schrecken erholt hatte, „Wir sind schon ziemlich lange unterwegs, ich habe Hunger und bin müde. Du könntest uns eine Menge Ärger ersparen, wenn du ihn uns einfach aushändigst!“
Er konnte nicht erkennen mit wem er sprach, denn das Wesen hielt sich im Schatten auf, so dass er nur die glühenden Augen und die Konturen wahrnahm, die sich jedoch ständig zu verändern schienen. „Bist du ein Drache?“, platzte er neugierig heraus.
„Eines muss man deinem jungen Menschenfreund lassen! Er scheint keine Angst zu haben! Allerdings habt ihr euch ganz schön Zeit gelassen. Ich habe bereits viel früher mit eurem Erscheinen gerechnet!“
„Du wusstest, dass ich mit Fortunio komme und den Drachenring holen würde?“, fragte der Junge verblüfft.
„So ungefähr! Dass die Glücksdrachen Fortunio schicken würden, nahm ich als selbstverständlich an. Genau wie die Tatsache, dass er nur einen jungen Mensch überreden konnte, ihm zu helfen!“
Kompliment oder Beleidigung oder einfach nur eine Tatsache? Da er dies nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, beschloss Felix, die letzte Bemerkung unkommentiert zu lassen.
„Bekommen wir nun den Ring?“, hakte Felix stattdessen nach.
„Ganz schön hartnäckig! Gefällt mir!“ Es entstand eine Pause, in der niemand etwas sagte. „Gut, ihr könnt ihn haben!“
Ein leises „Pling“ ertönte, als der Ring zu Boden fiel und auf sie zurollte. Er beschrieb einige immer kleiner werdende Kreise und kam mit einem weiteren „Pling“ kurz vor ihnen zum Stehen.
„Einfach so?“, wollte Felix wissen und misstrauisch beäugten sie das Ziel ihrer Schatzsuche, welches nun ruhig auf dem felsigen Boden lag. „Wo ist der Haken?“
„Kein Haken! Naja – nur eine Kleinigkeit!“
Felix und Fortunio sahen sich an. „Und die wäre?“, fragten die beiden wie im Chor.
„Wenn ihr es aus dem Höhlenlabyrinth bis an die Oberfläche schafft, dann gehört der Ring euch!“
„Das ist alles?“ Felix’ Miene drückte Verblüffung aus.
„Das ist alles!“, bestätigte das Wesen und seine Stimme erinnerte den Jungen an eine quietschende Türe. Vorsichtig hob er den goldenen Gegenstand auf und streckte ihn dem Glücksdrachen hin. Der nahm ihn behutsam und sofort leuchtete der Ring in schwachem Blau.
„Wow!“ Beeindruckt begutachtete Felix das Schmuckstück. Recht gewöhnlich, dachte er, denn abgesehen von dem blauen Licht, sah es aus der Nähe eher aus wie ein einfacher Siegelring. „Ist der Drachenring eigentlich der ganze Schatz?“, erkundigte er sich noch rasch.
„Selbstverständlich nicht, falls du Gold, Silber und Edelsteine meinst!“, erklärte der Hüter des Schatzes, wobei er in Felix Augen dieser Aufgabe nicht besonders gut nachkam, wenn er ihn einfach so weggab. „Dies besitzen wir zu Hauf. Da die Bewohner hier selbst nicht strahlen und auch so gut wie nie das Tageslicht erblicken, lieben sie das Glitzern und Funkeln. Aber wertvoller als alles andere ist der Drachenring!“
Nachdenklich starrte der Junge in Richtung des Wesens. Warum sollte jemand etwas anscheinend so Wertvolles einfach so hergeben? Da stimmte doch etwas nicht!
„Wir können jetzt gehen?“, versicherte er sich noch einmal.
„Falls du hier heraus findest, darfst du den Ring behalten! Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass ein Mensch den Ring tragen muss. Seine magischen Kräfte darfst du allerdings nicht benutzen! Legst du ihn ab, bist du dazu bestimmt mir zu dienen!“
„Wie viele haben es denn bereits erfolglos versucht?“, erkundigte sich Felix, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob er es wirklich wissen wollte.
„Deren Zahl wächst stetig!“
Na toll! „Wir sollten uns dann mal auf den Rückweg machen!“, meinte Felix zu Fortunio.
Der Glücksdrache nickte und übergab dem Jungen den Drachenring. „Verwahre ihn gut!“ Felix steckte das Kleinod in die Hosentasche und sie verließen die Höhle.
„Gehab dich wohl!“, rief Felix dem Wesen zu, von dem nur die beiden rot glühenden Augen seine Anwesenheit verrieten.
Kaum kehrten sie in den Gang zurück, der sie hergeführt hatte, ertönte hinter ihnen ein lautes Rumpeln und Krachen. Der Junge drehte sich erschrocken um, um gerade noch mit anzusehen, wie ein mächtiger Felsbrocken den Höhleneingang verschloss.
„Hast du das gesehen?“
Eine rein rhetorische Frage. Fortunio stupste den Jungen an.
„Wir sollten hier schleunigst verschwinden!“
„Schleunigst!“, wiederholte Felix nickend und mit einem letzten Blick auf den sich langsam, aber stetig nähernden Felsbrocken wandte er sich ab. Der Glücksdrache, nun wieder auf Spatzengröße geschrumpft, flatterte vor Felix her und trieb den Jungen zur Eile an.
„Schneller!“, rief er ein ums andere Mal.
„Du hast leicht reden!“, schnaufte Felix verärgert, „Wenn ich fliegen könnte...!“
„Kannst du aber nicht!“, entgegnete Fortunio knapp, „Und meine Kräfte wirken hier unten nicht so!“
Felix blieb keuchend stehen. „Was bedeutet das genau?“, erkundigte er sich, bemüht seinen keuchenden Atem unter Kontrolle zu bringen.
„Du musst aus eigener Kraft hier herauskommen!“
„Na toll!“
„Selbstverständlich helfe ich dir, aber verkleinern geht zum Beispiel nicht!“
„Oh, na dann!“, entgegnete Felix sarkastisch, „Großartig! Wir haben diesen dämlichen Ring gefunden, wenn ich das jemandem erzählen würde, wäre ich ein Held, vorausgesetzt die Story glaubt jemand. Nur schade, dass es niemand erfahren wird, weil es keinen Ausweg gibt und wir diesem, diesem verdammten Unwesen bis in alle Ewigkeit Gesellschaft leisten werden!“
„He“, entrüstete sich der Glücksdrache, „woher dieser plötzliche Pessimismus? Es gibt immer eine Chance!“
„Na klar!“ Resigniert malte Felix mit seiner Schuhspitze Kreise in den sandigen Boden. Sofort füllte sich die kleine Mulde mit Wasser und ein dünnes Rinnsal floss in Richtung der sich unaufhaltsam nähernden Gefahr. Stirnrunzelnd verfolgte der Junge den Lauf des Wassers. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Es geht bergauf!“, rief er enthusiastisch, „Nur ganz leicht, aber doch bergauf!“
„Aha!“ Fortunio hatte keine Ahnung worauf Felix hinaus wollte.
„Dinge rollen immer bergab, nur mit viel Schwung schaffen sie es hinauf!“, erklärte der Junge ungeduldig und unterstrich seine Worte mit Gesten, „Der Gang ist eng, die steinerne Kugel bleibt ständig hängen und verlangsamt dadurch ihr Tempo. Nicht lange, sie wird zum Stillstand kommen und in die entgegensetzte Richtung rollen!“
„Na dann!“ Vergnügt flatterte der Glücksdrache weiter und Felix bemühte sich mit ihm Schritt zu halten. Sie eilten weiter und kurze Zeit später vernahmen sie ein fürchterliches Krachen.
„Kaputt!“, grinste Fortunio und ließ sich zufrieden auf Felix’ Schulter nieder. Erleichtert marschierten sie den nun immer steiler werdenden Gang weiter. Hin und wieder nahm der Junge aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, doch ging sein Blick starr geradeaus. Er wollte lieber nicht so genau wissen, welche Wesen sie beobachteten. Oder bildete er sich das nur ein? Wahrscheinlich sah er schon Gespenster!
„Achtung!“, rief der Glücksdrache auf einmal und riss Felix aus seinen Gedanken. Er blieb stehen, was anderes blieb ihm auch gar nicht übrig, denn seine Schuhsohlen standen auf irgendetwas fürchterlich Klebrigem. Jemand hatte hier Leim ausgekippt!
„Iiihgitt! Was ist das denn?“ Der Junge schaute den Drachen hilfesuchend an.
Fortunio wies mit einer Kopfbewegung nach vorne. Felix leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Gang und kniff die Augen zusammen. Er glaubte zu träumen. „Das ist“, stammelte er, „das ist eine Schnecke!“ Allerdings eine ziemlich große Schnecke. „Eine Afrikanische Riesenschnecke?“, fragte er.
„Eine was?“
„Afrikanische Riesenschnecke! Das Gehäuse dieser Tiere kann bis zu 20 Zentimetern groß werden!!
„Wir sind hier aber nicht in Afrika!“
„Stimmt“, bestätigte Felix, „aber die Schnecke wurde in alle möglichen Länder eingeschleppt! Die Menschen versuchen sie dort wieder auszurotten!“
„Aha!“, entgegnete der Drache, „Warum?“
„Vor allem in Florida bekämpfen die Menschen die Riesenschnecke, weil sie eine besondere Form der Hirnhautentzündung überträgt. Allerdings leben die Viecher bis zu neun Jahren und legen bis zu 1200 Eier pro Jahr! Außerdem sind sie äußerst gefräßig. Nicht nur Garten - und Nutzpflanzen, sondern auch Kalkstein und sogar Autoreifen! Stand mal irgendwann ein Artikel im Spiegel!“ Er zuckte mit den Schultern, als ob er sich für sein Wissen entschuldigen wollte.
„Seit wann stehen in einem Spiegel Artikel?“, wollte Fortunio wissen.
„Der Spiegel“, erklärte Felix grinsend, „ist eine deutsche Zeitung, ein Nachrichtenmagazin!“ Er wandte sich wieder dem Tier zu. Seiner Schätzung nach hatte das Schneckenhaus bestimmt 30cm Durchmesser und eine ähnliche Färbung wie seine Umgebung. Bestens getarnt, dachte Felix und ließ den Lichtkegel seiner Funzel langsam von der Schnecke zu seinen Füßen wandern. Und nun wusste er auch, was ihn festhielt: Schneckenschleim!
Vorsichtig hob er den rechten Fuß. Nur unter größter Anstrengung schaffte er es ihn einige Zentimeter zu heben. Doch das eklige Zeug haftete wie Sekundenkleber und gab seine Beute nicht frei. „Pfui Teufel!“, schimpfte er, zog sein Taschenmesser aus der Jacke und versuchte die zähen Schleimfäden abzuschneiden. Ein mühsames Unterfangen, funktionierte jedoch. „Geschafft!“, jubelte er, als er den ersten Fuß frei bekam.
„Felix!“, zischte Fortunio, und stupste den Jungen unsanft an, so dass der fast das Gleichgewicht verloren hätte und gerade noch verhindern konnte, den Fuß wieder auf den Boden zu setzen.
„He!“, protestierte Felix erbost, „Was soll das?“
Doch statt einer Antwort, starrte der Drache einfach nur in Richtung Schnecke.
Felix folgte dem Blick. „Wow! Krass!“, entfuhr es ihm unwillkürlich, denn die Schnecke schien zu wachsen. „Jetzt scheint sie eher ein Bellerophon zu sein! Das ist ein“, wollte er erklärend hinzufügen, doch Fortunio winkte ab. „Das ist eine urtümliche Schnecke, allerdings schon ausgestorben, lebte vor 500 bis 250 Millionen Jahren! Findet man nur noch als Fossil!“
„Richtig!“ Felix warf dem Drachen einen bewundernden Blick zu.
„Nicht der Rede wert!“, entgegnete Fortunio wie beiläufig, doch Felix sah ihm an, dass de Drache vor Stolz fast platzte, „Auch wir Glücksdrachen haben ein ziemlich breit gefächertes Wissen!“
„Dann kannst du mir bestimmt erklären, was dieses Monstrum hier macht, wo sie doch eigentlich bereits ausgestorben ist!“
„Ähm!“ Verlegen kratzte sich Fortunio mit dem Flügel hinter dem Kopf, doch dann hellte sich seine betrübte Miene schlagartig auf, „Genau genommen bist du dran schuld!“
„Aha! Und an was soll ich schuld sein?“
„Na, jedesmal, wenn du einen dieser Schleimfäden durchgeschnitten hast, wuchs die Schnecke ein Stück!“
„Im Ernst?“
Fortunio nickte.
„Das bedeutet, dass sie noch größer wird, wenn ich den zweiten Schuh ebenfalls von dem Glibberzeug befreie!“
„So wird es sein!“
„Ob sie uns versteht?“
„Keine Ahnung!“ Der Drache flatterte vorsichtshalber wieder einmal auf Felix’ Schulter, denn natürlich würde der Junge das Tier ansprechen. Da wandte sich Felix auch schon an die Schnecke.
„Hallo!“, rief er und richtete den Strahl seiner Taschenlampe erneut auf das Bellerophon. Auch wenn der Lichtkegel die Umgebung nur unzureichend erhellte, fühlte sich das Tier sichtlich unwohl und zog sich langsam in sein Schneckenhaus zurück.
„Waaas wiiillst duuu?“ Das Urzeitgeschöpf hatte seine Sprechweise an seine behäbigen Bewegungen angeglichen. Die Stimme erinnerte Felix entfernt an Darth Vader aus Krieg der Sterne.
„Ich möchte vorbei!“
„Sooo sooo!“ Im Zeitlupentempo kam der Körper des Bellerophons wieder zum Vorschein und es senkte seinen Kopf in Richtung der beiden Eindringlinge. „Waaas beeekooommeee iiich daaafüüür?“
Fieberhaft überlegte Felix, dann zog er die Rolle Alufolie aus seinem Rucksack und begann sie zu falten und zu drehen.
„Was wird das?“, zischte Fortunio, „Origami zur Beruhigung, oder wie?“
„Blödsinn“, wisperte der Junge und setzte seine Basteltätigkeit ungerührt fort.
„Was soll das werden?“, hakte der Glücksdrache nach und seine Stimme schwankte zwischen Verärgerung und Belustigung, „Eine Schlange?“
„So ähnlich“, grinste Felix schelmisch, legte die Enden der Aluminiumschlange aufeinander und verdrehte sie einige Male, so dass sie sich fürs Erste nicht lösen würden. „Fertig!“
Felix wandte sich an das Bellerophon und hielt sein Kunstwerk am gestreckten Arm in Richtung des Urzeittieres. „Wenn du den Weg freimachst und mir verrätst, wie ich meinen Fuß frei bekommen - bekommst du dafür diese wunderbar glitzernde Kette von uns!“ Er ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über das silberne Gebilde wandern.
„Oooooh“, hauchte die Riesenschnecke, gänzlich in ihrer, ohnehin kaum wahrnehmbaren, Bewegung verharrend. Nach einer Weile, sicherlich nur einige Minuten, doch Felix kam es entsetzlich lange vor, schickte das Tier ein „wiiirklich füüür miiich“ hinterher.
„Ganz allein für dich!“, bestätigte Felix und ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund.
Das Bellerophon erinnerte ihn ein wenig an Jakob, einen Nachbarsjungen. Hin und wieder, wenn ihn furchtbare Langeweile quälte, spielte Felix mit dem Zweijährigen und der Kleine freute sich wie ein Schneekönig, wenn der Ältere Sandkuchen formte und mit Steinchen, kleinen Zweigen oder Blütenblättern verzierte.
»Wenn ich meinen linken Fuß bewegen könnte, würde ich es dir umhängen«, erklärte der Junge.
»Duuu muuusst nuuur deiiinen Fuuuß beeeweeegen!«
Felix runzelte die Stirn. Was war denn das jetzt wieder für ein Ratschlag? Plötzlich fiel es ihm ein. Na klar! »Thixotropie!«, rief er und klatschte kurz in die Hände.
»Hä?« Der Glücksdrache betrachte den Jungen besorgt und überlegte sich gerade eine freundliche Umschreibung für »Hast du den Verstand verloren«, da wandte sich Felix zu ihm um.
»Der Ketchupeffekt«, erklärte er geduldig. Da Fortunio ihn weiterhin verständnislos anblickte, fühlte er sich verpflichtet, es genauer zu erläutern: »Eine Ketchupflasche kennst du«, fragte er deshalb zunächst.
Der Drache nickte eifrig. »Das rote Zeug, das sich vor allem Kinder auf alle möglichen Speisen schütten.«
»Genau! Hält man eine Ketchupflasche mit der Öffnung nach unten, passiert nichts. Gar nichts! Erst, wenn man die Flasche schüttelt, beginnt das Ketchup langsam zu fließen. Diesen Effekt, den man zum Beispiel auch bei Treibsand findet, nennt man Thixotropie! Und mit Schneckenschleim scheint es wohl genauso zu funktionieren. Ich muss also nur meinen Fuß leicht bewegen, und-« Felix setzte seine Worte sofort in die Tat um, und siehe da, der zähe Stoff unter seinem Turnschuh begann sich zu verflüssigen.
»Igitt«, sagte der Drache, als Felix auf der Fäden ziehenden Glibbermasse langsam vorwärts bewegte.
»Besser, als hier ewig festzuhängen!« Zügig ging er auf das Bellerophon zu und hängte ihm das Schmuckstück um. Zentimeter um Zentimeter gab das Urzeittier den Weg frei - das Wort »Schneckentempo« bekam plötzlich einen sehr realistischen Hintergrund, fand Felix. Während er darauf wartete, weitergehen zu können, betrachtete er die Riesenschnecke ausgiebig. Was von Weitem wie ein gewöhnliches Schneckenhaus ausgesehen hatte, war, aus der Nähe betrachtet, ein wahres Wunderwerk der Natur: ein Mosaik aus den verschiedensten Formen und Farben, in vollkommener Harmonie zusammengewebt, gleich einem der alten Gobelinteppiche, die er in irgendeiner Ausstellung begutachtet hatte, in die ihn seine Großmutter mitschleppte. Zugegebenermaßen interessierte ihn das damals nicht besonders und lediglich seiner Oma zuliebe, ging er mit. Doch nun erinnerte er sich wieder daran, und musste der Natur zugestehen, wesentlich filigranerer Muster zu schaffen, als das Menschen je vermochten.
»He«, riss der Glücksdrache ihn aus seinen Überlegungen, »wir können vorbei!«
Felix bedankte sich noch einmal höflich bei dem Bellerophon, dann gingen sie weiter.
Kurz bevor sie das Tier aus den Augen verloren, drehte er sich noch einmal um. »Hast du auch einen Namen?«
»Daaalmaaa!«
»Ungewöhnlich, aber schön! Dann mach’s gut, Dalma!«
Der Gang wurde zusehends steiler und rutschiger und der Junge hatte Mühe vorwärtszukommen. Zwei Schritte voran und drei Schritte zurück. Felix blieb schnaufend stehen.
»So wird das nie was!« Resigniert starrte er auf den Weg vor ihnen. Dunkle Wasserfäden kamen ihnen entgegen, durchweichten mit der Zeit die Schuhe und die Kleidung wurde durch die feuchte Luft klamm. Plötzlich erinnerte er sich an seine unfreiwillige Rutschpartie vor – einiger Zeit. Felix konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange sie schon hier unten weilten. Wenigen Stunden, ein Tag, mehrere Tage, eine Ewigkeit?
»Hier war ich schon einmal!“ Der Glücksdrache sah ihn abwartend an. »Auf dem Hinweg! Das muss ein alter, inzwischen stillgelegter Stollen sein. Der glitschige Untergrund zog mir die Beine weg und ich rutschte hinunter!«
»Kinder lieben es zu rutschen!«
»Aber nicht, wenn der Boden total uneben und danach alles nass ist«, gab der Junge schlecht gelaunt zurück.
»Hast Du keine Idee«, erkundigte sich der Glücksdrachen vorsichtig, »nicht den geringsten, allerkleinsten Vorschlag? Du hast doch sonst immer so tolle Einfälle!«
»Denk doch selbst nach«, brummte Felix, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt. Ganz in Gedanken versunken, spielte er mit dem Reißverschluss seiner Jacke, indem er ihn rauf und runter zog, ein Geräusch, welches dem Drachen bald gehörig auf die Nerven ging, er sich jedoch hütete, den sichtlich angestrengt grübelnden Jungen zu stören. »Ich hab’s«, rief Felix nach einiger Zeit und ließ von seiner Jacke ab – was Fortunio einen langen Seufzer entlockte. Felix schnipste vor Freude kurz mit den Fingern und musste grinsen, da es ihn stark an Wickie erinnerte. Egal, hier sah und hörte ihn ja niemand, von Fortunio mal abgesehen. »Wir müssen noch mal zu Dalma«, verkündete er und machte sofort kehrt.
»He, willst du mir nicht verraten, was du vorhast?«
»Gleich!«
Der Junge schlitterte zurück. Der Glücksdrache flatterte hinterher.
Kam es ihm nur so vor, oder befand sich das Bellerophon immer noch genau an derselben Stelle? Felix blieb einige Meter vor dem Urzeittier stehen, er wollte es schließlich nicht erschrecken.
»Hallo, Dalma«, sprach er die Riesenschnecke freundlich an, »würdest du mir eventuell nochmals einen großen Gefallen tun?«
»Weenn iich kaann!«
»Der Weg dort hinauf ist ziemlich rutschig, ob ich wohl etwas von deinem Schneckenschleim bekommen könnte?«
»Naatüürliich! Iich heelfee geernee!«
»Prima«, freute sich Felix, während Fortunio ein angewidertes »Igitt« hervorwürgte.
Tapfer tauchte Felix Hände und Schuhe in die klebrige Masse, bedankte sich artig und machte sich nun endgültig auf den Rückweg. Auch er fand das Gibberzeug eklig, nichtsdestotrotz ermöglichte es ihm nun endlich, wie ein Affe den rutschigen Weg zu bewältigen.
»Da sieh mal!« Felix deutete mit einem Kopfnicken nach vorne. »Da hängt noch mein Seil!«
Schnaufend und keuchend erreichte Felix die Stelle und beide blickten schweigend das baumelnde Seil an. »Erst muss ich etwas essen«, erklärte er und versuchte durch gezieltes Ein – und Ausatmen seinen schnellen Puls zu beruhigen. Doch als er den Rucksack abnehmen wollte, hinderte ihn das Glibberzeug an seinen Händen daran. »Oh, nein«, stöhnte er. Interessiert sah der Glücksdrache dem Jungen zu, der fluchend und schimpfend in mühsamer Kleinarbeit den Schneckenschleim abrubbelte. »Was«, schnauzte Felix Fortunio an.
»Ich wusste gar nicht», sagte der Drache scheinbar ungerührt, bemüht möglichst nicht zu lachen, »wie viele verschiedene Schimpfwörter Kinder so kennen».
»Glaube mir», knurrte der Junge, »mein Repertoire ist ziemlich eingeschränkt. Da gibt es wesentlich schlimmere Ausdrücke! Ich bekomme allerdings Ärger, wenn ich die daheim verwende, also habe ich sie aus meinem Vokabular gestrichen. Erspart mir einige Diskussionen! Sonst noch Fragen?«
Fortunio hütete sich zu antworten und zuckte stattdessen lediglich mit den Flügeln. Felix schüttelte den Kopf. »So brauche ich ewig!« Wieder neigte er den Kopf ein wenig zur Seite und dachte nach. »Du darfst mir nicht helfen, aber spricht was dagegen, einfach so zum Spaß, die Holzstückchen, die dort liegen, anzuzünden?«
»Eine meine leichtesten Übungen«, grinste der Glücksdrache, »und wenn ich es mir recht überlege, sollte man seine Fähigkeiten regelmäßig testen, man rostet sonst ein.«
Er schob einige Holzscheite in der Mitte zusammen, um nicht die Balken des Stollens auch gleich mit abzufackeln, schnaubte kurz und im Nu brannte es lichterloh. Schweigend sahen die beiden den Flammen zu und nach kurzer Zeit blieb nur ein Häufchen Asche zurück. »Und jetzt», wollte Fortunio wissen.
«Früher hatten die Menschen keine Seife und benutzten deshalb Asche«, erklärte der Junge, schob die noch heiße Asche mit dem beschuhten Fuß in eine kleine Wasserlache, mischte das Ganze, ebenfalls mit dem Fuß, und tauchte dann die Hände hinein. Endlich konnte er sich von dem Schneckenschleim befreien. In einer anderen Pfütze wusch er sich schließlich den schwarzen Dreck hinunter. Zufrieden betrachtete sein Werk.
Jetzt konnte er endlich etwas essen. Er zog die Keksschachtel und einen Schokoriegel aus dem Rucksack und hatte die Hälfte bereits verschlungen, als ihm einfiel, dem Drachen auch etwas anzubieten. Doch der lehnte dankend ab – was dem Jungen ehrlich gesagt, gar nicht so unrecht war, denn er hatte wirklich großen Hunger. Zum Schluss spülte er alles mit einer halben Flasche Saftschorle nach, verstaute das Ganze wieder im Rucksack und machte sich frisch gestärkt an den Aufstieg.
»Erinnere mich daran», schnaufte er nach einiger Zeit, »dass ich mich bei meinem Vater für den Kletterkurs bedanke!«
Fortunio nickte und flog langsame Kreise ziehend, ähnlich einem Bussard, hinauf. Felix beneidete ihn, denn schon bald schmerzten seine Arme, aufgrund der ungewohnten Bewegung und seine Hände brannten. Alternativen gab es jedoch nicht, darum schenkte er sich jegliche Schimpftiraden und sparte lieber seinen Atem. Oben angekommen sank er zunächst kraftlos auf den Boden, gleichzeitig war er sehr stolz, es geschafft zu haben.
«Na endlich», meckerte der Drache, «ich warte schon eine Ewigkeit!»
«Nicht gerade motivierend, deine Art», gab Felix verärgert zurück, packte seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg.
Der Glücksdrache rollte mit den Augen – kaum zu glauben, aber auch Drachen beherrschen dies ziemlich gut. «Jetzt sei doch nicht beleidigt! War nicht so gemeint! Für einen Menschen kannst du ziemlich viel!»
Der Junge warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu, ging jedoch unbeirrt weiter.
Fortunio wollte gerade eine Entschuldigung anhängen, da blieb Felix abrupt stehen und deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorne. »Licht«, stieß er aufgeregt hervor und begann zu laufen. Nach etwa fünf Minuten erreichte sie das Ende des Tunnels und gelanten ungefähr hundert Meter weiter rechts ins Freie, wo ihre Schatzsuche begonnen hatte. «Das verstehe ich nicht!» Ungläubig schüttelte Felix den Kopf.
»Musst du auch nicht«, gab der Glücksdrache lächelnd zurück, «freu dich einfach, dass dir dort unten jemand anscheinend ausgesprochen wohl gesonnen ist!»
Der Junge drehte sich um, formte die Hände zu einem Trichter und rief »danke« in den Gang hinein, in der Hoffnung, es möge die Wesen dort unten erreichen.
Anschließend zog er den Drachenring aus seiner Hosentasche.
»Hier«, sagte er lächelnd und hielt ihn Fortunio hin.
«Könntest du ihn mir bitte an eine meiner Krallen stecken», bat er und streckte Felix seinen Fuß hin.
»Tut mir leid, Kumpel«, lachte der Junge, «aber niemals passt der kleine Ring an deine Riesenkralle!»
»Ungläubiger«, schnaubte der Glücksdrache kopfschüttelnd, «du wirst schon sehen!»
Und wirklich! Der Ring passte – und wer es sich recht überlegte, hatte er in der letzten Zeit zu viele Merkwürdigkeiten erlebt, um sich über solch eine Kleinigkeit noch zu wundern.
Anschließe griff er erneut in seine Hosentasche und zog sein iPhone heraus, glücklicherweise hatte er endlich wieder ein Netz.
«Ich muss mich dringend bei meinen Eltern melden, bevor sie die Polizei rufen!»
Nachdem er angerufen hatte, starrte er eine Weile wortlos auf sein iPhone.
»Alles in Ordnung«, fragte Fortunio vorsichtig nach.
«Ja, das ist es ja gerade! Ich könnte schwören, wir haben hier mehrere Tage verbracht, aber anscheinend nicht, denn meine Mutter meinte nur, dass sie in einer knappen Stunde daheim wäre, und ob ich es bis dahin noch aushalten könne oder ob ich schon am verhungern sei!»
Der Glücksdrache schlug leicht mit den Flügeln. »Versuch gar nicht erst, es zu verstehen!«
«Eine knappe Stunde», wiederholte Felix nachdenklich, dann sah er den Drachen fragend an, »Schaffen wir das«.
«Selbstverständlich», grinste Fortunio, blinzelte verschwörerisch mit seinen goldenen Drachenaugen, ließ den Jungen aufsteigen, erhob sich majestätisch in die Lüfte.