Flamme

Joey Potter

Mitglied
Biografie eines unbekannten Menschen

Mein Name ist Alexander. Schon seit 79 Jahren wandere ich auf dieser Erde herum. Ohne Ziel, ohne wirklichen Grund. Es heisst jeder Mensch habe eine Bestimmung, etwas was ihn immer durchs Leben leiten würde. Diese Bestimmung hatte ich auch. Ja. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hatte ich ein Ziel. Ein Ziel und auch einen Grund. Doch dieser Grund wurde ausgelöscht, wie die Flamme einer Kerze. Und ab diesem Moment stand ich im Dunkeln. Immer darauf hoffend, dass eines Tages jemand kommen würde, der die Flamme der Kerze wieder zum Brennen brachte.

Der Tag, an dem die Flamme für immer erlosch, liegt tief in meiner Vergangenheit. Ich selbst bin zu alt, um mich noch daran erinnern zu können. Zu viele neue Erinnerungen haben diese verdrängt. Doch sie ist wichtig, äusserst wichtig. Deshalb war es mein stetiger Wunsch diese Geschichte jeden Abend von meinem Vater erzählt zu bekommen. Und er begann die Geschichte immer mit demselben Satz: Der Hut, den du an diesem Tag trugst, war der deiner Mutter. Die Bedeutung dieses Satzes hatte ich nie verstanden. Alles das, was danach folgte allerdings, von Zeit zu Zeit immer mehr. Diese Geschichte, dieser Tag, dieser Moment in meinem Leben wurde mir so oft von ihm vor Augen geführt, dass es sich heute so anfühlt, als wären es meine Erinnerungen. Erinnerungen von dem Tag, als meine Flamme für immer erlosch.

Der Tag, an dem das geschah, begann früh morgens. Meine Mutter hatte mich wohl geweckt, mich gewickelt und angezogen, um dann um 10 vor vier mit mir draussen vor unserem Haus zu stehen. Es war der Morgen des 24. Februars 1947 und somit der erste Tag der Basler Fasnacht. Als um vier Uhr morgens alle Lichter ausgingen, begann ich laut zu schreien und zu weinen. Ich hatte wohl Angst im Dunkeln, meinte mein Vater an dieser Stelle der Geschichte immer. Doch sobald die ersten Cliquen begannen den Morgenstreich zu trällern, war ich schlagartig still. So als hätte mir jemand meinen Mund zugehalten. Mein Vater beobachtete, wie ich gebannt auf die Laternen starte und mit all meiner Kraft versuchte die Melodie des Streichs zu verfolgen. Als es langsam zu dämmern begann waren bereits fast 3 Stunden vergangen und ich lauschte immer noch gebannt der Musik, die zwar mittlerweile nicht mehr von allen Cliquen die gleiche war, aber mich trotzdem in einen Bann zog. So zumindest hatte es mir mein Vater immer beschrieben. Um sieben Uhr morgens ging meine Mutter wieder mit mir nach Oben. Sie zog mir meine Schuhe aus und legte mich zurück in mein Bett. Als mein Vater ins Zimmer kam schlief ich tief und fest. Er meinte, es sei so gewesen, als hätte mich niemals irgendwer aus dem Schlaf geholt. Es hatte so gewirkt, als hätte ich die ganze Nacht durchgeschlafen, so ruhig und friedlich, wie ich da lag. Und das, obwohl es draussen abging wie verrückt.

Um 13:30 zog meine Mutter mir meine Schuhe erneut an. Dieses Mal, sagte mein Vater, ging sie aber nicht sofort mit mir nach draussen. Stattdessen nahm sie mich auf den Arm und lief auf den Dachboden. Dort kramte sie aus einer alten Verkleidungskiste ein paar Sachen hervor. Als sie wieder mit mir im Arm die Treppe herunterschritt, sah ich aus wie eine Mischung zwischen einem Clown und einem Sherif. Mein Vater erzählte mir jeden Abend, wie sehr er sich ein Lachen verkneifen musste. Denn er wusste genau, wie viel dieses Kostüm seiner Frau bedeutete. Sie hatte es damals von ihrer Mutter, die es selbst genäht hatte, geschenkt bekommen und es seitdem jede Fasnacht getragen. Laut meinem Vater hatte man es förmlich gehört, wie sie die Tage gezählt hatte, bis ich eines Tages genug gross für dieses Kostüm sein würde.

An diesem Punkt der Geschichte hatte mein Vater immer gestoppt. Er stand auf, öffnete meinen Kleiderschrank und holte eine Kartonkiste heraus. Diese stellte er immer neben das Bett, öffnete sie und legte das Kostüm, das sich darin verbarg, neben mich auf das Bett. Es bestand aus einer roten Clown Nase, einem roten T-Shirt, dessen Stoff sich wie Samt anfühlte, einer grünen Hose im selben Stoff und einem Stern aus Papier. Dieser hatte mal irgendwo geklebt, aber worauf hatte mein Vater mir nie gesagt. Nachdem alle diese Sachen neben mir auf dem Bett lagen, setzte er sich wieder hin und begann weiter zu erzählen.

Nachdem mich meine Mutter in dieses Kostüm gesteckt hatte, öffnete sie die Haustüre und schritt mit mir hinaus. Diesmal blieben wir aber nicht vor dem Haus stehen. Und das hatte seinen Grund. Mein Vater sagte mir, dass meine Mutter 2 Lieblingsplätze an der Basler Fasnacht hatte. Der vor unserer Haustüre war, laut ihr, perfekt um bestaunen des Morgenstreichs. Doch um den Nachmittagsumzug zu bestaunen, mussten wir immer bis auf die Wettsteinbrücke laufen, wo wir dann in der Mitte stehen blieben. Als es los ging und die ersten Guggen, Cliquen und Waagen an uns vorbeifuhren spürte mein Vater die Wärme, die von mir und von meiner Mutter ausgingen. Er spürte ganz deutlich das Glück, das wir beide empfanden. Und ab diesem Moment wusste er, dass die Fasnacht mein zu Hause geworden war. Genauso, wie es das meiner Mutter war, seit sie das erste Mal mit genau diesem Kostüm an der Strasse gestanden hatte.

Der Umzug nahm seinen Lauf, und mit jeder weiteren Gruppe, die an uns vorbeimarschierte, wurde mein Lächeln breiter und breiter. Und mit jedem weiteren Lächeln auf meinem Gesicht wuchs auch das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter. Mein Vater beschrieb diesen Moment immer als den Glücklichsten seines Lebens. Ganz entzückt davon nahm er seine Kamera hervor und knipste ein Foto von mir, um mein Lächeln für immer auf diesem Bild festzuhalten. Das Bild hatte ich noch nie gesehen. Mein Vater hatte es mir nie gezeigt. Ich war überzeugt davon gewesen, dass dies einen Grund hatte, und habe deshalb auch nie nachgefragt. Und obwohl ich nie wusste, wie das Bild genau ausgesehen hatte konnte ich es mir aufgrund seiner Erklärungen sehr gut vorstellen.

Das Ziel meines Vaters war es gewesen mein Lächeln aufzufangen. Doch als er das Bild betrachtete wusste er, dass es um sonst gewesen war. Mein besorgtes Gesicht erschreckte ihn, sodass er sich ruckartig umdrehte. Doch da war es schon zu spät gewesen. Zu spät bemerkte er den ausser Kontrolle geratenen Wagen, der in einem enormen Tempo auf mich zuraste. Er hatte ihn zu spät bemerkt. Nicht aber meine Mutter. Sie zögerte keine Sekunde. Sofort löste sie ihre Hand von meiner schuppste mich beiseite und sprang vor mich. Bei diesem Punkt der Geschichte löschte mein Vater immer das Licht, verstaute die Kiste mit dem Kostüm wieder im Schrank, gab mir einen Kuss auf die Stirn und verliess das Zimmer.

Als mein Vater mir die Geschichte zum letzten Mal erzählt hatte war ich 16 Jahre alt. 3 Tage darauf starb er im Krankenhaus. Und mit ihm so viele unbeantwortete Fragen und meine Quelle zur Wirklichkeit. Meine letzte mögliche Verbindung zu meiner Mutter starb mit ihm mit. Verloren war ich seit diesem Tag. Und es fühlte sich so an, als wäre die Kerze, deren Flamme schon vor 11 Jahren gelöscht worden war nun gar nicht mehr vorhanden.

Seit dem Tag, als mein Vater gestorben war, hatte ich die Kiste nie wieder geöffnet gehabt. Nie wieder bis heute. Heute war der Tag dazu, das spürte ich irgendwie tief in mir drin. Langsam lief ich zu ihr hin öffnete sie vorsichtig und wurde überwältigt. Denn zum ersten Mal in meinem Leben sah ich das Bild. Das Bild, kurz vor dem Tod meiner Mutter. Ich hielt noch ihre Hand, die sich in wenigen Sekunden von meiner lösen würde. Mein Blick fiel auf den losen Papierstern, zu dem ich nie eine Verbindung finden konnte. Doch jetzt war sie da und jetzt löste sich alles. Der Stern klebte auf einem Hut, der auf meinem Kopf lag. Ein Lächeln zog sich über meine Lippen und plötzlich kannte ich meinen Grund wieder. Und auch all meine Ziele. Sie hatte mir das gezeigt, was ich für immer lieben würde, das was mein zu Hause war. Und ganz langsam kehrte meine Flamme zurück, um einen kurzen Augenblick darauf für immer zu erlöschen. Doch auch wenn sie nun nicht mehr brannte, ich hatte mein Ziel erreicht. Und endlich hielt ich meine Mutter wieder an der Hand.
 



 
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