Flucht über die Nordsee 32: Unerwünschte Berührungen

ahorn

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Ein Sturm zieht auf

Auf der anderen Seite

Ein Rascheln in der mannshohen Rosenhecke weckte Sabrinas Interesse.
Sie schlich dichter heran, flüsterte: „Hallo. Ist da jemand?“
Nichts geschah. „Hallo“, wiederholte sie.
Das anfängliche Rascheln verwandelte sich zu einem Knistern. Ein Körper drängte sich durch den fast undurchdringlichen Vorhang aus Ästen, Dornen und blutroten Blüten. Sie sah sich hastig um, rannte zu einer Sonnenliege, versteckte sich hinter der geblümten Rückenlehne.
Eine junge Frau, ein Mädchen, geschätzt kaum älter als sie entflechtet ihre goldenen lockigen Haare aus den Dornen. Sie trug ein knappes altrosafarbenes Top und eine enge Hotpants aus verwaschener Bluejeans.
Auf ihren verschließenden Espadrilles schlich sie auf die Liege zu und rief: „Kuckuck. Komm heraus, ich tu dir nichts!“ Sie linste zwischen Tuch und Holzgestell hindurch, dabei kaute sie wie eine Kuh auf einem Kaugummi. „Wirst wohl gerade zugeritten, was?“

Sabine verstand kein Wort, kauerte nur am Boden und verfluchte ihren Gesang.
Das Mädchen leckte über ihre zarten Lippen. „Verstehst mich?“, erkundigte diese sich, dabei wippte sie mit ihren Becken vor und zurück.
Das Gewirr in Sabrinas Gedanken steigerte sich weiter, als die junge Frau die gleiche Gestik in einer ihr unverständlichen Sprache vollführte.
Das Mädchen neigte ihren Kopf zum Gebüsch. „Komm, geh, hau ab, es ist keiner da!“ Zur Seite schauend, beugte sie ihren Oberkörper näher an die Gartenliegen. „Es herrscht eh gerade Chaos und Rudolf habe ich seit einem Tag nicht mehr gesehen“, flüsterte sie. „Vielleicht ist er krank oder …“ Sie lachte. „Er hat sich mit seiner eigenen Peitsche erschlagen. Das Schwein.“
„Er ist …“, piepste Sabine. „Ich geh hier nicht weg. Ich bin hier sicher!“
„Oh! Du kannst sprechen und sogar deutsch.“
„Was sonst vielleicht chinesisch?“

Die andere richtete sich auf, schritt um die Liege herum. „Bist von zu Hause weggelaufen? Glaubst, das wäre der richtige Platz für dich? Dass ich hier bin, ist mein eigener Fehler.“ Sie kniete sich nieder. „War dumm! Ich habe den Kerlen geglaubt!“ Sie sah zum wolkenlosen Himmel, rollte mit den Augen. „Au-pair-Mädchen in Deutschland!“, stöhnte sie. „Egal. Wenn es klappt, haue ich heute Abend nach meiner Schicht ab. Hab ein bisschen Geld beiseitegelegt.“ Sie deutete auf die Hecke. „Das Motorboot von Rudolf liegt direkt dahinten am Ufer.“ Lächelnd rieb sie ihre Hände gegeneinander. „Ab und Weg. Komm mit!“
Sabine kauerte sich enger an die Sonnenliege und wimmerte: „Auf den Trick fall ich nicht herein. Thekla hat mir gesagt, ich soll niemanden vertrauen“. Sie rümpfte ihre Nase. „Ihr seid alle Verbrecher!“
Die junge Frau verschränkte die Arme. „Oh. Mit der Chefin persönlich sprichst. Was für eine Ehre?“
Die Augen zusammengekniffen stieß Sabine ihren Kopf hervor, bis dieser um ein Haar das Gesicht ihrer Gesprächspartnerin erreichte. „Eine alte arme Hausdame ist sie.“
Die Goldblonde tippte an ihre Schläfe. „Alt? Ja! Arm? Wart ab, sie wird zu dir kommen, zeigen, wie mittellos sie ist. Wird dir gestehen, dass sie dir nicht helfen kann. Dass ein lieber Freund sich bereit erklärt hat, sie zu unterstützen. Wenn du lieb zu ihm bist?“ Sie stand auf und fuhr sich durchs Haar. „Sei vernünftig, nutz wie ich die heutige Chance. Hau ab, kehr heim zu deiner Familie!“

Sabine hob ihr Haupt, Tränen kullerten über ihre Wangen. „Ich kann nicht und Thekla ist eine Gute!“
Das Mädchen winkte ab, schritt zur Rosenhecke, kletterte durch das Loch, welches sie zuvor gerissen hatte. „Komm zur Besinnung! Übrigens, ich bin die Jenni.“


Geschrei schreckte Antonia auf. Sie rollte von ihrer Luftmatratze, kämpfte sich in den Flur.
Franziska schoss auf sie zu. Ein Handtuch umschmeichelte ihren Kopf. „Madl wo bliabst du, de Friseirin wartet.“
Antonia schaute sie verträumt an.
„Dusch di, zieh dia wos üba, aba droggnete ned dei Haar, des macht de Froni“, polterte ihr Franziska entgegen, wandte auf ihren Hacken um, und stampfte sofort die Treppe hinab.

Ein Gegacker, wie im Hühnerstall, empfing Antonia. Die Küche gefüllt mit holder Femininität, teilweise bekleidet, zum Teil in Unterwäsche. Damen, die sie mitunter das erste Mal auf der gestrigen Party gesehen hatte.
Eine jüngere Frau mit einer Schürze, in der Bürsten, Kämme ferner Scheren steckten, zog sie mit sich, positionierte sie auf einen Stuhl.
„Morgen“, stöhnte Alina. Sie saß neben ihr. Eine andere frisierte ihr eine Hochsteckfrisur. „Hat dich meine Mutter gefangen?“
„Wie möchtest du dein Haar tragen?“, erkundigte sich die schwarzhaarige Frisöse.
„Vielleicht ein paar neckische Strähnchen und“, antwortete Franziska für Antonia, fasste dann an den Turban, drehte ihren Finger, „einige Korkenzieherlöckchen.“
Die Schwarzhaarige glitt mit den Fingerspitzen wie mit einem Kamm durch Antonias Haar.
Sie lehnte sich vor, schaute ihr ins Gesicht, keuchte: „Mal sehen, was ich da machen kann!“, dabei reichte sie ihr die Hand. „Ich bin die Froni.“

Matthias in schwarzen Anzug stürmte in die Küche, gaffte die halb nackten Frauen an.
„Fia eich Männa is de Kuche tabu!“, schnauzte Franziska ihren Sohn an und fing ihn mit einer Watschen ab.
Er rieb über seine Wange und stotterte: „Kaffee“.
Froni legte ihre Finger auf Antonias Schultern. „Zieh dir dein Kleidchen über. Danach schminke ich dich.“
Antonia erhob sich, stolzierte an Fransiska vorbei. Da drückte sie ihr zwei Kannen in die Hände. „Bringst den Burschen!“
Sie verließ die Küche, schritt in den Frühstücksraum.

Wie bei einem Begräbnis saßen die Mannsbilder wortlos an ihren Tisch. Alle in Schwarz, nur Valentin sowie ein für Antonia Fremder in Tracht. Sie stellte die Kannen auf das Buffet. Ihr Magen knurrte, sie hatte nicht gefrühstückt. Zur Seite schauend, schnappte sie ein Stück Streuselkuchen und lief davon. Sie füllte sich unwohl, wie ein Fremdkörper zwischen den Männern.



Unerwünschte Berührungen

Ein Lied auf den Lippen hüpfte Antonia die Treppe hinab. Sie hatte es das erste Mal geschafft, allein ihr Kleid zu schließen. Es gab einen Trick.
Froni erwartete sie mit Puder sowie anderen ihr Gesicht verzierenden Utensilien.
„Morgen“, hauchte Aishe. Sie saß auf dem Stuhl, auf dem zuvor Alina geruht hatte. „Oh. So ein wundervolles Kleid hätte ich als junges Mädchen gern getragen.“ Sie bedeckte ihre Lippen, senkte den Kopf und lehnte diesen zur Seite. „Die Jungen werden sich nach dir umschauen. Junge Dame“, spekulierte Aishe mit einem lobenden Tonfall, während Froni Antonia einen Umhang verpasste, um mit ihrem Werk zu starten.
Alina stürmte, nur in Unterwäsche bekleidet, in die Küche und kreischte: „Ich zieh das Kleid nicht über!“
Franziska eilte, ein rosa Rüschenkleid in der Hand, ihr hinterher.
„Ich trag wieder den Hosenanzug!“, kreischte ihre Tochter.
Die Hausherrin holte das Kind ein, packte es flugs am Arm. Sie japste Luft holend: „Bei oana kirchlichn Drauung kannst du ois Madl doch koa Hosn oziang!“
Alina raste aus der Küche.
Antonia sprang auf, spurtete auf Franziska zu. „Ich mache das“.
Wer, wenn nicht sie, schoss es Antonia durch den Kopf.

Alina lag auf ihrem Bett und heulte.
Sie setzte sich zu ihr, strich über ihren Rücken. „Was ist?“
Sie schob ihre Hand weg und schluchzte: „Ach, ich zieh kein Kleid an, damit basta!“, während sie ihre Freundin anschielte. „Schon gar nicht dies.“
Mit einer gezielten Rechten boxte sie gegen das Kleid.
Antonia hielt es an ihren Körper. Es ähnelte dem Kleid, welches sie bei Josephines Hochzeit getragen hatte. Es war ein typisches Prinzessinenkleid, verspielt, mit Rüschen sowie Tüll.
Sie rümpfte die Nase. „Es ist schrecklich!“
Alina richtete sich auf und schniefte. „Was ist schrecklich?“
Das rechte Ende ihrer Oberlippe heraufgezogen, schüttelte Antonia das Kleid wie einen Lumpen. „Das würde ich nie anziehen!“ Dabei dachte sie, an das Rüschenkleid, das sie getragen hatte.
Alina stemmte ihre Fäuste in die Taille. „Warum würdest du mein Kleid nicht tragen?“
Die Schultern hebend, schaute Antonia zur Seite. „Ich bin kein Baby.“
„Ich etwa?“, kam es prompt zurück. Sie schnappte sich das Kleid, drückte es an ihre Nase. „Es war mein Lieblingskleid.“
Antonia pustete eine Strähne von ihrer Stirn. „Pardon, ich wusste nicht, dass du auf Prinzessinenlook stehst?“
Alina presste das Kleid an ihre Brust und wandte sich ab. „Ist das schlimm?“
Die Augen verdrehend, schlingerte Antonia mit ihrem Oberkörper. „Nein! Aber? Du hast keine Kleider.“
Alina drehte ihr das Gesicht zu, zog ihre Augenbrauen zusammen und zischte. „Mädchen!“ Dann grinste sie.
Antonia steckte ihre Zunge heraus. „Klar! Und?“
Ihre Freundin nickte, klatschte sogleich in die Hände. „Wieder hast du es gemacht?“
Antonia senkte ihre Schultern, ferner ihre Mundwinkel. „Was?“
„Du redest wie ein Bub. Manchmal glaub ich, du wärst einer. Jetzt hast du mir wieder bewiesen. Du bist keiner. Obwohl?“ Alina musterte sie und lehnte den Kopf auf ihre Schulter. „Ich habe dich bisher nie nackt gesehen.“
Den Mund gespitzt betastete Antonia ihr Ohrläppchen, spielte mit ihrem Ohrring. „Wie?“
Die Zähne gefletscht, ballte Alina ihre Hände zu Fäusten. „Kannst du nicht in ganzen Sätzen sprechen? Du warst an meinen Kleiderschrank, welcher Junge geht, an fremde Schränke?“

Antonia schloss kurz ihre Augen und blies den Inhalt ihrer Lunge in den Raum. „Wi Deern van de Küst snacken nich vööl!“
„Wie?“
Ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen, richtete Alina sich auf. „Junge!“, spuckte sie buchstäblich hervor.
Sie schürzte die Oberlippe und zischte: „Ich habe dich nur nicht verstanden. Was du gesagt hast?“, dabei rümpfte sie ihre Nase. „Red bitte deutsch mit mir, sonst spreche ich niederbayrisch.“
Antonia streckte ihren Körper, überkreuzte die Arme und schlang die Finger um ihre Schultern. „Wir Mädchen von der Küste reden nicht viel.“
Alina lachte erst, dann begann sie abermals zu weinen.
Den Blick gesengt, strich Antonia über den rechten Oberarm ihrer Freundin. „Wenn das dein Lieblingskleid ist, warum möchtest du es nicht tragen?“
Das weinende Mädchen rieb sich die Tränen mit ihrem Handrücken vom Gesicht, zog die Augenbrauen zusammen. „Weil ich niemals wieder Kleider oder einen Rock anziehe. Nie und nimmer!“
„Erzähl!“

Es war bei Aishes und Fridolins Hochzeit, beschrieb Alina, schluchzte sie. Der Saal war gefüllt, viele Gäste, Freunde vom Brautpaar waren zugegen. Am Abend schwang man das Tanzbein. Ein Junge hatte es ihr angetan. Sie kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen. Getanzt hatten sie. Da kam Matthias auf sie zu, machte sie an, warum sie nicht mit einem Deutschen tanze? Er hatte gleich einen Tanzpartner für sie, ob ihr Bruder ihm vertraute oder erst kennengelernt hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Der Bursche war älter als Matthias. Er hatte einen Schnurrbart. Der Fremde war nett, zuvorkommend. Ein Tanz folgte dem anderen. Später am Abend lud er sie auf eine Cola ein. Nach draußen die Sterne beobachten. Matthias kam mit. Sie setzten sich auf eine Bank und Alinas Bruder hockte sich ins Gras. Der Junge zeigte ihr die Gestirne, machte ihr Komplimente. Dann küsste er sie auf die Wange. Dabei glitt seine Hand unter ihren Rock. Matthias glotzte. Sie lief weg, einfach weg.
Alinas Augen waren rot und feucht. „Weist, wie sich das anfühlt?“

Wie sollte sie es wissen, sie verstehen? Oder? Antonia entsann sich mit Scham an den gestrigen Tag. Verspürte erneut das Kribbeln auf der Haut, angenehm warm durch die zarte Strumpfhose. Glotzte auf Stephens sorgsam manikürte Fingernägel. Wie Maden krochen sie, eine Schleimspur hinterherziehen, unter ihren Rocksaum. Zum Angriff bereit, sich in ihren Körper zu bohren. Ihr einen Teil ihrer Seele zu stehlen und diesem Wesen darzubieten. Sie lediglich beschützt vom feinen Garn.
Antonia senkte zuerst den Kopf, dann schoss ihr Haupt in die Höhe. „Ja!“, fegte es über ihre Lippen. „Ekelig! Grauenhaft!“
Alina riss Augen und Mund auf. „Und?“
Die Lider geschlossen, wandte sie ihr Gesicht ab. „Angeschrien habe ich ihn. Fertiggemacht!“
Die Hand der Freundin glitt über ihre Schulter. „Du bist stark!“
Antonia berührte Alinas Brustkorb und rief: „Stark! Wir Frauen sind die Herrscher, nicht die hormongesteuerten Kerle. Wir haben die Macht. Müssen uns dem nur bewusst werden.“

Verwundert von den eigenen Worten, flog ein Lächeln über Antonias Lippen, bedankte sich schweigend bei Karl. Er hatte ihr die Mädchenzeitschrift geschenkt. Nichts ahnend, dass sie gelangweilt jeden Artikel studiert hatten.
„Schau sie dir an“, nahm sie den Faden wieder auf. „Leere Hüllen ohne Verstand.“
Alina griff an ihren Nacken, als schiebe sie ihre sonst über ihren Rücken fallenden Haare beiseite.
Antonia hob ihre Mundwinkel. „Warst du vorhin im Frühstücksraum?“
Die Augenbrauen hochgezogen, schaute ihr die Freundin in die Augen. „Nein!“
Antonia gluckste: „Ein Anblick für die Götter. Wie sie dasaßen! Fehlten nur die qualmenden Zigarren in ihren Mäulern. Graue Herren stumpf, teilnahmslos harrten sie aus in ihrem Beisammensein. Warteten auf Momo, die mutig die Zeit befreite, um jene düsteren Herren für ewig von der Erde zu verbannen.“

Alina nahm ihre Hand. „Du bist wie Jenni.“ Ihre Stimme bebte.
„Jenni?“, wiederholte Antonia.
Sie hatte das Buch nicht bis zum Ende verzehrt. Den Charakter von Sabines Freundin nicht vollständig ergründet.
„Ich bin eher wie Sabine“, half Alina ihr im Verständnis. „Lauf weg, stell mich nicht dem Problem! Aber …“
Antonia zuckte zurück. „Aber? Was für ein Zweifel?“
Alina schwang ihren Oberkörper. „Ist es nicht unsere Aufgabe, den Herren zu dienen, ihnen eine liebevolle Gattin zu sein! Sich für sie hübsch zu machen, um Wohlgefallen zu zeigen?“
Antonia stütze ihre Fäuste in die Taille. „Wer hat die den so einen Dünnschiss erzählt? Dein Bruder! Wie?“
„Nein! Mit dem rede ich nicht. Jannette hat es mir beigebracht.“

Jannette! Wieder dieses Weib. Antonia verspürte eine enorme Begierde, das Verlangen das Geistwesen kennenzulernen.
„Hast du es ihr erzählt?“
Alina atmete tief ein und druckste: „Ja. Sie hat mir gesagt, dass es mit dazugehört, wenn man zu einer Frau wird.“ Sie schwieg. „Manchmal wäre ich lieber ein Junge.“
Antonia lachte, dann verzog sie ihr Gesicht, wie nach einem Biss in eine Zitrone. „Einer von diesen Ekelpaketen?“
Ihre Mimik eingefroren ergriff Alina ihre Hände, sah sie an, murmelte: „Es gibt andere“.

Erschrocken der Worte wechselte Antonia auf das ursprüngliche Thema. „Was haben deine Eltern gesagt?“
Alina legte ihr Kinn auf ihre gefalteten Finger. „Franziska hat mich aufgefordert, mich bei Matthias zu entschuldigen.“ Sie sprang auf, hüpfte vom Bett. „Wofür? Dass er zusehen wollte, dieses Schwein!“ Sie ballte eine Faust, grummelte. „Sagte dir. Nur Jannette stand mir bei.“ Mit zitternden Fingern zeigte sie auf die von Antonia vor dem Aufstehen gelesene Lektüre. „Das Buch hat sie mir geschenkt. Ich könne dann verstehen.“ Ihre Stimme stockte. „Seitdem begreife ich nichts mehr. Zumindest verbat sie Matthias, die Pferde zu pflegen.“ Die Arme erhoben, marschierte sie durch ihr Zimmer. „Jetzt weißt du es, weswegen ich Röcke meide. Ich habe Angst, eine Hand könnte mich berühren.“ Abrupt blieb sie stehen, leckte über ihre Lippen. „Obwohl mir Kleider gefallen.“ Sie wandte sich um und Antonia blickte in ihre skeptisch wirkenden Augen. „Jungen ziehen keine Röcke an.“ Alina schritt auf Antonia zu. „Kannst du dir vorstellen, welch eine Qual es ist, Schuluniform tragen zu müssen?“ Sie senkte ihre Lider. „Nur geschützt von einer Strickstrumpfhose.“

In dem Fall konnte sie mitfühlen, sie entsann sich an den gestrigen Tag, den mehrlagigen Rock mit den dicken Kniestrümpfen. Sie nahm das Prinzessinenkleid in die Hand und dachte an die Maden. „Dann zieh eine Strumpfhose darunter an.“
„Eine Feinstrumpfhose“, zischte Alina und berührte ihre Knie. „Kann ja gleich nackt laufen!“
Antonia verzerrte ihr Gesicht zu einem Grinsen. „Nein! Eine aus Wolle“, schob sie nach, obwohl sie diese nicht gemeint hatte.
Alina klopfte an ihre Schläfe. „Ersten sieht das total behämmert aus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Zweiten sind meine im Internat!“
Woher Antonia auf einmal die Idee herhatte, wusste sie nicht. Sie sprang auf, rannte zu ihrer Reisetasche.
„Wie wäre es …“, sie blinzelte, dabei öffnete sie die Tasche, „mit einer weißen Leggings?“
Ihre Freundin deutete auf das festliche Kleid, schlug sich an die Stirn. „Zu dem Teil eine Leggings. Das sieht ja verboten aus!“
Antonia zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Unter einem mintfarbenen Rock?“

„Otonia!“, hallte es über den Flur. „Deine Froni wartet auf dich“, erklang es hämisch.
Antonias Puls raste. Das Schicksal hatte ihr die richtige Person zugetrieben. Sie stürmte heraus, hob die Hand, schlug zu.
„Schickse, narrische, bist ganz damich worden?“, zischte Matthias und rieb über seine Wange.



Totenklage

Matthias erfasste Antonia Unterarm und zerrte sie in sein Zimmer. Kaum hatte sie sein Reich betreten, riss sie sich los, runzelte die Stirn und erhob ihre Faust. „Du Schwein!“
Er trat einen Schritt zurück, rieb sich nochmals die Wange. Ohne auf sie einzugehen, wandte er sich von ihr ab und schloss die Zimmertür. Erst danach richtete er seinen Blick auf ihre geballte Hand. „Was soll das, was habe ich dir getan?“
Mit einem auf den Boden stampfend, zuckte ihr Körper, sodass ihr Kopf vibrierte. „Mir? Was hast du Alina angetan. Du wolltest zusehen, wie dein Freund sie misshandelt?“
Matthias sah zur Zimmerdecke und presste hervor: „Erstens war es nicht mein Kumpel“.
Er senkte sein Haupt, seine Arme sausten hinab, dabei murmelte er: „Zweitens Frage deine Mutter, warum ich die Sozialstunden absitze“. Er umklammerte er sein Genick. „Verprügelt habe ich ihn. Krankenhausreif geschlagen!“ Er ballte eine Faust, hielt diese sogleich Antonia vor die Nase. „Niemand fasst meine Schwester an. Niemand!“ Er wandte sich von ihr ab. „Weißt du nicht, was Ehrgefühl ist?“
Antonia zog ihre Achseln herauf und zeigte ihm ihre nackten Handflächen. „Ehre?“, schlug ihre Stimme ihm entgegen. Sie überkreuzte die Arme, legte die Hände auf ihre Schultern. „Weißt du, wie ein Mädchen sich fühlt, wenn sie jemand begrapscht?“

Er erhob sein ausdrucksloses Gesicht und hauchte: „Nein“, wobei er seine Augenlider sengte. „Ich bin ein Junge.“
Antonias Wangen liefen rot an, ihre Lippen bebten. Seine Welt war gar rar wie ihre, dabei hatte sie die navigatorische Freiheit. „Ihr Kerle seid widerwärtig. Denkt nur daran, eure Fäuste spielen zu lassen. Was Herz ist, wisst ihr nicht. Verprügeln, euch in Schwitzkasten zwängen, aufzeigen, wer der Stärkere ist, mehr habt ihr nicht im Kopf. Zu ihr hättest du stehen sollen, sie trösten, in die Arme nehmen, zu deinen Eltern gehen. Der Polizei den Rest überlassen, nicht das Gesetz ergreifen.“ Eine Träne quoll aus ihrem Auge. „Geh zu ihr!“
Antonia stand an einem Abgrund. Ein Schritt weiter und es gab für sie kein Zurück mehr.
Er atmete schwer. „Aber sie spricht nicht mit mir. Nur das Nötigste!“
Die Lider geschlossen, wies sie auf die Dielen. „Fall vor ihr auf den Boden. Entschuldige dich. Steh ihr bei. Dies ist Stärke!“
Matthias trat einen weiteren Schritt zurück. „Was? Jetzt!“ Er verhüllte sein Gesicht. „Nicht heut.“
Antonia stemmte ihre Fäuste in die Taille. „Wie lange willst du warten. Bis sie verheiratet ist.“
Die Hände weiterhin auf den Augen, schlich Matthias zu seinem Schreibtisch. Er ergriff das Schwarz-Weiß-Foto, an dessen Ecke ein Trauerflor befestigt war.
Mit zitterndem Finger strich er über das Bild, flüsterte: „Mein Großvater ist tot“.
Antonia sah ihn an. Sie schritt zu ihm, legte ihre Hand auf seine Schultern. „Wie bitte? Wann ist das passiert?“
Ohne vom Bild aufzusehen, betastete er weiterhin das Foto und murmelte: „Niemanden interessiert es“.
Sie strich über Matthias Rücken. „Er war alt“, versuchte sie ihn, zu trösten. „Nicht beliebt.“
Er schwang seinen Kopf herum, schaute ihr ins Gesicht. „Er war ein Held!“

Die Augenbrauen zusammengekniffen lächelte sie ihn, derweil sie an ihre Schläfe tippte, an. „Ein Held?“, wiederholte sie. „Im Umbringen von Menschen, oder wie?“
Matthias senkte sein Kinn. „Mein Großvater hat niemanden umgebracht. Er war Soldat.“
Erneut klopfte sie sich an ihre Stirn. „Soldaten sind nette Menschen, haben ein Gewehr, um sich damit abzustützen.“
Er presste die Lippen. „Die Wehrmacht hat das deutsche Volk verteidigt!“, donnerte er ihr entgegen.
Sie nickte. „Dein Großvater war einer von diesen liebenswerten Menschen, die, um sich zu verteidigen, in andere Länder einmarschieren.“
Seinen Arm erhoben, verzog er sein Gesicht. „Der Großvater war nicht an der Front. Er hat dafür gesorgt, dass der Deutsche Volksstamm in Frieden sich entfalten konnte.“ Er stotterte: „Er hat Kollaborateure aufgespürt“.
Antonia zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Du meinst, er hat Widerstandskämpfer gejagt?“
Er verschränkte seine Arme. „Da bist du falsch informiert. Mein Opa war Rebell, erst gegen die Besatzer, später gegen die aus dem Ausland gelenkte Politkaste. Dort, wo er war, war das Volk befreit.“
Sie überkreuzte die Beine, verflocht ihre Unterarme und grinste ihn an. „Wo war dein Held?“
„In Rotterdam“, schoss es über Matthias Lippen.
„Rotterdam liegt bei mir in den Niederlanden“, wetterte Antonia.
Seine Miene versteinerte, sang er: „Vom Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Das ist das deutsche Vaterland.“

Matthias beugte sich über den Schreibtisch, schnappte einen metallischen Gegenstand, hielt ihn direkt vor ihre Augen. „Diesen Orden hat mein Großvater dafür erhalten, weil er eine Schandtat gemeldet hatte.“ Er pausierte, schaute sie an. Sie blieb stumm. „Er hatte einen SS-Offizier angezeigt, der auf offener Straße eine Frau erschossen hat.“
Antonia versteinerte. Sie konnte nichts sagen. Die eine Geschichte, eine Mär, erfunden von einem Schriftsteller, unter Umständen mit historischem Hintergrund. Die andere eine Tatsache oder wie Matthias Großvater die Realität wahrgenommen hatte. War ihr Opa Nahne nicht ein Mensch gewesen, welcher fantastische Legenden erzählt hatte, um sich, in einem besseren Licht zu präsentieren.
„Ja. So war das. Die SS und die Wehrmacht konnten sich nicht leiden“, schlug er sie aus ihren Gedanken.
Sie deutete auf ihn und schluckte. „Deine edlen Soldaten haben die KZ befreit?“
Die Stirn gerunzelt, schüttelte er seinen Kopf. „Nein!“, harschte er sie an. „Wie sollten sie den? Außerdem war alles anders geplant.“ Er richtete sich auf. „Nicht, wie du es in deinen gefälschten Schulbüchern gelesen hast.“

Antonia sah ihn fragend an.
„Klar! Du kennst nicht den wahren Plan des Führers“, trötete er.
Sie blieb stumm.
„Er liebte alle Menschen. Alle auf ihren Platz“, gab er zum Besten.
Keine Reaktion von ihr. Sie sah ihn nur verwundert an.
„Warum war Rommel in Afrika?“
Antonia zog ihre Oberlippe herauf, während sie die Schultern senkte. „Um Nordafrika zu besetzen!“
Er hob seine Arme und grunzte: „Alles Fake. Lügen der Besatzer. Rommel sollte Israel befreien, damit die Juden, wie wir Deutschen, wieder eine eigene Heimat haben.“
Sie tippte sich an ihre Schläfe. „Deshalb beraubte man sie und steckt sie in Arbeitslager.“
Matthias‘ Lippen verformten sich zu einem Lächeln. „Ich würde es anders umschreiben.“ Abermals richtete er sich auf, wie ein Soldat, der seinen Rapport abgibt. „Eine Befreiung ist kostspielig. Man musste sie zu ihrem Glück zwingen. Zu den Waffen konnten sie nicht. Sind sie uns nicht im Ersten Weltkrieg in den Rücken gefallen?“
Antonias Wangen liefen rot an. „Damit die Transportkosten nicht zu hoch würden, haben deine Treuen sie vergast und verbrannt. Da Asche besser gepresst werden kann.“

Antonia kochte vor Wut. Langsam gingen ihr ihre Texte aus. Sie konnte es nicht riskieren, dass ihre Gefühle mit ihr durchgingen. Ihr Schutzschild zerbrach, wie bei der Enterprise beim Einschlag des letzten entschiedenen Photonentorpedo der Klingonen. Sie drückte ihre Hände auf ihre Ohren, dachte an Sonja. Ihre Reaktion kam ihr in den Sinn, wie diese reagierte, sofern sie auf Alarmstufe Rot stand.
Antonia schnellte ihre Rechte hinter ihren Rücken und schrie: „Wenn du nicht gleich mit diesem gequirlten Schwachsinn aufhörst. Dann beweise ich dir, dass auch Mädchen gewalttätig werden können!“
Ihr Angriff zeigte eine Reaktion. Matthias schritt zurück. Verstummte.
„Geh zu deiner Schwester. Zeig ihr, wie mutig ein Kerl sein kann!“
Wortlos schleppte er seinen Körper zur Zimmertür.
„Aber klopfe an, sie sieht sich um“, rief sie ihm hinterher.
Die Knie versagten ihr. Ermattet sank sie zu Boden.



Trauungen

In der mit schneeweißen sowie mit blutroten Rosen geschmückten Dorfkirche spielte die Orgel den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Ränge eng besetzt mit allen Einwohnern des Dorfes, sowie der umliegenden Gemeinde, still, harrend des Kommenden.
Ein Messdiener im sandfarbenen Leinengewand schritt, hielt das Bild des Herren vor seinen Körper, wie ein Infanterist das Gewehr mit aufgesetztem Bajonett. Zwei knabenhafte Gefolgsleute folgten ihm. Dichte Rauchschwaden hüllten den Nächsten ein. Er pendelte pausenlos einen goldblonden Weihrauchschwenker. Karl, mit halb geschlossenen Lidern, umkreist von vier Flambeauxträgern, hielt die in Gold geschlagene Heilige Schrift über seinen Kopf. Der Gemeindepfarrer schleppte seinen untersetzten, schmalbrüstigen Körper mit gesenktem Haupt hinterher. Ihm folgten die letzten beiden Messdiener.
In andächtigem Abstand schritt das Brautpaar in die Kirche. Er in einem cremeweißen Anzug, der sein Anglist in keiner Weise männlicher erscheinen ließ. Eher wie eine zweite Braut, welche sich nicht traute, ihre Femininität darzubieten. Sogar der bordeauxfarbene Plastron stach ab. Er vereinigte sich nicht einmal mit den blutroten Rosenschmuck. Wie ein Fremdkörper klebte die Blumenpracht an einem schneeweißen Einstecktuch. Sie! Sie schwebte neben ihm, in ihrem bodenlangen, ausladendem Brautkleid. Hochgeschlossen, mit glitzernden Pailletten bestickt. Ihr Arm bei ihm eingeharkt. Ihr Gesicht verhüllt mit einem seidigweißen Tüllschleier.
Vor ihren Füßen versuchten zwei Mädchen, Schritt zu halten. Sie steckten in blütenweißen Kleidchen. Ihre feingliedrig Hände umklammerten Blüten befüllte Weidenkörbe.
Den Schluss der Prozession formten zwei jugendliche Damen aus dem Dorf. Ihre knöchellangen altrosafarbenen Kleider wehten feenhaft um ihre Beine.
Davor ein Ensemble von drei Jugendlichen. Ein Pärchen ferner ein Mädchen bildeten diese Gruppe. Das Madel in ihrer mintgrünen Kombination leuchtete, stach heraus. Dennoch strahlten ihre hängenden Schultern, ihr suchender Blick, nebst ihrer permanent rollenden Augen, alles andere als Euphorie aus.
Das Pärchen mit hoffnungsfrohem Lächeln schritt ihr voraus, jene dem Brautpaar hinterher. Er in mitternachtsblauem Anzug gab ihr den Arm. Sie wie die Braut in weißem Kleid. Nur der rostbraune Gürtel, fernerhin die gleichfarbigen Pumps waren eher ausgefallen für ein Brautgewand.

Es war das erste Mal für Antonia, dass sie bei einer kirchlichen Zeremonie zugegen war. Abgesehen von Josephines Hochzeit, bei jener sie als Torben, der Junge in Blumenmädchenkleid, neben dem Fiesling geschritten war.
Es war eine andere Trauzeremonie gewesen, protestantisch nüchtern. Keine Prozession, nur vier Person schritten in die Kirche. Sie mit ihm, gefolgt von der Braut und ihrem Vater, den Antonia nie zu Gesicht bekommen hatte. Erst war er hinter ihr, dann verschwunden.
Diesmal war alles fremd, gleichwohl ihr der Ritus bekannt war. Keine Blamage zerknüllte ihr Herz. Welches Mädchen träumte nicht von der prachtvollen Hochzeit. Sie wie eine Prinzessin, neben ihren Auserwählten geführt zum Traualtar. Sie schaute über ihre Schultern. Erwählt? Franziska hatte ihn an ihre Seite gestellt. Ihre Worte klangen nach. ‚Ach, sehen die beiden zusammen nicht süß aus‘, hatte sie ihren Gatten angeschmachtet. ‚Wie ein zweites Brautpaar‘.

Dass sie hinter ihre sogenannte Mutter schritt, war klar. Aber er. Alina sollte ursprünglich neben ihr wandeln. Franziska der Ansicht, sie gehöre mit ihrem Outfit eher in die zweite Reihe. Sie war weiterhin sauer, dass sie nicht das Kleid angezogen hatte. Dabei war Antonia verwundert, weshalb ihre Freundin überhaupt mitging. Es sei den Alinas Annahme, Stephen wäre ihr Vater, treffe zu.
Sie schmiegte sich an Matthias‘ Körper.

Antonia setzte sich ins linke Chorgestühl neben ihren Bräutigam, beide eingerahmt von den Blumenmädchen. Nach einem kurzen Blick auf den andächtig seine Hände faltenden Matthias, schaute sie auf den Altar, auf das Gestühl vor diesem. Auf den übertrieben mit Rosen geschmückten Stühlen saß das Brautpaar und beobachte wortlos Karl. Dieser positionierte, von Messdiener begleitet, in einer nahezu undurchlässigen Wolke von Weihrauch, die Heilige Schrift auf den Altar.
Das Mädchen neben ihr zupfte an ihrem Kleid, verschränkte ihren Körper. Die Lippen gepresst, rieb sie ihre bestrumpften Beine, wie eine Schlange, die ihre zu eng gewordene Haut abzustreifen wünschte, jedoch keinen Stein fand, um sich zu wetzen. Ihre knabenhaften, kurzen Haare weckten in Antonia Erinnerungen.
Gedanken an eine Epoche, die für sie scheinbar weiter zurücklag als das Mittelalter, gleichwohl in der Zeit nah. Sie war nicht verrückt, klar bei Verstand. Sie war keine Tochter allein een nüüt Deern auf Zeit. Für einen Tag sowie eine Nacht. Einzig derart gelang es ihr, die von Torben aufgetragene Mission zu beenden.

Karl erhob das Wort, begrüßte das Brautpaar, die Familie, die Gäste, vergaß nicht die Dorfbewohner und ihre Freunde aus der Nachbarschaft. Er unterbreitete den Einwohnern mit unterschwelligem Verzücken die frohe Botschaft, inwiefern er in absehbarer Zeit das Amt des neuen Oberhirten einnahm.
Ohne es direkt anzusprechen.
Ob diese Nachricht, der anhaltende Wortschwall dem Bräutigam ein gewisses Unbehagen umfiel, oder aufgrund der erhöhten Lufttemperatur des zum Bersten gefüllten Gotteshaus erkannte Antonia nicht. Jedenfalls schwang er sein Becken, zuckte mit seinen Gliedern wie das Mädchen an ihrer Seite. Zeitgleich fasste er, ohne eine Pause einzulegen, an seinen Halsschmuck, bis der zukünftige Bischof die Brautleute zum Sakrament aufforderte. Worauf diese sowie die Gemeinde sich erhoben. Antonia folgte nicht allein der Anweisung, sondern gleichfalls der Zeremonie gespannt, erwartend.
Unter Karls Diktat sprach das Brautpaar ihre Trausprüche, steckten sich gegenseitige, gefolgt vom Lüpfen des Brautschleiers, die Ringe auf.
Der Bräutigam küsste die Braut, erst zaudernd, dann innig. Eine intime Annäherung, die der Gemahlin, gezeigt durch ihr verkrampftes Gebaren, alles andere als gefällig schien. Sie dennoch die Qual über sich ergehen ließ.
Mit einer abweisenden Geste nahmen, die mit Gottes Segen vermählten, wieder Platz. Mit einem Zögern tat es ihr Bräutigam gleich, woraufhin die Gemeinde seinem Beispiel folgte.
Antonia streifte ihr Kleid an ihr Gesäß, setzte sich wieder auf die Holzbank und wandte mit Spannung ihr Gesicht dem Geschehen zu. Karl rief den Gemeindepfarrer zur Pfingstmesse auf und Stephen verharrte starr, wenngleich er weiterhin seine Augen auf Karl beließ.
Der Rest der Feierstunde verlief nach festem Ritus. Eine geschmetterte Predigt des Pfarrers erklang, gefolgt vom Segnen der Brautleute. Das Abendmahl beendete das Hochamt.


Er ist ein Baum

Aishe nahm Stephen in die Arme. „Mensch, du zitterst am ganzen Leib.“
Er bedeckte den Mund. „Ich habe ihn wiedererkannt!“
Die Stirn gerunzelt, die Augenbrauen zusammengedrückt, tätschelte sie ihm die Wange. „Wen hast du wiedergesehen?“
Den Brustkorb hebend, senkend, fuhr er sich mit zitternden Fingern über den Oberarm. „Der Kerl, der den Typen im grünen Geländewagen mit dem Gewehrkolben niedergestreckt hatte?“
Aishe presste ihren rechten Zeigefinger direkt unterhalb des Haaransatzes an ihre Stirn. „Wie? Warst du nicht bewusstlos?“
Er berührte seine Oberlippe. „Ich habe dir erzählt, ich kam kurz zu Bewusstsein.“ Er hob die Schultern und starrte ihr ins Gesicht. „Da hab ich ihn gesehen!“
Ein Auge geschlossen, lehnte sie ihren Kopf zur Seite. „Lagst du nicht mehrere Meter entfernt?“
Stephen benetzte seine Lippen, dabei wandte er sein Gesicht gen Himmel. „Er hat mich aus dem Feuer gezogen.“
Aishe stupste ihn an, lächelte. „Dann hat er dich gerettet!“
Er nickte. „Wer hat den Unfall verursacht?“
Sie rieb über ihren Nacken. „Der Typ im Geländewagen!“
„Warum?“. Er beugte den Oberkörper zu ihr. „Weil jemand ihn jagte.“
Aishe schwenkte den Kopf, wie eine Kobra vor einem Angriff. „Wer ist es, sage es mir?“
Seine Glieder versteiften. „Der Pfarrer! Der uns getraut hat.“
„Der Freund von Bärbel?“, knurrte sie, als könne sie dadurch Stephens Anklage revidieren.
Mit den Lippen berührte er ihr Ohr und flüsterte: „Die stecken alle unter einer Decke“.
„Wer? Wieso?“
Er schritt zurück, sah sie mit Unverständnis an. „Verstehst du nicht. Der Priester war zur Zeit der Geburt meiner Tochter in Südafrika.“
Aishe trat auf ihn zu, legte ihre Hand auf seine Schulter. „Alina?“
„Nein! Sie ist es nicht!“

Ihre Nasen trafen einander. „Du hast dies jedoch vermutet?“
Stephen riss sich los, wandte sich ab, wobei er seinen Kopf senkte. „Spekulation ist keine Tatsache. Seit Freitag weiß ich es!“
„Dass sie deine Tochter ist?“
Er hob die Arme, ballte die Finger zu Fäusten, beschwor: „Nein, dass sie es nicht ist. Ich war beim Amt“.
Sie tippte an ihre Stirn und griente. „Da bist du reinspaziert und hast die Adoptionsakten eingesehen.“
Die Arme verschränkt, grinste er zurück. „Nein. So einfach ist das nicht. Janet Stehimmer war da“, klärte er sie auf.

Aishe kratzte ihren Nacken. „Janet? Janet! Die Frau, deren Pferde Matthias gepflegt hat?“
„Ja. Die Anwältin von Lady Dösmann, die ihr Enkelkind ein Teil ihres Vermögens vermachen will.“ Er zwinkerte ihr zu, wobei sie lachte. „Mensch! Habe ich dir erklärt.“
Sie spreizte Daumen und kleinen Finger ihrer Rechte ab, drückte die Verbliebenen an ihren Wangenknochen und stöhnte: „Am Telefon“. Sie nickte, verbarg ihre Lippen. „Janet weiß Bescheid?“
Er klopfte den Rücken der rechten Hand in seine Linke und raunte: „Natürlich nicht“, dabei hob er seine Schultern. „Außerdem als Stephen hätte ich kaum auftreten können, immerhin bin ich der Anwalt der Obermeiers.“

Sie tippte an ihre Stirn. „Franziska hat dir eine Vollmacht gegeben.“
Er lehnte den Kopf auf seine Schulter und schloss das linke Auge und flüsterte: „Sie ahnt nichts“, dabei strich er ihr über die Hüfte. „Weswegen war ich auf deiner Hochzeit?“
Aishe überkreuze die Beine und zog eine Schulter hoch. „Um zu feiern?“
Er tippte an seine Brust. „Quatsch. Ich wusste überhaupt nicht, dass ihr an diesem Wochenende euch vermählt. Hat mir keiner was anvertraut.“
„Ich habe dir gesagt, ich heirate deinen Bruder, hab dich eingeladen, aber du wolltest nicht kommen. Warum sollte ich dir dann den Termin sagen.“
„Danke!“, schnippte Stephen.
Die Lippen gepresst, kreiste ihr rechten Zeigefinger an ihrer Schläfe. „Zur Feier des Tages legst du deiner Mutter die Vollmacht vor.“ Sie lachte aus vollem Hals.
Er stemmte seine Fäuste auf seine Taille. „Ach, sie lag mir dauernd in den Ohren, damit ich etwas gegen das Testament des Großvaters unternehmen solle.“
Sie spitzte den Mund. „Das hast du getan?“
Stephan schüttelte den Kopf. „Das Testament ist dingfest. Weswegen hab ich Tanja geheiratet, aus Liebe und Sehnsucht!“ Er spuckte. „Jedenfalls hab ich Alinas Geburtsurkunde eingesehen.“
Aishes Stirn kräuselte sich. „Ich dachte Janet.“

Sein Mund verzogen zu einem breiten Grinsen, erfasste er ihre Hand. „Hallo! Wo haben wir uns kennengelernt?“
Aishe lachte, wobei sie ihre Lippen verdeckte.
Stephen hob seinen linken Fuß an das rechte Knie und spreizte die Arme ab und flüsterte: „Ich bin ein Baum“.
Sie umfasste seinen Körper und schmunzelte. „Ich bin ein Eiszapfen, fand ich eleganter.“
Sein Gesicht, wie versteinert, wackelte er mit dem Hintern. „Bis wir wie eine Pfütze auf dem Boden lagen.“
Mit einer Handkante schlug sie gegen ihre Hüfte. „Besser, als gefällt zu werden“. Ihr Zeigefinger berührte ihren Mund. „Ist sie immer noch klein und dick?“
Stephane zog seine Augenbrauen zusammen. „Wer?“
Ihr Haupt zur Seite gelehnt, schaute sie ihn an. „Janet?“
„Glaubst du, sie ist gewachsen. Früher war sie pummelig, heute na ja. Ihre Pickel glänzen und ihr Haar …“ Er erfasste seine Perücke. „So würde ich nicht vor die Tür gehen.“
Sie lehnte ihren Oberkörper zurück und berührte seinen Arm. „Wo hast du sie getroffen?“
Seine Zungenspitze glitt über die Oberlippe. „Ich hatte mich mit Josephine verabredet. Sie reitet des Öfteren auf Janets Pferden.“ Er senkte seinen Kopf. „Sie kam auf die Idee! Wie damals auf den Partys.“
Aishe wedelte mit den Armen, trällerte: „Man ging es da heiß zu. Wie oft wir da abgerockt. Du im sexy Minikleid. Gute alte Zeit“.
Er schielte zur Zimmerdecke. „Das mit dem Kleid war einmalig, wegen des freien Eintrittes.“

„Ach ja. Stimmt!“ Sie schloss ein Auge. „Was ist nun mit Alina?“
„Sie ist in Brügge geboren“, erklärte er, während er ihre Hand erfasste. „So viel müsstest du wissen, dass man einiges bei einer Geburtsurkunde falsch angeben kann, den Geburtsort nicht. Meine Tochter kam in Südafrika auf die Welt. Ich weiß, wer sie ist!“
Aishes Finger glitten über seine Wange. „Wer?“
Er schloss die Augen. „Antonia!“
Ihren linken Mundwinkel angehoben, kam sie ihm näher. „Antonia?“
Stephen hielt ihr die rechte Handfläche hin. „Denk nach! Sie ist in Südafrika geboren und das Alter stimmt.“ Ein kaum hörbares ‚fast‘ schob er hinterher.
Sie nickte, strich über seine Schulter. „Von wem weißt du das?“
„Hat sie mir gestern erzählt. Außerdem ist ihr Vater Krankenpfleger.“ Er wandte sein Gesicht ab. „In der Klinik war ein jüngerer Mann“, erklärte er. „Ein Foto hat sie mir gezeigt.“
Aishe lächelte. „Vielleicht Zufall, dennoch ist er ihr Vater.“
Er verschränkte die Arme. „Eine falsche Mutter dazu!“
Ihr Kopf zitterte. „Wie eben hast du gesagt, Tanja sei Antonias Mutter.“
Er zürnte: „Habe ich nicht!“
Er machte eine Pause. Ohne ein Wort zu wechseln, sahen sie sich an.

Stephen durchbrach die Stille. „Sie ist meine Tochter. Gekidnappt haben sie das Kind. Die falsche Bande.“ Erneut verschränkte er die Arme und sah sie an. „Wo ist dieser angebliche Bruder von Tanja. Den gibt es nicht. Sie führen uns an der Nase herum.“
Aishe klopfte an seine Stirn. „Dann nehmen sie Antonia mit zur Hochzeit.“
Sein Kinn bebte. „Quälen wollten sie mich. Warum hat Tanja im Standesamt gezögert.“ Er starrte ihr ins Gesicht. „Die Watschen von Gertrude?“
Aishe nickte ihm zu und grinste. „Alles eine Intrige und Gertrude gehört dazu.“
Er winkte ab und pustete: „Ach, die ist alt. Auf Knien hat sie vor mir gelegen, nicht zu heiraten.“
Sie runzelte die Stirn. „Damit alles der Nazi-Bande in den Rachen geworfen wird?“
„Quatsch diese Stiftung. Hereingelegt hat sie ihren Bruder.“ Er kaute auf einem Fingernagel. „Antonia weiß bestimmt nichts! Hast du auf Josephines Hochzeit einen Torben gesehen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten. „Nein, ich sah ein Mädchen an Tanjas Seite.“

Aishe trat einen Schritt zurück, derweil sie auf ihn wies. „Du warst auf Josephines Hochzeit? Ich habe dich nicht gesehen?“
„Nur kurz. Habe dir die Hand gegeben.“
Sie riss die Augen auf. „Als Janet?“
„Nein!“ Er wedelte mit gespreizten Fingern vor seinem Gesicht. „Ist egal. Jedenfalls hast du mich nicht bemerkt.“ Er lachte. „Nicht einmal bei der Windelparty erkanntest du mich.“
Sie sah ihn von der Seite an. „Dann bist du mit Tanja abgeschwirrt?“
Stephen hob den Kopf, sah in den wolkenlosen pastellblauen Himmel und brummte: „Ich wollte mehr erfahren“, dabei schaute er sie an. „Egal. Vergangenheit ist Geschichte. Ich muss nach vorne schauen.“
Aishe bedeckte ihre Lippen. „Was hast du vor?“
Das Gesicht versteinert, ballte er die Hände. „Meine Tochter befreien und diesem elenden Karl das Handwerk legen.“



Sichtweisen

Bärbel betrat Tanjas Schlafzimmer und wischte sich den Mund ab.
„Geht es dir besser“, raunte Tanja, worauf Bärbel das Taschentuch in ihre Handtasche steckte, sogleich auf den Laptop deutete. „Du hast mit dem Alten …“
Tanja strich über ihr weißes Kleid. Weder die Fotos noch die Videos forderten Tanjas Herz auf, gar einen Schlag mehr zu pochen. Es waren Bilder, wie aus einem vergilbten Fotoalbum. Ablichtungen aus einer fernen Zeit, obwohl ein Teil neuen Datums darunter waren. Sie konnte, wollte sich nicht mit der Person identifizieren, egal ob sie ihren Körper erkannte, oder gar ihr Gesicht, wenn dieses auf den Aufnahmen abgelichtet war. Einige Szenen verbanden sich mit ihren Erinnerungen, die selbst vergilbt, verschwommen, mit anderen Berichten, Erlebnissen Fremder verwoben waren.
Die Fragen, welche für sie im Zentrum lagen, waren, wer hatte die Aufnahmen getätigt und wer ihr diese untergejubelt?
Bärbels Reaktion hatte ihr aufgezeigt, dass diese Frau, die sie in all den Jahren gehasst, gleichfalls geliebt hatte, fern jener Person war. Tanja spürte gar ein Verlangen, sie zu trösten, sie zu umarmen, sie zu küssen. An eine Zeit anzukoppeln, in der sie, Tanja entblößt jeder Konvention, ihr näher war, als es ihr in ihrer Rolle zustand.
„Sprich es aus“, schrie sie, warf ihren Kopf zurück und schaute Bärbel an. „Geschlafen? Nein! Befriedigt habe ich ihn, das war alles.“ Sie sah auf den Monitor und grinste. „Es war Schwerstarbeit. Zugegeben, er hatte beim letzten Mal ein Lächeln auf den Lippen.“

Bärbel setzte neben sie, legte die Hände in den Schoß, schaute sie schließlich an. „Warum?“
Tanja tippte auf den Bildschirm. „Er hat es herausgefunden.“ Wut keimte in ihr auf. Dieselbe Wut, welch sie damals empfunden hatte. „Woher weiß ich nicht!“ Die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, trommelte sie auf ihrer Unterlippe und murmelte: „Ich habe die Filme erst vor Kurzem bekommen“, dabei hob sie ihre Schultern.
Bärbel runzelte die Nase. „Dabei waren wir immer vorsichtig.“ Sie stierte erneut auf die Bilder. „Die sind wirklich eklig.“
Tanja verschränkte ihre Arme, lehnte ihren Kopf zur Seite und folgte dem Blick von Bärbel. „Na ja! So eklig sind sie nicht. Ein Mädchen, was sich befriedigt.“
Bärbels Hand sauste auf ihren Mund. Mit aufgerissenen Augen schaute sie Tanja an. „Hast du dabei Spaß gehabt!“
„Selbstverständlich nicht. Ich hatte Hunger und Angst.“ Erneut wies sie auf den Computer. „Die Filme, die mir das Schwein gezeigt hatte, waren erbärmlicher, wenn ich das alles nachgespielt hätte, dann säße ich nicht hier!“

Bärbel rümpfte erneut die Nase und zischte: „Aber mit dem Alten. Ich wusste, wie widerwärtig er war“. Sie strich über Tanjas Schulter. „Du glaubst, dein Peiniger sei zurück?“
Tanja schaute erneut gen Zimmerdecke. „Ja. Nein. Beim ersten Mal glaubte ich, er sei hier“, sie schwang zuerst mit dem Kopf, dann wandte sie wieder ihr das Gesicht zu, „später es wäre ein Traum gewesen.“ Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, flüsterte sie: „Gestern habe ich mich mit ihm unterhalten. Unterhaltung wäre zu viel gesagt.“ Sie schleuderte eine Faust auf ihr Knie. „Dennoch kann er es nicht sein. Er ist tot. Obwohl, ich habe nie seinen Leichnam gesehen? Das weißt du alles.“
Bärbel nahm ihre Hand. „Wenn er es nicht war?“
Tanja tippte sich an die Stirn. „Wer sonst? Der ominöse dritte Mann oder was? Er wusste alles! Sachen, die ich nie erzählt hatte und dann die Schatulle.“ Sie schluchzte: „Nie werde ich sie vergessen. Wie sie neben mir auf dem Rücksitz lag, bevor er mich wie Abfall in den Graben warf“.
Die Lider geschlossen, berührte Bärbels Daumen die Wange der Braut. „Ach Kind, was habe ich dir angetan!“
Tanja richtete ihren Oberkörper auf. „Warum du?“
„Du hättest alles aufarbeiten können!“
„Du bist gut“, entgegnete Tanja. „Zeit hätte ich bestimmt genug gehabt. Nein! Ich grolle dir nicht. Es war mein Entschluss gewesen.“
„Was willst du unternehmen?“
Tanja pochte auf ihren Mund. „Ich habe da eine Idee.“
Bärbel schürzte ihre Lippen. „Mach keinen Bockmist! Apropos Blödsinn. Unseren Vorhaben legen wir erst einmal auf Eis. Sicher ist sicher.“
„Aber. Ich habe längst alles in die Wege geleitet.“
„Las es!“, befahl Bärbel.



Streifzug

Jenny beugte sich über ihren Rucksack und zischte: „Ich habe dir doch verklickert, du kannst der Thekla nicht trauen!“, dabei richtete sie sich auf. Sie legte ihren linken Arm um ihre Taille und drückte den rechten Daumen an ihr Kinn. „Aber, dass sie ein junges Mädchen entführt“, sinnierte sie und strich über ihre Lippen. „Ich hatte vermutet. Irgendetwas hatten sie vor. Gab Probleme. Die ersten Freier kamen dahinter, dass ich keine vierzehnjährige Jungfrau mehr bin.“ Sie lehnte ihren Kopf zur Seite und hob die Achseln. „Routine“, sie grinste und wandte sich erneut ihrem Gepäck zu.
Sabrina stand mit überkreuzten Beinen vor ihr, schaute sie an und rieb über ihre nackten Oberarme.
„Ein deutsches Mädchen?“, murmelte Jenny. „Ich war ein Glücksfall für sie gewesen. Mädchenhafte Gestalt und ausgezeichnete Sprachkenntnisse.“ Sie zerrte ein kurzes Jeanskleid aus dem Rucksack, stöhnte: „Mich konnten sie als arische Jungfrau verkaufen“, sogleich warf sie Sabrina das Kleid zu. „Zieh über! Dein Zähnegeklapper verrät uns sonst.“ Sabrina fing den Fummel auf. Die Finger zitternd, streifte sie das Kleid über ihre nicht mehr schneeweißen Spitzendessous.
„Hast echt Glück gehabt. Ein paar Minuten später und ich wäre weg gewesen“, sprach Jenny in ihren Sack. Sie beförderte ein Paar ausgelatschte weinrote hochhackige Espadrilles zutage, warf diese Sabrina vor ihre nur mit Strümpfen bedeckten Füße.
Sie schlüpfte in die Schuhe. „Und was jetzt?“, ihre Stimme flatterte. „Gehen wir zur Polizei?“
Jenny tippte an ihre Schläfe. „Bist du durchgeknallt? Die Dorfsheriffs stecken mit ihr unter einer Decke.“ Sie griff in ihr Dekolleté, arrangierte ihre Busen, geiferte: „Stammkunden!“, geiferte sie, derweil öffnete sie ihren Pferdeschwanz, warf ihre Haare nach vorn, schüttelte dieses aus und flüsterte: „Hab ich am Anfang probiert!“
Die Hände an ihrer Stirn richtete sie sich auf, umfasste ihre Mähne, fauchte: „Sieben Tage Einzelhaft mit Spezialbehandlung“, während sie ihre blonde Pracht durch das Haargummi fädelte. „Zwei Wochen konnte ich nicht mehr sitzen und …“. Sie verzog ihr Gesicht. „Auf Toilette ganz zu schweigen. Frei gab es nicht.“

Sie schritt auf Sabrina zu, legte eine Hand auf ihre Schulter des Mädchens. „Wir schlagen uns zu dir nach Hause durch“, sie lächelte, „dann gehst du mit deiner Mutter zur Polizei und ich bin danach weg.“


Antonia steckte das Taschenbuch in ihre Henkeltasche, hing diese auf ihre Armbeuge und schritt in den Festsaal.
Sie streifte durch den Saal. Die Tische in schneeweißen Tischdecken gehüllt, dekoriert mit Blumenbuketten aus roten Rosen. An denen steife Herren in schwarzen Anzügen und Damen in festlichen Gewändern schmatzen, Unmengen von Sahne- und Buttercremetorte in sich hineinstopften, Kaffee schlürften.
Alina jagte mit schweißbedeckter Stirn an den schneeweiß umhüllten Stühlen vorbei und bediente die Gäste. Antonia hatte Franziska angeboten, ebenfalls zur Hand zu gehen, was diese mit der Begründung, sie könnte ihr Kleid bekleckern, dankend ablehnte.
Sie wandelte zum Kuchenbuffet, an dem Bärbel und Franziska sich unterhielten. Die Tonlage der beiden war alles andere als harmonisch. Da kam es ihr wieder in den Sinn, weswegen sie in Inkognito war.



Freundinnen

„Ich muss mit dir sprechen!“, zischte Franziska.
Bärbel zupfte an der Hose ihres taubenblauen Hosenanzuges und entgegnete: „Ich weiß nicht, was wir miteinander zu besprechen haben“.
„Ein Stück Streuselkuchen?“, fragte Matthias an Antonia gewandt.
Franziska atmete tief durch. „Herr God Zeidn jo es war bled vo mir, aba de Haschisch. Ich häd es ned tun soin. Häd mi beherrschn missen. Er war dei Freind.“
Bärbel kniff ein Auge zu.
„Er hod dann jo dei Freindin geheiratet. Entschuidige, vazeih mir. Wir warn doch …“
Die Stirn gerunzelt, schaute Bärbel sie erst verwundert, sodann wieder zornig an. „Du weißt!“, fuhr sie ihr harsch ins Wort. „Es ist mir wurst. Es ging um meine …“ Sie winkte ab, ballte eine Faust. „Den Flammen wolltet ihr sie übergeben. Und sprich Deutsch mit mir!“
„Verbrennen? Ja. Mei Voda hat sie vom Hof gejagt. Na und! De Daibel?“
„Teufel! Hexe! Du hast sie dazu gemacht. Du und deine verschrobene Sippschaft. Der Scheiterhaufen war längst errichtet“, schäumte Bärbel.
„Ich habe das gesagt, was ich gesehen. Von einer Hexenjagd weiß ich nichts. Ich bin mit Vale abgehauen. Du warst dabei!“
„Was hosd du beobacht? Du hosd sie gehasst! Weil sie mit Anton geflirtet hat.“
Franziska senkte ihr Haupt. „Ja. Ich hob sie verachtet. Hob das alles nicht gewollt. Trotzdem lüge ich nicht!“

Die Lippen geschürzt, begann Franziska zu erzählen.
Sie und Valentin hatten sich verabredet. Er unterstützte sie in ihrem Vorhaben, Anton eifersüchtig zu machen. Für eine kurze Zeit verstecken, wollte sie sich. Vorher hatte er einen Auftrag von ihrem Vater angenommen. Eine Schatulle sollte er in der Sakristei hinterlegen. Das taten sie. Sie wollten aufbrechen, da hörten sie Geräusche. Amisha und ein Priester standen im Kirchenschiff, kicherten, berührten einander. Jene fasste den Mann Gottes, zerrte diesen sogleich in einen Beichtstuhl. Franziska beabsichtigte das Gotteshaus durch die Tür an der Sakristei zu verlassen. Valentin hielt sie zurück. Dann versteckten sie sich.
Nach kurzer Zeit verließen die beiden wieder den Beichtstuhl. Amisha richtete ihr Kleid, der Priester seine Hose. Sie gingen Arm in Arm bis zur ersten Bank, knieten nieder, sodann ergriffen sie einander die Hände.
Valentin stieß gegen einen Kerzenständer, der polternd zu Boden fiel. Amisha schreckte auf und sie, Franziska schlich zusammen mit ihrem Freund aus dem Gotteshaus. Sie unterhielten sich darüber, was sie gesehen hatten, bis ein Schreien vom Kirchplatz zu ihnen drang.
„Ich hab dich auf dem Kirchanger gesehen. Geschrien hast, dass die Hex die Kirch entweiht“, erboste sich Franziska.
Bärbel hob ihre Nase, zuckte mit dem Kopf wie eine Echse und flüsterte: „Gehört hast du was, aber gesehen?“
„War ja sonst keiner da! Jo! I hob den Leidn gsogt, dass de Amisha mit am Priesta de Kiach entweiht hod.“ Sie senkte ihr Haupt. „Dann bin i mid Vale zua Scheine und hom eich wie verabredet getroffa. Woasst du des ned mehr?“
Bärbel schnappte ihren Arm, drückte zu, bis Franziska vor Schmerz den Mund verzog. „Ist das die Wahrheit?“
Die Augen geschlossen, bedeckte sie ihre Lippen. „Ja. Oft habe ich die Geschicht anders erzählt. Diesmal nicht gelogen! Frog de Vale?“
Bärbel senkte den Kopf und rieb über ihre Wange. „Ich muss kurz weg.“



Streuselkuchen

„Streuselkuchen? Seit wann esse ich Streuselkuchen!“, schnauzte Antonia Matthias an, der ihr auf einem Teller drapiert ein Stück zureichte.
Seine Mundwinkel hingen, die Augen flirrend auf sie gerichtet. „Oder Buttercremetorte?“
Die Lippen gepresst, blähte Antonia ihren Brustkorb. „Soll ich auseinandergehen wie ein Hefekloß?“
Er druckste: „Aber, du bist doch schlank“.
Sie warf ihren Kopf in den Nacken. „Noch!“. Sie hielt ihm ihre Handflächen hin. „Was rennst du mir die ganze Zeit wie ein Dackel hinterher.“ Sie schwang ihren Arm, sah sie sich suchend um, bis sie Alina erblickte. „Hilf lieber deiner Schwester, als hier herumzuhängen“, forderte sie ihn auf.
„Bediane is Weiberkram.“
Antonia hatte Besseres im Sinn, als sich mit einem Möchtegern-Matcho in eine Diskussion über die Rollenverteilung, in der westlichen Welt zu verstricken.
Drei Jungen spielten mit ihrem impulsiven Vergnügen zwischen den Tischreihen Fangen.
Sie runzelte ihre Stirn, deutete, auf die vor Kurzen dem Kindergartenalter entfleuchten und schäumte: „Tobe mit deinem Gleichen, lasse mich in Ruhe“.
Matthias stellte den Teller ab, senkte den Kopf und verzog sich.
Sie bereute ihren Seitenhieb bereits bei ihrem letzten Wort. Eigentlich war er nett, bloß zurzeit konnte sie ihn nicht gebrauchen. Sie nahm sich vor, sich später um ihn zu kümmern. Das liebenswürdige Mädchen zu mimen. Er hatte seinen Großvater verloren und niemand schien das zu interessieren.
Die Gedanken aus dem Haupt schüttelnd, wandte sie sich erneut dem Gespräch der Tante mit Matthias Mutter zu.

Bärbel senkte den Kopf und rieb über ihre Wange. „Ich muss kurz weg!“
Antonia ballte eine Faust, verfluchte den auf sie erneut schreitenden Matthias, verwarf ihre Gelüste und lächelte ihn an. „Dein Großvater hätte sich bestimmt gefreut, wenn die Lisselotte, deine Tante …“
„Halbtante!“
„Wieso?“
„Sie war die Tochter der ersten Frau meines Großvaters.“
„Ist die auch verschwunden?“
„Nein! Hat sich vor einen Zug geworfen.“ Er klatschte in die Hände. „Soll richtig Matsche gewesen sein.“
Antonia verdeckte ihren Mund und blickte sich im Saale um. „Deine Großmutter? Zug oder verschollen?“ Sie biss sich auf ihre Unterlippe, denn sie hätte gerne die letzten Wörter zurückgeführt.

Mitleid gegenüber Matthias lag ihr fern. Er war ein Fremder, fremd wie der Junge aus dem Nachbarhaus, der mit seinen Achtern wackelte, sogleich seine Zunge entblößte, wenn er die Abkürzung über den Hof nahm und glaubte Blickkontakt zu bemerken. Trotzdem empfand sie eine Nähe, ein Gleichschwung, zu Matthias. Es war eher das Schicksal, welches sie vereinte. Der entscheidende Einschnitt in das Leben eines jungen Menschen verband sie.
Nicht der Schnitt als solcher, sondern der Zeitpunkt. Für sie war es die Hochzeit ihrer Schwester.
Für ihn der Tod seines Großvaters. Gleich einer Raupe, die zum Zwecke ihrer Verpuppung einen Stängel, ein Blatt erklimmt, existierte bei Menschen ein Moment, an welchen sie sich getrieben von ihren Hormonen entschieden, einen neuen Weg einzuschlagen.
Inwieweit sie dazu in der Lage war, lag außerhalb ihres Wissens, jedoch der Ansicht, dass sie den rechten Platz erreicht hatte und mit dem Spinnen begann. Matthias dagegen war noch am Klettern, somit auf der Suche. Ihm, die Hand zu reichen, ihm auf seinem Weg zu helfen, war die Pflicht, die das Schicksal ihr zugeworfen hatte.

„Vergiftet!“
Sie riss die Augen auf, woraufhin Matthias drohte: „Antonia, ich sage dir eins und halte dich daran.“
Sie lehnte ihren Oberkörper zurück.
Er grinste. „Backen kann die Gerti, aber ess nie etwas Gekochtes von ihr!“
Sie stieß ihn an seine Schulter. „Lögenfatt!“
Matthias wandte sich ab und gluckste: „Nee. Sie war halt alt“, während er sich ins Getümmel warf.
Antonia stopfte sich das Stück Streuselkuchen in den Mund. Es schmeckte wie in Mettwurst eingelegte Brausebonbons. Die Lippen geschützt, rannte sie zu einem Abfalleimer und spie die Masse heraus.



Beichtstuhl

Bärbel schritt mit verschränkten Armen auf und ab. Karl, im pechschwarzen Priesterhemd, saß auf seinem klapprigen Gartenstuhl, trank ein Schluck Wein, zündete eine Zigarette an.
„Freundin!“, zischte er und betrachtete die hölzerne Decke des Balkons. „Setzte dich hin oder zieh deine Schuhe aus.“ Blauer Qualm stieg aus Karls Mund. Er überschlug seine Beine, zog an der Kippe. „Ich will die Ruhe genießen. Weshalb ihr Frauensleut immer solche lärmenden Latschen tragt?“
Bärbel zog ihre Unterlippe herauf und zischte: „Lenke nicht ab“, derweil sie eilends aus den taubenblauen Pumps schlüpfte und diese mit dem rechten Fuß unter den Gartentisch kickte. Ihre Arme vor der Brust verschränkt geiferte sie: „Bei einer Hochzeit kann ich keine Slipper tragen. Dass du mich die ganzen Jahre angelogen hast?“

Karl kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn und schob den Kopf vor.
Sie winkelte ihre Arme an und ballte die Hände zu Fäusten. „Schau mich nicht an, du weißt, wovon ich spreche!“
Die Finger an sein Genick gelegt, betrachtete er ihr Schuhwerk, grinste und sein Weinglas. „Du kannst tragen, was dir genehm.“
„Mach keine blöden Witze. Franziska hat mir alles erzählt.“
Er nahm einen kräftigen Schluck. „Ich freue mich, dass du mit ihr gesprochen hast. Die alten Geschichten beigesetzt.“
Bärbel schwang ihren Kopf zur Seite, schaute über das Geländer des Balkons. „Begraben! Ausgebuddelt habe ich sie. Du und Maria? Ich hätte nie von dir gedacht, dass du mit ihr in der Kirche.“ Sie schloss ihre Lider. „Du kotzt mich an!“
Die linke Augenbraue hochgezogen, lehnte sich Karl zurück und stieß mit dem rechten Zeigefinger auf sein Brustbein. „Dein Wortschatz, Liebstes, rückt in Bereiche, die ich sonst eher rar bei dir vernehme. Sie und ich?“
„Ja, du!“
Er faltete die Hände und legte sie auf seinen Schoß. „Was hat sie erzählt!“

Bärbel berichtete ihm, derweil seine Lippe sich zu einem Grinsen verformten.
Den Kopf erhoben, die Arme verschränkt, wartete sie auf seine Erklärung. Er blieb stumm, zündete sich eine Zigarette an und forderte sie auf, sich zu setzen. Sie wischte über den zweiten Stuhl, zupfte an der Bügelfalte ihrer taubenblauen Anzughose und kam der Bitte nach.
Karl deutete auf die Weinflasche, in der ein kläglicher Rest des Roten anzeigte, wie lang er bereits auf dem Balkon verweilte. „Ein Schluck zur Beruhigung.“
„Danke. Ich muss fahren.“
„Ich habe dir nicht alles erzählt, gewiss dies, was ich dir gesagt hatte, ist die Wahrheit.“ Er schlug das Kreuz. „Wahr uns Gott helfe.“
„Ich war mit Maria in der Kirche“, begann er seine Ausführung. „Es war aber anders, als es Franziska wahrgenommen hat.“
Karl hatte sich an diesem Tag mit Lisselotte verabredet. Sie wollte weg, weg von ihrem Vater, weg von seinen gottlosen Gedanken, wie er ins Kloster gehen. Er hatte sich vorgenommen, es ihr auszureden. Für ihn war es Schicksal, für sie Flucht. An der Kirche hatte er auf sie gewartet. Sie erschien nicht. Dafür schlich Maria an ihn heran, aufgelöst und wirr. Beichten wollte sie. Er kam ihrer Bitte nach. Sie schritten ins Gotteshaus, setzten sich. Geräusche erklangen aus der Sakristei. Es hatte für ihn den Anschein, als wäre es ihr peinlich, im Hause Gottes entdeckt zu werden, daher zog sie sich ihn einen Beichtstuhl zurück.
Bärbel verzog ihr Gesicht, wie nach einem Biss in eine Zitrone. „Ihr beide zusammen?“
Karl strich über seinen Kugelbauch. „Damals war ich schlanker!“
Sie schlug auf ihre Schenkel. „Zieh das Ganze nicht ins Lächerliche. Was hat sie dir denn gebeichtet?“
„Frag nicht. Du weißt. Ich darf nichts sagen.“ Er benetzte seine Lippen. „Denke nach?“



Buttercremetorte

„Dat deit mi Leed!“
Matthias sah zu ihr auf und hob seine Augenbrauen.
„Dass ich dich vorhin so angeblafft habe.“
Er zuckte mit seinen Achseln, worauf sie den Rock ihres Kleides an ihr Gesäß presste und sich neben ihn auf die Bank setzte. Während sie auf seinen Teller schielte, stieß er seine Gabel in ein Stück Buttercremetorte.
Den ganzen Tag hatte sie noch nichts gegessen. Ihr Magen knurrte und die Spucke lief ihr zusammen.
„Soi i dia a Stück Toate holn?“
Sie zuckte. „Weißt du, wie viele Kalorien die hat?“
„Na koa Ahnung. Wos ihr Weiberleid oiwei mid desn Kaloainna hobt?“
Antonia lehnte sich zu ihm herüber und tippte mit dem Zeigefinger auf die Spitze des Stückes. „Villicht een lütt?“
Er führte die Gabel zu ihrem Mund und beförderte jene in diesen.
Ihre Augen geschlossen, genoss sie Creme. Sie rückte näher an ihn heran und zupfte an ihrem Ohrläppchen.
Weshalb sie mit ihm auf einmal Platt snackte, wusste sie nicht. Offenbar lag es daran, dass dieser gleich dem Großvater auf einer Bank ruhte und Kuchen aß. Langsam wurde sie sentimental.


„Kennst du diese Jannette?“
„Wia kimmsd du darauf?“
„Blot so.“
„Hod dia de Oiina de Gschicht gsteckt?“
„Und?“
„Kennen ist zua vui. Hab sie ein, zwei Mal gesehen.“
„Wo is se? Wo keek se ut?“
Er runzelte seine Stirn.
„Wie sieht sie aus?“, übersetzte sie.
Erneut in seine Torte stechend, brummelte er: „Normal?“
Wenn Antonia in diesem Moment Alina gewesen wäre, hätte sie ihm ein ‚Junge‘ entgegengeworfen. Sie war jedoch nicht sie, deshalb ging sie anders heran.
„Hör Pferd kenndest better?“
„Jo. Stramme Rappen. Die Muada reitet sie aa.“
Irgendwie erleichterte sie seine Aussage. Wenn Tanja sie auch ritt, dann hieß dieses eindeutig, dass sie und diese Jannette zwei Unterschliche Personen waren.
„Van daar kenndest mi ...“, sie stockte, „Moder.“
„Jo.“ Er führte erneut seine Gabel an ihren Mund und zischte: „Aba de Oiina spinnt“, während sie die Torte genießt.
„Wie se klöövde, dat se jo Halvsüster“, sie räusperte, „Halbschwester is?“
„Des is sie ned, sogt mei Muada und de hod recht.“
„Trotzdem warst du sauer auf Alina, wegen der Prügel, dass du nicht mehr zu den Pferden durftest?“
Er fütterte sie erneut. „Schmarn. Mei Muada ht’s mir verboten, da kaan Zeit mehr hatte.“ Er senkte seinen Kopf. „Wegen de Sozialstunden.“

Antonia sah zuerst zum Himmel, dann ihn an. Wer log, wer sagte die Wahrheit? Dass Menschen oft andere Sichtweisen auf die Dinge hatten, war ihr klar. Seemannsgarn! Jedoch all das, was übereinstimmte, kam der Realität näher.
„Häst de Jung blot nik verkloppde?“
„I schäm mi aa. I wa narrisch. De Oiina hat de ganz Abend mit de Türk getanzt.“
Sie rückte von ihm ab.
„I hab nichts gegen de Türken, sagen wi nur so. Außerdem kannte i ihn. Er ging mit mei Schwester zur schol.“
Ihn anlächelnd, schob sie wieder ihr Gesäß nah an ihn heran.
„Aus dem Internat?“
„Na, von de Grundschol.“
Sie legte ihre Hand auf sein Knie, während er ihr gabelweise Torte in ihren Mund schob und erzählte.

Denn ganzen Abend hätte sie mit dem Türk getanzt, wie Matthias berichtete. Dann zur fortgeschrittener Stunde hätten sie den Saal verlassen. Er machte sich keine Sorgen, weswegen auch. Erst als einer seiner Bazis, wie er diesen Kumpel selbst umschrieb, ihm erzählte, dass der Türk sich an seine Schwester heranmachte, sei er herausgestürmt.
Jedoch nicht der Junge machte sich an Alina heran. Es erschien für ihn eher andersherum, obwohl der Türk ihm nicht abgeneigt zu sein schien. Der Bazi stachelte ihn auf, bis er seine Faust gegen das Gesicht des Jungen schlug, um dann in wilder Wut, diesen geschlagen und getreten hätte.
Die Stille, die eintrat, als er endete, die feuchten Augen, welche gerne ihre Last auf seinen Wangen verteilen wollten, waren nicht gespielt, Antonia erkannte es, spürte es. Sie legte ihren Arm um seine Schulter, zog seine Körper an den ihren.
Er schlug mit der Faust auf seinen Oberschenkel und schluchzte. „Du hast recht.“
„Womit?“
„Mein Großvater war ein Nazi.“ Er wischte sich die Tränen ab. „Weißt, Wunsch und Realität treffen selten aufeinander.“
Antonia zupfte an ihrem Ohrläppchen. Sie gab ihm recht, blieb dennoch stumm, denn es war seine Zeit.
„Zum Helden hat er mich gemacht. Mir gesagt, dass dies nur der Anfang sei, die Zeit bald gekommen, dass die wahren Herren die Macht ergriffen. Da war es klar. Mit abgrenzen ja, aber es mir eingestehen.“ Er wandte sich an sie. „Du hast mir endgültig die Augen geöffnet. Ich bin froh, dass er endlich tot ist. Bin frei.“ Zuerst grinste, dann lachte er. „Las uns feian.“
Sie zupfte an ihrem Kleid. „Schietkram, ik sull mi doch umtruck.“
„Wie?“
„De Bärbel hett mi dat updroog.“ Sie stand auf.
„Wohin willst du?“
„Keerl mi umtrecken.“ Sie hob den Saum ihres Kleides. „Een anners Kleed, wat anners halt.“
Was anders war gut. Ein anders festliches Kleid, als jenes vom Vorabend besaß sie nicht und, als Klara Sesemann wollte sie gleichfalls nicht zurückkehren. Jedoch auf das Gemecker des Admirals, wenn sie das weiße Kleid besudeln würde, konnte sie genauso verzichten.



Nachtschwärmer

Antonia überkreuzte ihre Arme, legte die Linke auf die Schulter und beäugte ihre marineblauen Pumps, die bei jedem Schritt unter ihrem Kleid hervor blinzelten. Sie hatte sich daran gewöhnt, den Saum des Kleides zu heben, denn dieser glitt eher über das Pflaster, als dass er darüber schwebte.
Das schulterfreie türkisfarbene Kleid, dessen seidiger Stoff funkelte, hatte ihr Aishe überlassen. Sie war zwar kaum zwei Handbreit länger als Antonia, jedoch pflegte jene eher auf Schuhen zu wandeln, welche sie nicht einmal im Traum ihr Eigen nennen wollte.
Dabei hatte sie am Anfang Bammel, dass das trägerlose Kleid ihr vom Körper rutschen könnte, jedoch das leichte Mieder, welches ihr zuerst fast die Luft nahm, hielt alles an seinem Platz. Sogar die Einlagen, die Aishe ihr an der Stelle untergeschoben, an der sie wahrlich nicht hatte, blieben dort, wo sie hingehörten. Ein wenig verwundert war sie doch darüber, dass Aishe ihrer Oberweite derart nachhalf.
Egal. Allen Umständen zum Trotz war der Abend netter verlaufen, als sie zuvor gedacht hatte. Keine Sekunde mochte sie missen und Matthias war alles andere als ein Dorftrottel. Sogar getanzt hatte sie. Gesellschaftstanz. Seine Hand an ihrer Taille, ihren Arm an seiner Schulter, drehten sie sich im Walzertakt.
Sie kicherte. Viel mit drehen war da nicht. Matthias war steif wie ein Stockfisch, aber allemal besser als sein Vater. Nach den ersten Drehungen brach Antonia aus Angst, er würde ihre Füße brechen ab.
Mit Alina hatte es ihr Spaß gemacht. Sie besaß den richtigen Rhythmus, jedenfalls nachdem sie sich einig gewesen waren, wer führte. Da Alina wieder in ihrem Hosenanzug steckte und sie das Kleid trug, war die Rollenverteilung zügig geklärt. Hätte ihre Freundin ihre Haare nicht offen getragen, dann hätte sie sich selbst für ein Paar gehalten, jedenfalls war sie dieser Ansicht, wenn sie an der Wand, an der mehrere Spiegel befestigt waren, vorbeiglitten.
Die laue Nachtluft, die stetig minder nach Dorf stank, der volle Mond am Himmel, der die Firste der Dächer berührte, ließ sie zweifeln. Zweifeln an dem Leben, welches sie bis zu diesem Zeitpunkt hinter sich gelassen hatte. Zweifeln an ihren Ansichten. Es kam ihr vor, als hätte sie den Drang, das Verlangen, ihren Arm, um seine Taille zu schwingen, um sich an ihn anzukuscheln.
Was für blödsinnige Gedanken der Mond ihr schenkte. Sie wusste, wer sie, gleichermaßen dieses alles nur ein Spiel fern der Realität war. Jedenfalls hätte Amanda X Freude an ihr, wie sie inkognito ermittelte. Einfach perfekt. Sie schloss ihre Augen. Vielleicht zu perfekt?

„Danke, dass du mich begleitest.“
Sie verharrte, drehte sich auf einem Absatz und runzelte die Stirn. „Helf deiner Schwester beim Aufräumen!“
Den Kopf schwenkend formte sich ein Lächeln auf seinen Lippen. „Später. Zuerst bring ich dich zum Hof.“
Sogleich gab Matthias ihr seinen Arm, worauf sie diesen geschmeidig annahm und sie gemeinsam die Dorfstraße weiter entlang schritten.
Vereinzelte Straßenlaternen hüllten den Weg in ein gespenstisches Halbdunkel. Am Grundstück angekommen, öffnete er die Gartenpforte. Sie blieb stehen, schaute zweifelnd, unschlüssig, in die Finsternis.
Nach ein paar Metern durch Dickicht nebst Düsternis flackerten Halogenscheinwerfer auf und erhellten zumindest einen Teil des Bauerngartens. Antonia blinzelte, schritt auf eine purpurn sternförmige Blüte zu.
Sie vergrub ihre Nase in den Blütenkelch. „Um diese Uhrzeit?“
Matthias trat auf sie zu, schmiegte seinen Arm um ihren Hals und beugte sich vor, bis sich ihre Köpfe trafen. „Was ist daran merkwürdig?“
Antonia drehte ihr Haupt, bis ihre Nase seine berührte. „Passionsblumen blühen nicht nachts.“
Matthias zog seine Mundwinkel herauf und schmeichelte: „Für dich scheinbar schon“.
Sie hob die Achseln und lächelte. „Der Duft scheint deine Sinne zu verwirren.“
Die Augen geschlossen, atmete er tief ein und zeterte: „Ich merke nichts. Als hättest du Ahnung davon“.
Antonia richtete sich auf, stemmte ihre Fäuste auf den Beckenknochen. „Mit Pflanzen kenne ich mich aus.“
Er baute sich vor ihr auf und stupste sie an. „Was kann diese Blume?“
Sie warf ihren Kopf in ihren Nacken und grummelte: „Sie dämpft die Psyche. Würde dir auch helfen“, wobei sie ihre Nase rümpfte.
Matthias deutete auf eine Pflanze mit gelben, geschlossenen Blüten. „Na, Kräuterhexe, was ist das für ein Kraut?“
Die Arme verschränkt, zog Antonia eine Augenbraue empor. „Hypericum oder Johanniskraut, hilft dir bei pubertätsbedingter Unruhe“, kicherte sie zuerst, bevor sie verstummte, sodann ihren Blick senkte. „Sowie bei Menstruationsbeschwerden.“
Er kniete nieder, betastete die radförmigen Blätter einer anderen Pflanze.
„Alchemilla oder Frauenmantel, stillt Blutungen und mildert Unterleibsbeschwerden bei Frauen“, gab sie zum Besten.
Er rieb an einem Blatt, zupfte es ab und reichte es ihr. Antonia winkte ab, worauf er sich das Grün in den Mund steckte.
Sie verhüllte ihre Lippen, kicherte. Dann faltete sie ihre Hände vor der Brust. „Frauenmantel steigert die Libido des Mannes.“
Ihr aufgelegtes Schmunzeln lenkte sie leidlich von der Hitze ab, die sie in ihren Wangen spürte. Einzig ihre Gewissheit darüber, dass ihr Gesicht nicht allein mit Make-up bedeckt, sondern gleichfalls ihre Wangen mit Rouge bepudert waren, wogen sie in Sicherheit.
Matthias sah zur Seite, räusperte und riss einen Stängel ab.

„Hast du irgendwann, na ja dein Zimmer ist ja genau gegenüber, nachts einen fremden Mann aus Tanjas und Stephen Zimmer kommen bemerkt“, druckste sie.
Warum sie an diesem Ort zu dieser Zeit auf diese Frage kam, war ihr schleierhaft. Den Geschlechtsakt mit den beharrten Mann, den Alina gesehen gewollt hatte, schwirrte ihr im Kopf herum.
„Nö! Schlaf wie ein Bär.“ Er popelte in der Nase. „Nur an dem Abend als du zu uns kamst. Da war was Komisches. Hab ich sogar Alina erzählt. Die Jannette war weit nach Mittagnacht hier. I musste Mal auf’m Pott. Da hab ihren 911 gesehen. Der stand auf’m Hof.“
„Es war Jannette?“
„Ihre Kiste erkenn ich im Dunkeln.“
„Sie?“
„Kann sein, kann nicht sein?“
„Snack Klartext. Harr nee of ja.“
Matthias kratzte sich am Nacken, als dachte er entweder darüber nach, was sie gefragt oder was er gesehen hatte. „A Weib.“
„Sie?“
Er zuckte mit den Schultern. „Eine Frau war es. Sie trug ein Kleid.“
„Aha!“
Matthias klopfte an seine Hüfte. „So’n kuazs, blau und Stiafl bis zum Knie und oan riesign Strohhuad.“
„Daran erinnerst du dich.“
„Jo. Denn i hob es scho oamoi gseng.“
Antonia zog ihre Augenbrauen herauf.
„Ein paar Doge oda Wochn voaha, mid einer andern.“
Irgendwie keimte Nervosität in Antonia auf.
„De Froo?“
„Des Kleidl. Die andere trug aba a Rotes, hatte helles Haar.“
„Hell?“
„Es war dunkel. Die im Blauen hatte da schwarzes.“
„Lang, kurz.“
„Hochgesteckt.“
Antonia wollte es wissen.
„Wann war das genau?“
„I kam von de Stall. Warum east im Dunkln? Jo, voaha war i mit mei Muada im Saal. Angeschissen hat sie mi, weil i zu spät Kimmen. I kam zu spät, weil i zu spät zu de Fuaßboitraining Kimmen. Und da? I war so lang im Alterheim.“ Er hob seinen Finger, als würde er sich melden. „Samsdog! Genau, denn am naxtn Dog holdn mia die Muada vom Bohhof ob.“
Antonia stockte zwar nicht der Atem, jedoch zweifelte sie mehr an der Geschichte von Alina.
„Der Wagen von dieser Jannette, war der auch wieder auf dem Hof.“
Er kratzte sich an seiner Nase. „Jo!“
Matthias stand auf, ergriff ihre Hand und zog sie um das Bauernhaus herum zum Haupteingang.

Antonia erfasste sein Handgelenk. „Gute Nacht!“
Sie knickte das rechte Bein ab, streckte den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er runzelte die Stirn, rieb sein Gesicht, sodass seine Fingerspitzen den weinroten Lippenstift übernahmen.
Sie senkte ihr Haupt. „Ein kleines Dankeschön.“
Er hob die Schulter und stotterte: „Dass ich dich gebracht hab“.
Sie presste ihre Oberarme an ihren Körper. „Nein! Weil du dich mit Alina versöhnt hast.“
Dies war zwar nicht die ganze Wahrheit, jedoch den Teil, den sie ihm gerne zustand.

Ein weißer Seat hielt auf dem Hof. Bärbel entschlüpfte dem Wagen, marschierte auf den Hauseingang zu. „Es wird langsam Zeit, ins Bett zu gehen!“, harsche sie, drängelte sich zwischen den beiden Kindern hindurch und verschwand im Haus.
Matthias wandte Antonia sein Gesicht zu und zog die Augenbrauen zusammen. „Wie meine Mutter!“ Er berührte Antonias Hand. „Auf eine Cola?“
Sie schüttelte den Kopf. „Hast gehört!“
Er senkte sein Haupt, bis sein Mund Antonias Schulter erreichte, flüsterte: „Ich habe dir so vieles zu sagen“.
Ihren Handrücken auf ihre Lippen gepresst, betrachtete sie ihre Schuhspitzen. „Von dem verrückten Weltbild deines Großvaters.“
Matthias‘ Lider und Mundwinkel senkten sich, wobei er ihre Finger quetschte.
Sie trat ihm gegen sein Schienbein und schrie: „Du tust mir weh, du Grobian“, wobei sie eilends über ihre Schulter schielte, bevor sie seinen Blickkontakt suchte. „Sorry!“
Er winkte ab. „Ist gebongt“. Er leckte die Lippen. „In der letzten Zeit passierten ein paar komische Sachen. Außerdem klärte mich nicht der Großvater auf.“
Antonia tippte mit der Spitze ihrer Pumps gegen den Hausstein. „Nur, wenn du eine Cola-Light hast?“
Matthias grinste. „Die haben wir.“
Die Lippen zu einem Lächeln verzogen, hob sie ihren rechten Zeigefinger. „Aber nicht in deinem Zimmer. Da bekomme ich Alpträume.“
Er rieb sein Genick. „In der Sattelkammer?“
Antonia kniff ein Auge zu. „Wo bitte?“
Er zuckte mit den Achseln. „Da zieh ich mich zurück, wenn ich meine Ruhe haben will.“
Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Gut. Aber vorher gehe ich schnell für kleine Mädchen.“
Sein Gesicht strahlte, als er die Haustür öffnete.
Antonia betrat den Flur, schaute ihn an. „Wer hat dich aufgeklärt?“, schwappte aus ihrem Mund.
Er nahm Haltung an. „Friedl!“

Sie musste an ihm vorbei, damit er die Tür schließen konnte. Ihre Körper berührten sich. Ihre Lippen glitten übereinander, verharrten. In jenem Moment des Kontaktes erkannte sie, inwieweit das Leben nicht tiefschwarz wie sein Anzug, nicht türkis wie ihr Kleid war. Auch wenn dieser dunkelblau, aber in der Sekunde der Schmelze ihrer Münder war ihr dieses unwichtig, nebensächlich. Das Leben besaß Nuancen, Finessen. Sie würde nie, wie Prinzessin Shila in einem bodenlangen, glitzernden Kleid, nach dem Sieg über deren Tante mit ihrem Beschützer Lamu vor dem Traualtar stehen. Niemals wie Torben Raubein vorn auf dem Bug der Schonerbrigg das holde Siegeslied anstimmte. Nur Kerle seien echte Piraten. Höhnisch lachend seinen Fuß auf dem Rücken von Seeräuberbraut Jenny drücken, die zu seinen Füßen das Deck schrubbte.
Das Leben roch nach Schweinestall wie Matthias Haut. Die Sehnsucht wie sein Anzug, ein Feld Lavendel. Seine Spucke schmeckte nach Himbeereis mit Lakritz.
Es war nicht wie ein Kriminalroman. Keine Puzzlestücke mussten verwoben werden. Illusion, weil sie es nicht wahrhaben wollte, dass Tanja ein eigenes Dasein hatte. Egal, ob die Ehe inszeniert war.
Die Zeit war gekommen, auf eigenen Füßen zu stehen. In dieser Nacht ihm zu beichten, dass sie nicht Tanjas Tochter war.

Es war keine Liebe zu ihm. Derartige Gefühle hatte sie in ihrem kurzen Leben nie gelernt. Jedoch spürte sie eine Seelenverwandtschaft, die sie anzog. Nein. Einzog.
Eine Episode könnte es werden, wie die Puppe des Falters, der zum Schmetterling mutierte. Sie füllte im Augenblick des Berührens die Verwandtschaft, den Zwiespalt ihrer Seelen, obwohl er, das war, was sie ersehnte und nie zu sein vermochte.
Ein normaler Junge, der im Spiel die Freunde in den Schwitzkasten nahm. Oder wie Torben Raubein, unerschrocken und hart, seine Mannschaft antreiben.
Ebenso verblasste, starb von Tag zu Tag Shila in ihr. Sie war nicht Antonia die brave Tochter, das Kind, welches mit ihrer Anmut die Herzen erweichte. Es lag außerhalb jeglicher Realität, dass sie gleich der Prinzessin Shila, jene an der Seite des verwunschenen Thronfolgers Detektive Lamu, ein Prinz sie zum Traualter führte.
Toni, eine formlose Amöbe, mehr war sie nicht, dachte sie, während sich ihre Arme um seinen Hals schmiegten.



Negligé

Eine Stehlampe, über der ein seidiges rotes Tuch hing, hüllte den Raum in ein romantisches Licht. Er lag, den Kopf auf einer Hand abgestützt auf dem Bett, sein Oberkörper nackt, die Beine frei jeglicher Kleidung. Bloß ein dünnes Laken umhüllte seine knochigen Lenden.
Sie trippelte zwei Schritte auf ihn zu. „Was soll das?“
Mit der rechten Hand forderte er sie auf, näherzutreten. „Ich habe dich erwartet.“ Ein Lächeln flog über seine Lippen. „Komm zu uns! Wechsel auf die richtige Seite.“
„Wie meinst du das?“
Er klopfte auf die Matratze. Lachte. „Ich weiß alles. Du brauchst kein Spiel mehr, mit mir zu spielen!“
Den Kopf zur Seite gelehnt, schritt sie auf ihn zu, drückte ihr linkes Knie auf das Bett. Er strich über ihren Arm, berührte ihre Wange, ihre Lippen. Sie öffnete den Mund, leckte seinen Finger und streichelte seine Schulter.
Den Zeigefinger tiefer in ihren Schlund schiebend, schaute er ihr in die Augen. „Wir zusammen sind ein geniales Team. Das weißt du. Schiebe das gestern beiseite, sonst wirst du mich zu deinem ärgsten Feind haben.“
Ihre Hand liebkoste seinen Oberkörper, kroch unter das Laken. „Ich spüre, der kleine Fridolin freut sich?“, gurgelte sie über den Finger.
„Hüpfe in das rote Negligé, dann ist die Freude gleichfalls auf deiner Seite.“



Bettgeflüster

Sie rieb sich die Schenkel, strich über ihren Bauch, massierte ihre Bürste und flüsterte: „Dies nenne ich eine Hochzeitsnacht.“
Haare lugten unter der Bettdecke hervor. „Als Kind habe ich mir gewünscht, eine Braut aus ihrem Kleid zu befreien.“
„Hastest bei deiner Hochzeit die Gunst der Stunde!“, flüsterte Tanja, schlang ihre Beine um den Körper, dessen Kopf erneut unterhalb der Decke verschwand.
„Auch in einer Hochzeitsnacht gibt es für mich keine Ausnahmen“, grummelte es unter dem Federbett hervor. „Wir hatten getrennte Zimmer.“
Tanja liebkoste mit der rechten Hand ihre Brüste, pumpte mit ihren Becken, derweil ihre Augen aufgerissen, sie sich auf in die Finger biss, bis ein Kichern ihr Vergnügen unterbrach.
„Außerdem!“ Die schokoladenbraunen Haare erschienen erneut. „Glaube ich nicht, dass Friedl in mein Hochzeitskleid gepasst hätte.“
Sie richtete sich auf, die Decke rutschte von ihren honigfarbenen Rücken.
Über Tanjas Oberkörper gebeugte lutschte sie an ihrer Brust. „Was Stephen macht?“
Die Lippen gepresst verschränkte Tanja die Arme hinter ihrem Genick und zeterte: „Mir egal.“, derweil schaute sie sich um. „Wie spät ist es?“
Aishe schob ihren Oberkörper vom Bett, sah auf ihr Smartphone. „Halb drei!“
Tanja streckte sich, drängelte sich am schweißbedeckten Körper vorbei. „Ich muss los!“
Ihre Freundin umklammerte ihren Oberarm. „Wohin willst du, zu später Stund?“
Sie setzte sich auf die Bettkante, beugte sich vor, ergriff einen Slip. „Zu deinem Gatten, um ihn zu betören.“
Zuerst lachte Aishe, dann streifte sie mit zitterndem Finger Aishe ein Haargummi von ihrem Handgelenk und band sich einen Pferdeschwanz. „Wie ich dachte, du hast mit ihm Schluss gemacht?“
Ihre Schulterblätter gesenkt, die und wandte sie Aishe ihr Gesicht zu. „Ja. Nein.“ Sie knüllte ihre Unterhose. „Wir haben Sex.“
Aishe schlug mit der Faust auf die Bettdecke. „Warum mit Friedl?“
Tanja setzte sich auf. „Das weißt du. Du kennst ihn besser.“ Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Weshalb hast du ihn geheiratet?“

„Lenke nicht vom Thema ab“, zischte Aishe. „Hat er etwas gegen dich in der Hand.“ Ihre Finger bedeckten ihre himbeerroten Lippen. „Erpresst er dich? Weiß er, wer du bist?“
Tanja verdrehte die Augen, schwang daraufhin ihren Oberkörper, wie bei Windstärke acht. „Nein. Das ist eine andere Sache.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Warum hast du ihn geheiratet, obwohl du wusstest, dass wir ein Verhältnis hatten. Damit hast du alles komplizierter gestaltet?“
Aishe schürzte die Lippen, grummelte: „Getrennt hast du dich von mir. Etwas Besseres fiel dir nicht ein“, dabei drehte sie sich um und wandte Tanja ihren Rücken zu. „Weil kein andere da war! Und …“
Tanja grinste und stupste ihrer besten Freundin in die Taille. „Wer hat nach Josephine Hochzeit um deine Hand angehalten?“
Sie strich die Finger von ihrem Oberkörper, zischte: „Du! Ich weiß. Ich habe ja gesagt. Aber nachdem unsere Freundin uns in Flagrante erwischt hatte, wusste ich, dass es undenkbar ist.“
„Mich! Du hast dich unter der Decke versteckt.“ Tanja küsste sie. „Du kleiner Angsthase.“
Aishe setzte sich hin, umklammerte Tanjas Becken. „Ich liebe dich. Trotz alledem konnte ich dich nicht heiraten.“ Sie küsste ihren Hals und knabberte an ihrem Ohrläppchen. „Ein deutscher Ehemann ist waghalsig. Ein Weib, unmöglich. Wieso haben wir uns kennengelernt?“
Tanja wandte ihren Kopf und lächelte. „Weil ihr mich gefunden habt.“
„Warum waren mein Vater und ich in Belgien?“
„Ihr seid geflohen. Du solltest zwangsverheiratet werden“, entrüstete sich Tanja und knüllte dabei den Slip.
Aishe Blick traf sie. „Dich belastet etwas?“
„Ja“, murmelte sie, dabei wich sie ihrem Blick aus. „Er ist wieder da!“
Aishe rutschte von der Matratze, kniete sich vor ihre Freundin hin und umschlang ihre Schenkel. „Das Schwein, welches dich misshandelt hat und in den Graben entsorgte. Du sagtest, er wäre tot.“
Die Augen geschlossen, legte Tanja ihren Kopf auf Aishes Schulter. „Dachte ich. Hab mich geirrt!“
„Ich steh dir immer bei.“
„Ich weiß!“ Dabei verstärkte sie ihre Antwort mit einem Lächeln, bevor sich ihre Mimik erneut verfinsterte.
„Da ist nicht alles?“, harkte Aishe nach.

Tanja presste die Lippen, zog und zerrte an der rot-schwarz gestreiften Spitzenunterwäsche.
„Hat es mit Alina zu tun? Sie ist nicht deine Tochter?“, flüsterte Aishe zuerst, bevor sie fauchte: „Und lass meinen Slip in Ruhe“, während sie diesen Tanja entriss.
Des Tangas entwunden, starrte Tanja sie, die Lider weit geöffnet, an. „Woher weißt du, dass Alina nicht …“
Aishe bedeckte ihre Lippen. „Deine Tochter ist.“ Sie schaute zur Terrassentür, wandte sich ab und stammelte: „Hab ich mir gedacht“.
Alle wollten es wissen, dabei wusste sie, Tanja, selbst nichts. Einzig an ihre Schmerzen, ihre Pein entsann sie sich; baute ihr Leben mithilfe der Erzählungen anderer auf. Manchmal tendierte sie dazu, Karl zu glauben, dass ein Dämon in ihr stecke. Mitunter beobachtete sie sich selbst, als wäre sie der Dämon. Sie malträtierte mit den Fäusten ihre Knie. Eine Träne rann über ihre Wange. „Stephen bleibt der Vater.“
Wenngleich ihr Verstand diese Annahme verwarf, ihr Innerstes jedoch jeweilige Alternativen ausblendete.
Aishe tippte an ihre eigene Schläfe. „Deswegen hast du ihn geheiratet?“
„Nein!“, schrie Tanja, bevor sie flüsternd fortfuhr: „Weil Jannette mich gebeten hat. Das weißt du.“
Jannette war ihr eine wahre Freundin, obwohl diese sie verlassen hatte.
Ein Auge zugekniffen, die Stirn in Falten, schüttelte Aishe ihren Kopf. „Ihr seid ein komisches Paar.“
Tanja zerrieb ihre Tränen, zupfte an ihrer Nase und schluchzte: „Wir sind kein Paar. Ich habe sie nur einmal gesehen. Unterhalten haben wir uns, da ist es mit mir passiert. Ich würde alles für sie tun.“
Aishes Augenbrauen berührten einander. „Das meinte ich anders, aber …“
Tanja unterbrach sie und schielte sie an. „Und sie haut ab in die Staaten.“
Die Frau vor ihren Füßen lachte. „Ach. Du denkst, sie sei abgehauen, weil du vermutest, Stephen wäre der Vater deines toten Kindes“, philosophierte sie. „Ihr seit ein komisches Paar!“
Tanja pumpte ihren Brustkorb auf, runzelte die Stirn. „Ersten glaube ich nicht, er wäre es, sondern er ist es. Zweitens habe ich Jannette nichts erzählt, weiß es selbst erst seit Kurzem, und drittens ist mein Kind nicht tot. Das spürt eine Mutter.“ Sie ergriff die Hand ihrer Freundin, schaute ihr in die Augen. „Alle Puzzlestücke passen zusammen. Ich habe dir die Geschichte oft erzählt. Bitte wenn du willst?“
Sie wartete nicht auf eine Antwort, holte nochmals tief Luft.

Sie hatte eine anstrengende Woche im Klinikum gehabt, begann sie. Ausspannen, ein erholsames Wochenende in den Bergen, um Kraft zu tanken. Am Vormittag rief ihre Freundin sie an, bat sie, die Nachtwache zu übernehmen. Nach wiederholten Nachfragen gestand sie ihr, dass sie einen Freund hätte, ihr Erster, und jener Abend ihr Letzter sei.
Die Sonne verschwand hinter den Bergen, als sie in der Buschklinik ankam. Der Angebetete ihrer Freundin war mit dem Motorrad unterwegs. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, eine Stunde schlafen, bevor sie ihre Arbeit antrat. Sie schleppte ihre müden Knochen in das Schlafzimmer.
Die Luft war schwül und stickig. Sie schluckte eine Schlaftablette. Ihre Freundin versprach, sie zu wecken. Sie entkleidete sich, legte sich nackt ins Bett.
Tanja wischte sich Schweiß von der Stirn und brummelte: „Dann war dieser Traum, die widerliche Illusion. Ich spürte, wie mich jemand begrapschte, Finger, wie blankes Metall zwischen meinen Schenkel glitten, in mich …“ Sie schluchzte.
Aishe ergriff ihre Hände. „Dann bist du aufgewacht“, schnellte es über ihre Lippen. „Hast du mir erzählt.“
Tanja wankte mit dem Kopf. „Da nicht! Ich wollte, konnte nicht. Weißt du, wie es ist, in einem Alptraum gefangen zu sein.“
Ihre Freundin schloss die Augen. „Kenn ich!“
Ich wollte mich erwehren, ankämpfen, aber er hatte Kraft, fuhr sie fort. Es war ein Traum. Sie konzentrierte sich, das Hirngespinst zu steuern. Mit festem Willen drehte sie sich auf den Rücken, vertraute sie Aishe an, spreizte ihre Schenkel, gestattete ihm, in sie einzudringen, damit er sie zumindest nicht mehr würgte.

„Da hast du Stephen erblickt.“
Tanja presste die Lippen, schüttelte den Kopf. „Du warst nie in Afrika. Auf dem Land ist es Nacht finster, wie in einem Kühlschrank, wenn die Tür geschlossen ist. Nein!“ Sie senkte ihr Haupt. „Hingegeben habe ich mich. Es war ein Traum. Erneut, es mit mir geschehen zu lassen.“
Aishe riss die Augen auf. „Wie bitte, du hast das genossen?“
Tanja strich ihrer Freundin über die Handgelenke. „Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal seit meiner Entführung, dass mich derartige Fantasien quälen, obwohl er mich nur zart berührt hatte, an meinem Bett verweilte.“
Ob sie das Motorrad im Traum oder nachdem sie erwacht war, gehört hatte, konnte sie Aishe nicht mehr sagen. Sie wartete auf ihre Freundin. Die nicht erschien.
Am nächsten Morgen, die Vögel zwitscherten und eine kühle Brise floss durch ihr Zimmer, sprang sie ausgeruht aus dem Bett. Ihre Freundin erwartete sie beim Frühstück und unterbreitet ihr, dass der Kerl sie versetzt hätte.
Die Wut, die Trauer ihrer Kameradin, wischten ihren Alptraum hinweg. Er gurgelte wie der letzte Schaum eines Wannenbades, im Strudel des Vergessens in die Jauchegrube der Erinnerungslücken.

Ihre Regel blieb aus, die Blase des Selbstbetruges platze auf, stürzte sie in einen neuen Angsttraum. Seine Tiefe, Schwärze, übersteigerte ihre Fantasie. Sie eilte in die Berge, verbarg ihren Umstand, fragte sie aus. Ihr war eins bewusst, verkündete sie Aishe, egal ob sie im Wahn zugestimmt oder er ihre Hilflosigkeit ausgenutzt hätte, es war ein Missbrauch gewesen.
Den Rest verschwieg sie Aishe, wie sie ihr vieles verschwieg, mit ihrer Fantasie die Lücken auffüllte. Von dem Umschlag mit dem Geld, den sie im Schwesternwohnheim verwahrt, wie ihren Augapfel beschützt hatte, um sich das Medizinstudium zu finanzieren, sprach sie nie. Es ging niemanden etwas an. Es ging niemanden etwas an, wo sie ihren Schatz verbarg.

Tanja umarmte Aishe und schloss die Augen. Er war nicht irgendeiner. Er, der ihr Leben gestohlen hatte, war das Kind des Ex-Geliebten der Mutter. In der Art wie ein schwarzes Loch genüsslich eine Gaswolke verspeiste, lutschte der Traum ihre Seele aus. Dann war es nicht ihr Streben gewesen, sich auf ihren Erzeuger zu stürzen, ihn dafür zu bestrafen, was er ihr sogleich der Mutter angetan hatte.
Wer war sie?



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