Flucht über die Nordsee 51: Zwangsehe

ahorn

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51. Zwangsehe

Es war der Ort, an dem er Zuflucht fand, die einzige Zeit an der alles vergaß. An zwei kurzweiligen Nachmittagen in der Woche, am Dienstag und Donnerstag ging er zu ihr, Catherine, seiner Ballettlehrerin. Getanzt hatte er bereits in Hamburg, mehr noch, hart trainiert, jede freie Minute. Die Mutter förderte sein Talent, wo es ging und über die wenigen Stunden bei Catherine hielt sie schützend ihre Hand, dem Vater war das Treiben unbekannt.

An diesem Dienstag erwartete sie ihn wie immer in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in einem oberen Geschoss eines stattlichen Gebäudes, in dem sonst betuchte Bürger lebten. Mit einem Unterschied, sie empfang ihn nicht in ihrem Ballettanzug, sondern in einem schwingenden Sommerkleid.
Ihm war an diesem Tag nicht nach Tanzen zumute, die Nachricht des Vaters hatte ihn niedergeschlagen.
»Paul, Cherry, drauschen Sonne, du Gesicht wie Regen«, begrüßte sie ihn.
Er setzte sich zu ihr auf das Chaiselongue. Sie nahm seine zierlichen Finger, schaute ihm in die Augen.
Er berichtete ihr, dass er zur Wehrmacht sollte. Sein Vater hatte ihn an eine Militärschule im Reich angemeldet. Am Wochenende würde er reisen. Sie war erbost darüber, dass Herbert ihm dies antat.
Dem nicht genug, sie hatte gleichfalls eine Nachricht. »Esch isch Kriesch!«, zischte sie.

Er runzelte die Stirn. Sie sprach in Rätzeln. Es war Krieg!
Sie senkte den Kopf, schwang ihn wie ein Elefant, ohne dass ein Rüssel pendelte, und erklärte ihm auf Französisch, was geschehen. Sie sprach meist in ihrer Muttersprache, die er verstand, sich in ihr jedoch nicht ausreichend auszudrücken, konnte. Bei ihr war der Sachverhalt entgegengesetzt ausgeprägt. Die Japaner hatten Perl Habor angegriffen. Es war eine Frage der Zeit, wann die Vereinigten Staaten in den Krieg, der über Europa tobte, eingriffen. Die Nachricht machte ihm Angst, denn sie wusste, was sie sagte. Ihr Freund war Amerikaner und Ingenieur bei den Fordwerken in Deutschland. »Du willst mit deinem Freund abhauen. Wie? Ihr seid nicht verheiratet.«, murmelte er.
Sie atmete tief ein. John, das war sein Name, hatte von seiner Firma die Aufforderung erhalten, ohne Zeitverzug das Land zu verlassen. Am kommenden Tag erwartete sie ihn, um mit ihm das Konsulat in Brüssel aufzusuchen. Sie bedeckte ihren Mund mit einem Fächer. Catherine hatte ein Engagement in London bekommen.

Er zuckte die Achseln. »Wie willst du ohne gültige Papiere auf die Insel?«
Sie berührte mit ihren Lippen seine Ohrmuschel. »John hat einen SS-Offizier kennengelernt.« Dieser Offizier hatte sich vorgenommen mit seiner Familie zu desertieren, seine – wie sie es nannte – Beute vor dem Untergang in Sicherheit zu bringen. »Er braucht Reputation in Staaten et ich Papier!« Sie zwinkerte. »Comprendre!«
Sie scheuchte ihn. »Rapide, rapide dernier prob. Musch au Vortanzen von Mademoiselle deux kommen mit que Ballerinettes.«
Er zog den Kopf zurück, starrte sie an. »Zwei fremde Mädchen nimmst du mit! Mich lässt du hier?«, wetterte er.
Catherine strich über seine Wange. »Ballerinette nischt petit Tanzer. Du Garçon«, hauchte sie.
Paul verschränkte die Arme, stampfte mit den rechten Fuß auf. »Du hast immer gesagt, dass ich die Odette perfekt beherrsche, besser als manch eine große Ballerina.«, schnarrte er.
Sie schloss die Augen. »Du perfect mais« Sie schüttelte den Kopf. »Non Femme!«


Toni legte das Buch zur Seite, schnappte den Füller, kaute auf ihm herum, um ihn wie üblich, wenn er nicht weiterkam, auf den Schreibtisch zu schmettern, und schlug den Schädel auf das unbefleckte Stück Papier.
Er rappelte sich auf, ergriff das Arbeitsblatt. »Das gesellschaftliche Bild der Frau vom Mittelalter bis zur Gründerzeit«, murmelte er.
Er starrte zur Zimmerdecke, an der eine Fliege gefangen im Netz einer Spinne, um sein Leben kämpfte. »Unterthema Zwangsehe!«

Warum er? Es gab alternative Themen zur Auswahl. Frauen in der Arbeitswelt oder Frauen in der Politik. Nein! Er zog das Los Ehe. Vielleicht wollte das Schicksal in Quälen, da er auf einer gewissen Weise bei einer Zwangsehe zugegen war. Die Thematik hätte er mit einem anderen Partner wuppen können, aber auch hier war die Bestimmung gegen ihn. Sonja! Mit ihr sollte er das Referat ausarbeiten. Ihre einzige Arbeit beschränkte sich auf einen Kommentar. Ihr Beitrag in einem Satz gefasst. »Wenn der Mann Reich ist«, echoten die Worte in seinem Schädel.

Er beugte sich über den Schreibtisch, schnappte die Bände, die er aus der Bibliothek geliehen hatte. Die Lehrerin war verrückt, klassische Recherchearbeit! Wozu gab es Internet? Er liebte gebundene Bücher. Leider hatten sie keinen Suchalgorithmus.
Ohne darüber nachgedacht, oder gar gesucht, hielt er ‚Für immer Dein‘ in den Händen. Er erinnerte sich an ein Kapitel, indem Jenni was über Zwangsehe erzählt hatte. Keine historischen Wahrheiten, aber zur Einstimmung!

»Das ist ja grauenvolle«, stöhnte Sabine. »Wie machen die das?«
Jenni umgriff mit der rechten Hand ihre Haare, streifte mit der Linken das Haarband von ihrem Handgelenk über den Zopf. »Sie sprechen arme Familien an, behaupten ihre Töchter würden im Westen ein besseres Leben haben, könnten sie unterstützen. Dann werden sie verheiratet!«
Sabine zog ihre Augenbrauen empor. »Mit wildfremden Männern?«
Die Schultern zuckend, hockte sich Jenni auf die Parkbank. »Keine Seltenheit in diesen Ländern«, pustete sie.
Ihren Rock glatt streichend, setzte sich Sabine neben ihre Freundin. »Eben hast du mir gesagt, dass es Mädchen sind.« Sie tippte an ihre Schläfe. »Kinder können nicht heiraten!«
»Ach. Wer weiß, wie alt sie sind und in anderen Ländern ist eine Ehe mit sechzehn nichts Aufsehenerregendes«, raunte sie, schlug sich an die Stirn. »Die wird bei uns sogar anerkannt.«

Jenni wandte ihr das Gesicht zu. »Wie kommen die dann bei uns rein?«
»Als Illegale, als Flüchtlinge, das ist ja das Perfide«, antwortete sie. »Im Westen angekommen, werden sie anderen Kerlen angeboten.«
»Warum fliehen sie nicht.«
»Du hast Vorstellungen. Illegale marschieren zur Polizei, erzählen, dass ihr Ehemann sie zur Prostitution zwingt. Die schiebt man sofort ab, können sie sich gleich umbringen!«
»Jetzt übertreibst du es!«
»Quatsch! Glaubst du, der Mann darf hierbleiben. Er erzählt doch allen, warum sie zurückkehren mussten, dass sie Anschaffen ging. Nie was von Ehre gehört.«
»Wenn sie es über sich ergehen lassen?«
»Haben sie ebenfalls verloren. Sind bald zu alt für diese perversen Pädophilen. Werden verkauft, landen auf dem Straßenstrich, bis sie mit einer Überdosis im Rinnstein verrecken!«





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