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Felix hatte Agib nach Hause gebracht und war sofort in seine Wohnung gefahren um noch ein paar Stunden Schlaf zu ergattern, bevor er die Aussage Alis mit der Selims synchronisieren würde. Sollte sich aus beiden eine hieb- und -stichfeste Anklage zimmern lassen, würde er Wolong Film und Papiere übergeben und die sauberen Brüder im Zentralgefängnis abliefern. Das Verhör im Depot war nicht illegal. Die Beschuldigten waren nicht länger als 24 Stunden dem Untersuchungsrichter vorenthalten worden und er hatte sie mit rechtsgültigem Haftbefehl festgesetzt. Sollte Wolong das Material für ausreichend befinden, würde wegen des Ausnahmezustandes der Prozessbeginn kurzfristig anberaumt werden. Mit etwas Glück konnte Agib in längstens vier Wochen Hand anlegen. Er dehnte sich genüsslich und schämte sich seiner Grausamkeit nicht im mindesten.
Ausgeschlafen kraxelte er sechs Stunden später in die Kantine hoch und nahm sein Croissant mit Milchkaffee. Wieder in seinem Appartement, widmete er sich den in akkurater, leserlicher Schrift abgefassten Aufzeichnungen Alis.
Nach der ersten Seite auf der Ali sein Herkommen, Ausbildung und Familienstand beschrieb, kam er zur Sache. Für Felix wurde es Satz für Satz spannender. Auf diesen zehn Seiten entrollte sich die von langer Hand geplante Konspiration, zweier Söhnen gegen ihren Vater, die die Revolte für ihre Zwecke zu nutzen verstanden hatten.
Für die kommende Gerichtsverhandlung war allein wichtig, wie Ali den Kommandeur des aufrührerischen Panzerbattalions Nr. 7 gekauft, ihn dazu bewegt hatte, ihm für 24 Stunden eine Abteilung Bewaffneter zur Verfügung zu stellen. Es handelte sich um den Zug Nr.3 der zweiten Kompagnie, befehligt von Leutnant Ofago. Dieser Trupp war mit Selim, nachdem einige Kästen Bier und diverse Flaschen Schnaps, die Soldaten in Stimmung gebracht, der Leutnant mit 1000.- Dollar geschmiert worden war, über die Bleibe der Melbas hergefallen. Was dann geschah schrieb Ali, weiß ich nicht, ich habe Selim vor unserer Verhaftung nicht mehr sprechen können.
Ist auch völlig gleichgültig, mein lieber Ali, freute sich Felix. Das einzig Wichtige an deinem Bericht, ist der Name des Leutnants Ofago. Er und seine Leute, stehen durch dein Geständnis unter Mordverdacht.
Anzunehmen ist, die werden sich nicht ohne weiteres, als allein Schuldige bestrafen lassen. Es wird Ausagen geben, Belastungs und Augenzeugen. Liebe Gebrüder Ondurman, ich glaube ihr lebt nicht mehr lange.
Was Ali anging, war das eine Sache für den Staatsgerichtshofes. Es konnte ihm durchaus an den Kragen gehen. Während eines Staatsnotstands Truppen durch Bestechung ihrem Dienst zu entziehen, konnte den Tod bedeuten.
Felix rief Wolong an und bat um einen Termin. Komm sofort, forderte Wolong, nachdem er ihn gebrieft hatte. Felix nahm Film und Geständnis, stieg die zwei Treppen zu Wolong hoch.
„Komm rein,“ freute sich Mom, „mit einem so schnellen Ende hätte ich nicht gerechnet, erzähl!“ Mom hörte aufmerksam zu, als Felix ihm die einzelnen Etappen Verhaftung, Verhör bis zu den Geständnissen schilderte. Er war wie Felix der Meinung, es würde für Ali sehr eng werden. Erschwerend kommt hinzu, die Brüder hatten aus niederen Motiven gehandelt. Selim wird mit der Ausrede, er habe keine Befehlsgewalt gehabt, gemordet habe die Truppe, nicht durchkommen, ganz abgesehen von den Ausagen der Soldaten.
„Hervorragende Arbeit,“ beendete der Innenminister die Unterredung, und schüttelte seinem obersten Polizisten die Hand. Er begleitete ihn zur Tür, als er Felix Zögern bemerkte, fragte er: „Gibt es noch etwas?“ „Ja eine Kleinigkeit,“ antwortete Felix, „ich werde den Dienst quittieren, dreissig Jahre sind genug.“
„Komm wieder rein, du bist wahnsinnig, das ist keine Kleinigkeit und geht nicht zwischen Tür und Angel. Ich brauche dich, ich meine wir brauchen dich, das Land braucht dich!“
„Mom,“ erwiderte Felix, „es gibt Gründe, private und dienstliche. Der erste Grund ist, ich habe mich verliebt, nein, nicht einfach verliebt, es ist mehr. Der zweite Grund, ich habe etwas getan, was ein Polizist unter gar keinen Umständen tun darf. Lass es mich nicht aussprechen, du weißt was ich meine. Bitte nicht den Einwand, es wäre halb so schlimm gewesen. Ich gehe davon aus, Agib hat dich auf dem Laufenden gehalten, dir seine Psychotricks erklärt. Ich hoffe du glaubst nicht, ich wolle mich vor der Verantwortung drücken, du weißt Achmed Ondurman war mein ältester und engster Freund. Ich hasse seine Brut, für dass was die ihrem Vater angetan haben, so sehr, dass ich ihnen zur Erzwingung einer Ausage eigenhändig die Nägel von den Fingern gerissen hätte.“
„Haben die Achmed gefoltert?“
„Nein, Mom, schlimmer. Ich vermute, Selim hat Lefa vor den Augen seines Vaters vergewaltigt, bevor sie alle ermordet wurden. Die Ausagen der Soldaten, die an dem Massaker am Fluss beteiligt waren, werden das klären.“
„O dieses gottverdammte, niederträchtige Schwein! Selim Ondurman der geschniegelte Society Beau, was hat den geritten? Wie kommt ein Mann dazu, seinem Vater das anzutun? Der arme Achmed, hoffentlich musste er nicht mehr lange leben, mit der Schande einen solchen Auswurf von Sohn zu haben.“
Wolong war außer sich, „hätte ich das vorher gewusst, hättest du Agib nicht bekommen. Diese fette Ratte sitzt jetzt bequem im Knast, lässt es sich wohl sein. Selbst das baumeln macht nicht wett, was er getan hat.“
„Mom, die sind noch nicht im Gefängnis. Beiden sitzen noch angekettet im Depot, ich gehe sie holen und liefere sie im Knast ab.“
Felix holte sich zwei Mann, und fuhr zum Depot. Selim riss schon wieder das Maul auf. Felix gab einem der Männer einen Wink, der schloss ihn von der Wand und verklebte ihm das Schreiloch mit einem breiten Streifen Pflaster. Dann holten sie Ali, ketteten ihn an seinen Bruder und steckten beide ins Auto. Die Rückfahrt verlief schweigsam, Ali sagte nichts und Selim konnte nichts sagen.
Als Felix sie im Gefängnis ablieferte, bat Ali ihn dafür zu sorgen, nicht mit Selim in eine Zelle zu kommen. Ich kann den Anblick dieses perversen Tiers nicht ertragen, schüttelte er sich.
Als er draußen vor der Haftanstalt stand, atmete Felix tief durch. Der Gedanke an Charlie überfiel ihn mit aller Macht.
Es darf wieder sein, sie darf mich ab sofort Tag und Nacht beherrschen. Ich stelle sie mir vor, sehe ihr in die Augen, streichle ihre weiche Haut, ruf mir ihren Duft nach See, Sonne und Charlie in die Erinnerung, und vor allen Dingen rufe ich sie jetzt sofort an! Halt noch nicht, eins war noch zu erledigen: Robert und Tochter. Er rief Moms Vorzimmer an und fragte welcher Arzt die beiden betreue. Dr. Gomba kam der Bescheid und ob sie gleich durchstellen solle, zu Dr. Gomba, fragte die freundliche Dame.
Ja, doch, stellen sie durch, bat Felix und einen klick weiter, meldete sich Dr. Gomba. Was er berichtete, hörte sich den Umständen entsprechend gut an. Beide dämmerten in einem künstlichen Schlaf, ganz nahe an der Wachgrenze. Der Mann Robert, war am Anfang kaum zu bändigen, wir mussten ihn zeitweilig in Tiefschlaf versetzten. Seit einigen Stunden geht es besser, er weint und betet, schläft und weint. Alles ohne Bewusstsein, Kommissar. Das hilft der Psyche sich zu erholen. Wir können ihm die Trauer nicht abnehmen, aber hoffentlich die Kraft geben, sie zu tragen.
„Wie lange muss er schlafen, Doktor?“
„Vier Wochen schätz ich. Bevor wir ihn aufwachen lassen, machen wir ein EEG, das hilft uns bei der Einschätzung seiner Befindlichkeit. Mit dem Mädchen verfahren wir auf gleiche Weise, obwohl ich glaube, sie steckt das besser weg. Hat das Schlimmste am Tatort erlebt, der Schock war fast nicht mehr zu diagnostizieren, als wir sie untersuchten. Das deutet darauf hin, dass sie Angst und Frust im Unbewussten bewahrt, wo es später bei irgend einer Gelegenheit hervorbricht. Wir nennen das flashback. Um sie möglichst davon zu befreien, halten wir sie erst einmal schlafend. Alles weitere bringt die Zukunft und Gott.“
„Danke Dr. Gomba,“ verabschiedete sich Felix. „Ich melde mich in vier Wochen.“
Er ließ sich nach Hause fahren, stellte sich unter die Dusche und seifte sich mehrmals von Kopf bis Fuß ab. Als er sich abtrocknete, kehrte das Gefühl für Felix der er war, den er gut zu kennen glaubte, langsam zurück.
Jetzt Charlie anrufen, wieder zögerte er. Genau wie eben, als er vor den Anruf die Erkundigung nach Robert und Tochter eingeschoben hatte. Hab ich Angst, fragte er sich? Angst wovor? Sie zu verlieren, oder sie schon verloren zu haben? Unfug, ich habe sie im guten Sinne nie besessen, will sie auch nicht besitzen, von ihr besessen sein, schon. Abgesehen davon, kann niemand eine Frau wie Charlie besitzen. Er wählte ihre Handynummer, der Ruf ging durch und lief ins Leere. Sie hatte ihr Handy abgestellt, nicht schlimm tröstete er sich, sie wird sehen, ich habe mich gemeldet und zurückrufen.
Jetzt Wolong, ich bin noch nicht fertig mit ihm, meine Demission ist im Wutgeheul über den scheußlichen Selim, untergegangen. Er wird es ernst nehmen, aber versuchen es zu verschieben, nach der Devise kommt Zeit kommt Rat. Die Sache mit Agib ist nicht relevant für ihn, er wird sich darauf versteifen, es war keine Folter war. Verglichen mit dem, was in Guantanamo und Abu Greib geschieht und geschah, ist es eine Petitesse.
Hab in der Sache keine wirklich starken Argumente, so sehr ich die Art und Weise Aussagen unter schärfstem Druck zu erlangen, verabscheue. Es macht unter solchen Bedingungen keinen Spaß, Polizist zu sein. Wie säh mein Sensorium nach zehn Einsätzen dieser Art aus? Nach zehn weiteren Beschwichtigungen, mit dem Hinweis auf die Schandtaten der Anderen. Geht nicht mehr, Maschin kapput! Hinzu kommt, sollte mein Traum, von und mit Charlie in Erfüllung gehen, nach Hatta geht die nie. Wäre nicht ihre Welt, das Mädchen würde hier eingehen.
Nein Momo, ich bin für die Polizei von Hatta verloren. Jetzt muss ich für einige Zeit Geschäftsmann werden, meinen Besitz aus dem Achmed Ondurmans herauspräparieren, bin gespannt wer seine Erben sind. Hinter das Geheimnis der Wand in seinem Büro war niemand gekommen, werde das erst lüften, wenn ich mit einem Notar davor stehe. Von den aktiven Geschäften, trenne ich mich schnellstmöglichst. Geschäftlich erfahrene Ondurmans gibt es nicht mehr, da wird allerhand angeboten werden, das Interesse groß sein. Von den Immobilien trenne ich mich langsamer, finde ich einen guten Verwalter darf das Jahre dauern.
Das Handy meldete sich, vor Aufregung drückte er die falsche Taste, und die Verbindung war dahin. Beim nächsten Ton klappte es, Charlie war am anderen Ende. „Willst du mich noch?“ fragte er, sie prustete los, wollte wissen: „Warum sollt ich nicht, kommst du zurück?“ „Ja liebste Charlie, muss den Flug noch buchen. Habe meinen Job vor einer halben Stunde beendet, und direkt an den Nagel gehängt. Klappt alles, bin ich morgen früh in Orly oder Charles de Gaulle, weiß nicht wo der Flieger landet, miete mir ein Auto und bin...“
„Stopp Felix, du mietest dir kein Auto, weil ich dich am Flughafen erwarte. Bitte ein sms mit der Ankunftszeit, ich freu mich wie ne Auster. Muss jetzt aufhören, schippere eine Jungmeute die Küste entlang. Mail mir Ankunft und Airport, Kuss!“ Weg war sie.
Felix legte das Handy auf den Tisch und streckte sich. Für Charlie war er kaum fort gewesen, ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Es waren tatsächlich nur zwei Tage und Nächte. Die jedoch vollgepackt mit so unerwarteten, schwer zu verdauenden Tatsachen, dass sein Gefühl ihm Wochen vorgaukelte.
Er rief die freundlich Dame in Moms Vorzimmer an, und ließ sie einen Flug nach Paris buchen, der irgendwann am Vormittag des nächsten Tages dort eintreffen sollte. Danach schlief er ein.
Als sie sich meldete, ihm die Daten für den Flug durch gab, hatte er acht Stunden geschlafen, wie ein schneller Blick auf die Uhr zeigte. Er musste gegen vier Uhr einchecken, der Flieger gegen fünf starten, Charlie konnte ihn gegen elf am Gateway erwarten. Seine SMS lautete: „Wenn alles gut geht, küssen wir uns gegen elf am Gateway Nr.?? von Charles de Gaulle! Felix, der Glückliche, nomen est omen! Flug Nr. 477 Air France von Hatta nach Paris.“
Schnell kramte er die paar Sachen zusammen, die er mitnehmen wollte, der große Rest war bei Charlie, stellte den Wecker auf halbdrei, legte sich und war sofort wieder weg. Sein letzter Gedanke war, bis ich in Paris Charlie gegenübertrete ist alles Routine, könnte das im Schlaf bewältigen.
Charlie war unterdes mit der Jungmeute, wie sie die gestandenen Segler der Auswahl für das Segelturnier Coup des Marenne genannt hatte, nicht vor der Küste, sondern bei immer kabbeliger werdender See, in Richtung auf den offenen Ozean unterwegs. Sie fuhren mit vollem Zeug was die Kiste hergab, Richtung südost. Das Boot lag fast quer zum Wasser, ihre Crew hing backbord weit nach außen, um genügend Gegengewicht zu machen.
An der Kimm tauchte eine Flotte Trawler auf, in deren Gehege sie ohne Richtungsänderung, kommen würden. Charlie die mit großer Anstrengung die Pinne kontrollierte, spitzte die Lippen und produzierte einen Pfiff, gegen den brausenden Wind. Der ihr nächste Mann richtete sich vorsichtig auf, sie deutete mit den Kopf auf die kleine Trawlerflotte. Er kapierte sofort, reffte mit seinem Nebenmann das Großsegel, um Fahrt aus dem Boot zu nehmen. Langsam richtete das Schiff sich auf, die Crew kam zurück an Bord und sie drehten weg von den Sardinenfängern.
Aus der Richtung in die sie sich bewegt hatten, schossen tiefhängende Wolkenfetzen, mit dem immer wilder werdenden Wind über die See. Charlie verständigte sich mit dem Vormann ihrer Crew, der nach Land hin wies, was ab in den Hafen bedeutete. Den Schub des Sturms nutzend, lief sie in großem Bogen auf Land zu, als an Steuerbord ein rote Rakete hochstieg. Gleichzeitig ein Schrei hinter ihr: „Eine Wasserhose, nein, ein Kawenzmann und dann strudelndes, brüllendes, brausendes Wasser. Sie klammerte sich an die Pinne, hörte Schreie, wurde fortgerissen, um sämtliche Körperachsen gedreht, hochgeschleudert, in die Tiefe gestaucht, tausend Sterne explodierten ihr im Kopf. Lebe ich, dachte sie, ja doch, ein Schmerz, besonders im Kopf brummte wahnsinnig.
Als sie wieder Luft bekam, trieb sie in ihrer Schwimmweste hängend, auf dem Kamm einer Welle, von dem sie zu Tal rutschte, schneller und schneller, um unten angekommen, sogleich, wie mit dem Aufzug, auf den nächsten Kamm geschoben zu werden.
Dort angekommen, versuchte sie durch geschicktes Paddeln, lange genug oben zu bleiben um sich umzusehen. Nicht allzuweit seitab, machte sie die Trawler aus, die ihre liebe Not mit dem tobsüchtig um sich schlagenden Meer hatten. Schnell rutschte sie runter, das ging munter so weiter, rauf und runter, mal behäbig, mal quick und quirlig, das Wasser war warm, Unterkühlung nicht so schnell zu befürchten. Von den Männern und ihrem Boot keine Spur. Vielleicht war sie allein von der Riesenwelle weggespült worden, das Boot unterwegs zum Hafen. Irgendwann fiel ihr die Schwimmweste ein, ich scheine die aktiviert zu haben, sonst hätte das Ding sich nicht aufgeblasen, dann muss auch die rote Leuchte brennen. Sicher werde ich schon gesucht, träumte sie vor sich hin und sah sich auf dem Rasen hinter dem Elternhaus, in einer Wiege liegen. Die Mutter beugte sich über sie und fragte, wer sie da so böse am Kopf erwischt habe. Sieht schlimmer aus als es ist, tröstete die Mama, wird bald heilen, wieg dich weiter, rauf und runter, runter und rauf!
Stopp Charlie, so geht das nicht weiter! Herrschte sie sich an. Fürchte dich! Fürchte dich vor dem Hai, dem Sturm, egal wo vor, doch fürchte dich. Hinter dir lauert der Tod, die Wiege, die Mama, Elternhaus und Rasen, alles der Tod. Kämpfe! Tröste dich nicht! Auch 21° warmes Wasser tötet mit der Zeit! Deine Träume deuten auf Unterkühlung, strample mit den Beinen, rudere auf die Trawler zu, die sehen dich nicht, haben im Moment besseres zu tun. Los vorwärts! Die Trawler haben riesige Schleppnetze ausgelegt, finde eins, lass dich fangen!
Charlie tat, was sie sich befahl. Sie ruderte, strampelte, versuchte die Fischer im Auge zu behalten, machte sich klar, noch bei Tageslicht musste sie ein Netz finden, die Nacht war der Tod. Plötzlich stand Felix vor ihr. Ihr Felix den sie morgen in Paris treffen wollte. Merde, Felix Liebster, ich bin unterwegs zu den Fischen. Aber ich werde kämpfen, abholen werde ich dich nicht, aber an Bord eines der Trawler, werde ich es schaffen. Warum auch nicht, all die Fische die nicht hin wollen, landen auch dort. Und ich, die nichts sehnlicher wünscht, als ins Netz zu gehen, soll das nicht schaffen? Da lachen ja die Hühner, quatsch die Fische!
Sie paddelte mit den Armen, strampelte mit den Beinen, sprach mit Felix, flüsterte ihm von ihrer Liebe ins Ohr, ließ ihn aber nicht antworten. Felix! Sie schrie so laut, dass es trotz des Höllenlärms um sie herum, in ihren Ohren gellte: Felix antworte nicht! Sonst glaub ich, du bist der Tod. Etwas kroch herum in ihrem Brummschädel, klopfte von innen an die Schädelwand, schabte mit feinem Finger, bereitete irren Schmerz. Was geschieht mir, mir, mir? Lebe ich noch, ist der Mann da auf der Welle, Felix? Was tut der da, war doch in Afrika, war nicht im Boot, als die Welle kam.
Plötzlich zog etwas an ihr, zog durch die Wellen durch, einfach durch, nicht rauf, nicht runter, durch. Sie schluckte Wasser spuckte, hustete, das tat weh an den Fingern, was soll das? Da begriff sie, wurde wach, hellwach, tastete nach der Hand mit den schmerzenden Fingern, ein Netz, das Netz! Sie hackte die Finger der rechten Hand in die Maschen, das tat den Fingern der linken gut. Zu sehen war nichts, Luft musste sie kriegen, das Netz hing verdammt tief. Immer wieder ging’s durch ein Wellental, der Moment nach Luft zu schnappen, dann haushalten mit der Luft, nicht bewegen, nur auf die nächste Atemgelegenheit spannen. So ging das unendlich immer weiter, halbtot, kaum mehr lebendig, krallte sie sich in die Maschen, kotzte, spie und glaubte fast nicht mehr an Rettung, als etwas in ihrem Schädel zu pochen begann.
Tuck, tuck, tuck, tuck tuck. Sie ahmte das tuck nach, dachte tuck tuck tuck, aber das Geräusch überholte sie, wurde lauter, wollte nicht enden und sie begriff: Ein Trawlermotor, sie war dicht bei einem Fischerboot, und es ging aufwärts, hoch, heraus aus dem Wasser. Ein Licht stach ihr in die Augen, Sprache, es wurde gesprochen, sie horchte, verstand nichts. Arme hoben sie hoch, ist das jetzt der Tod? Das Wort Tod schwamm durch ihr Denken, anstrengen Charlie, murmelte sie, und zuckte mit Armen und Beinen. Was ist das, sie stand Kopf, ja ich stehe Kopf! Zirkus, der alte Akrobat hatte auf dem Kopf stehend, die Liedchen gesungen, die wir Kinder ihm zuriefen. Ha, das Wasser sprudelt, ich bin eine Quelle oder was bin ich, bin, bin, bin.
Sie wurde in einer engen Koje wach, als sie durch das schummrige Tageslicht blinzelte, das durch ein winziges Bullauge fiel, sah sie auf dem Tisch ihre Klamotten ausgebreitet. Sie tastete nach ihrem Körper, der in einem viel zu großen, gelbrosa gestreiften Flanellnachthemd steckte. Ihr Kopf, sie hatte ihn nur ein wenig bewegt, schmerzte höllisch. Vorsichtig befühlte sie ihren Schädel, da war nur dicker Verband, getränkt mit einem Desinfektionsmittel, nach dem die ganze, winzige Kajütte stank.
Sie ließ sich zurücksinken und stellte fest: Ich lebe! War verdammt haarscharf, das Netz hat mich gerettet, wie ich mich da eingehakt habe, keine Ahnung. Jetzt erst bemerkte sie ihre verbundenen Finger. O Charlie dachte sie, und gleichzeitig, o Felix, ich freu mich so auf das Leben, vielleicht ja mit dir. Das Meer hat mich ausgespuckt, könnte sein, es hatte ein Einsehn mit uns. Ist lebendig der Ozean, so lebendig wie wir Felix, für uns nicht auszuloten, hat nichts mit Glauben zu tun, ist so.
Felix wird erschrecken, er rechnet damit, dass ich ihn abhole. Er wird bei Onkel Sascha oder dem Bon Voyage anrufen. Werden die ihm sagen, Charlie ist auf dem Meer geblieben, im Meer ertrunken? Früher sagten die Leute so: Auf dem Meer geblieben. Quatsch die Leute, meine Groß und Ur, Ur, Urgroßmutter haben das gesagt, wie sie auch sagten, im Felde geblieben, wenn einer der Männer, im Krieg ermordet worden war. Die Gesichter in die Schürzen versteckt, haben sie ihre Söhne, Brüder, Männer und Liebsten, beweint.
Kann ich aufstehen? Sie versuchte sich aufzurichten, doch der Schmerz im Kopf, zwang sie zurück auf das Kissen. Jetzt half nur warten und schlafen, damit das Warten schneller verging. Die Fischer würden sich schon um sie kümmern, sobald sie Zeit dazu hatten. Die mussten Fische ernten, solange genug Treibstoff im Tank war.
Felix hatte Agib nach Hause gebracht und war sofort in seine Wohnung gefahren um noch ein paar Stunden Schlaf zu ergattern, bevor er die Aussage Alis mit der Selims synchronisieren würde. Sollte sich aus beiden eine hieb- und -stichfeste Anklage zimmern lassen, würde er Wolong Film und Papiere übergeben und die sauberen Brüder im Zentralgefängnis abliefern. Das Verhör im Depot war nicht illegal. Die Beschuldigten waren nicht länger als 24 Stunden dem Untersuchungsrichter vorenthalten worden und er hatte sie mit rechtsgültigem Haftbefehl festgesetzt. Sollte Wolong das Material für ausreichend befinden, würde wegen des Ausnahmezustandes der Prozessbeginn kurzfristig anberaumt werden. Mit etwas Glück konnte Agib in längstens vier Wochen Hand anlegen. Er dehnte sich genüsslich und schämte sich seiner Grausamkeit nicht im mindesten.
Ausgeschlafen kraxelte er sechs Stunden später in die Kantine hoch und nahm sein Croissant mit Milchkaffee. Wieder in seinem Appartement, widmete er sich den in akkurater, leserlicher Schrift abgefassten Aufzeichnungen Alis.
Nach der ersten Seite auf der Ali sein Herkommen, Ausbildung und Familienstand beschrieb, kam er zur Sache. Für Felix wurde es Satz für Satz spannender. Auf diesen zehn Seiten entrollte sich die von langer Hand geplante Konspiration, zweier Söhnen gegen ihren Vater, die die Revolte für ihre Zwecke zu nutzen verstanden hatten.
Für die kommende Gerichtsverhandlung war allein wichtig, wie Ali den Kommandeur des aufrührerischen Panzerbattalions Nr. 7 gekauft, ihn dazu bewegt hatte, ihm für 24 Stunden eine Abteilung Bewaffneter zur Verfügung zu stellen. Es handelte sich um den Zug Nr.3 der zweiten Kompagnie, befehligt von Leutnant Ofago. Dieser Trupp war mit Selim, nachdem einige Kästen Bier und diverse Flaschen Schnaps, die Soldaten in Stimmung gebracht, der Leutnant mit 1000.- Dollar geschmiert worden war, über die Bleibe der Melbas hergefallen. Was dann geschah schrieb Ali, weiß ich nicht, ich habe Selim vor unserer Verhaftung nicht mehr sprechen können.
Ist auch völlig gleichgültig, mein lieber Ali, freute sich Felix. Das einzig Wichtige an deinem Bericht, ist der Name des Leutnants Ofago. Er und seine Leute, stehen durch dein Geständnis unter Mordverdacht.
Anzunehmen ist, die werden sich nicht ohne weiteres, als allein Schuldige bestrafen lassen. Es wird Ausagen geben, Belastungs und Augenzeugen. Liebe Gebrüder Ondurman, ich glaube ihr lebt nicht mehr lange.
Was Ali anging, war das eine Sache für den Staatsgerichtshofes. Es konnte ihm durchaus an den Kragen gehen. Während eines Staatsnotstands Truppen durch Bestechung ihrem Dienst zu entziehen, konnte den Tod bedeuten.
Felix rief Wolong an und bat um einen Termin. Komm sofort, forderte Wolong, nachdem er ihn gebrieft hatte. Felix nahm Film und Geständnis, stieg die zwei Treppen zu Wolong hoch.
„Komm rein,“ freute sich Mom, „mit einem so schnellen Ende hätte ich nicht gerechnet, erzähl!“ Mom hörte aufmerksam zu, als Felix ihm die einzelnen Etappen Verhaftung, Verhör bis zu den Geständnissen schilderte. Er war wie Felix der Meinung, es würde für Ali sehr eng werden. Erschwerend kommt hinzu, die Brüder hatten aus niederen Motiven gehandelt. Selim wird mit der Ausrede, er habe keine Befehlsgewalt gehabt, gemordet habe die Truppe, nicht durchkommen, ganz abgesehen von den Ausagen der Soldaten.
„Hervorragende Arbeit,“ beendete der Innenminister die Unterredung, und schüttelte seinem obersten Polizisten die Hand. Er begleitete ihn zur Tür, als er Felix Zögern bemerkte, fragte er: „Gibt es noch etwas?“ „Ja eine Kleinigkeit,“ antwortete Felix, „ich werde den Dienst quittieren, dreissig Jahre sind genug.“
„Komm wieder rein, du bist wahnsinnig, das ist keine Kleinigkeit und geht nicht zwischen Tür und Angel. Ich brauche dich, ich meine wir brauchen dich, das Land braucht dich!“
„Mom,“ erwiderte Felix, „es gibt Gründe, private und dienstliche. Der erste Grund ist, ich habe mich verliebt, nein, nicht einfach verliebt, es ist mehr. Der zweite Grund, ich habe etwas getan, was ein Polizist unter gar keinen Umständen tun darf. Lass es mich nicht aussprechen, du weißt was ich meine. Bitte nicht den Einwand, es wäre halb so schlimm gewesen. Ich gehe davon aus, Agib hat dich auf dem Laufenden gehalten, dir seine Psychotricks erklärt. Ich hoffe du glaubst nicht, ich wolle mich vor der Verantwortung drücken, du weißt Achmed Ondurman war mein ältester und engster Freund. Ich hasse seine Brut, für dass was die ihrem Vater angetan haben, so sehr, dass ich ihnen zur Erzwingung einer Ausage eigenhändig die Nägel von den Fingern gerissen hätte.“
„Haben die Achmed gefoltert?“
„Nein, Mom, schlimmer. Ich vermute, Selim hat Lefa vor den Augen seines Vaters vergewaltigt, bevor sie alle ermordet wurden. Die Ausagen der Soldaten, die an dem Massaker am Fluss beteiligt waren, werden das klären.“
„O dieses gottverdammte, niederträchtige Schwein! Selim Ondurman der geschniegelte Society Beau, was hat den geritten? Wie kommt ein Mann dazu, seinem Vater das anzutun? Der arme Achmed, hoffentlich musste er nicht mehr lange leben, mit der Schande einen solchen Auswurf von Sohn zu haben.“
Wolong war außer sich, „hätte ich das vorher gewusst, hättest du Agib nicht bekommen. Diese fette Ratte sitzt jetzt bequem im Knast, lässt es sich wohl sein. Selbst das baumeln macht nicht wett, was er getan hat.“
„Mom, die sind noch nicht im Gefängnis. Beiden sitzen noch angekettet im Depot, ich gehe sie holen und liefere sie im Knast ab.“
Felix holte sich zwei Mann, und fuhr zum Depot. Selim riss schon wieder das Maul auf. Felix gab einem der Männer einen Wink, der schloss ihn von der Wand und verklebte ihm das Schreiloch mit einem breiten Streifen Pflaster. Dann holten sie Ali, ketteten ihn an seinen Bruder und steckten beide ins Auto. Die Rückfahrt verlief schweigsam, Ali sagte nichts und Selim konnte nichts sagen.
Als Felix sie im Gefängnis ablieferte, bat Ali ihn dafür zu sorgen, nicht mit Selim in eine Zelle zu kommen. Ich kann den Anblick dieses perversen Tiers nicht ertragen, schüttelte er sich.
Als er draußen vor der Haftanstalt stand, atmete Felix tief durch. Der Gedanke an Charlie überfiel ihn mit aller Macht.
Es darf wieder sein, sie darf mich ab sofort Tag und Nacht beherrschen. Ich stelle sie mir vor, sehe ihr in die Augen, streichle ihre weiche Haut, ruf mir ihren Duft nach See, Sonne und Charlie in die Erinnerung, und vor allen Dingen rufe ich sie jetzt sofort an! Halt noch nicht, eins war noch zu erledigen: Robert und Tochter. Er rief Moms Vorzimmer an und fragte welcher Arzt die beiden betreue. Dr. Gomba kam der Bescheid und ob sie gleich durchstellen solle, zu Dr. Gomba, fragte die freundliche Dame.
Ja, doch, stellen sie durch, bat Felix und einen klick weiter, meldete sich Dr. Gomba. Was er berichtete, hörte sich den Umständen entsprechend gut an. Beide dämmerten in einem künstlichen Schlaf, ganz nahe an der Wachgrenze. Der Mann Robert, war am Anfang kaum zu bändigen, wir mussten ihn zeitweilig in Tiefschlaf versetzten. Seit einigen Stunden geht es besser, er weint und betet, schläft und weint. Alles ohne Bewusstsein, Kommissar. Das hilft der Psyche sich zu erholen. Wir können ihm die Trauer nicht abnehmen, aber hoffentlich die Kraft geben, sie zu tragen.
„Wie lange muss er schlafen, Doktor?“
„Vier Wochen schätz ich. Bevor wir ihn aufwachen lassen, machen wir ein EEG, das hilft uns bei der Einschätzung seiner Befindlichkeit. Mit dem Mädchen verfahren wir auf gleiche Weise, obwohl ich glaube, sie steckt das besser weg. Hat das Schlimmste am Tatort erlebt, der Schock war fast nicht mehr zu diagnostizieren, als wir sie untersuchten. Das deutet darauf hin, dass sie Angst und Frust im Unbewussten bewahrt, wo es später bei irgend einer Gelegenheit hervorbricht. Wir nennen das flashback. Um sie möglichst davon zu befreien, halten wir sie erst einmal schlafend. Alles weitere bringt die Zukunft und Gott.“
„Danke Dr. Gomba,“ verabschiedete sich Felix. „Ich melde mich in vier Wochen.“
Er ließ sich nach Hause fahren, stellte sich unter die Dusche und seifte sich mehrmals von Kopf bis Fuß ab. Als er sich abtrocknete, kehrte das Gefühl für Felix der er war, den er gut zu kennen glaubte, langsam zurück.
Jetzt Charlie anrufen, wieder zögerte er. Genau wie eben, als er vor den Anruf die Erkundigung nach Robert und Tochter eingeschoben hatte. Hab ich Angst, fragte er sich? Angst wovor? Sie zu verlieren, oder sie schon verloren zu haben? Unfug, ich habe sie im guten Sinne nie besessen, will sie auch nicht besitzen, von ihr besessen sein, schon. Abgesehen davon, kann niemand eine Frau wie Charlie besitzen. Er wählte ihre Handynummer, der Ruf ging durch und lief ins Leere. Sie hatte ihr Handy abgestellt, nicht schlimm tröstete er sich, sie wird sehen, ich habe mich gemeldet und zurückrufen.
Jetzt Wolong, ich bin noch nicht fertig mit ihm, meine Demission ist im Wutgeheul über den scheußlichen Selim, untergegangen. Er wird es ernst nehmen, aber versuchen es zu verschieben, nach der Devise kommt Zeit kommt Rat. Die Sache mit Agib ist nicht relevant für ihn, er wird sich darauf versteifen, es war keine Folter war. Verglichen mit dem, was in Guantanamo und Abu Greib geschieht und geschah, ist es eine Petitesse.
Hab in der Sache keine wirklich starken Argumente, so sehr ich die Art und Weise Aussagen unter schärfstem Druck zu erlangen, verabscheue. Es macht unter solchen Bedingungen keinen Spaß, Polizist zu sein. Wie säh mein Sensorium nach zehn Einsätzen dieser Art aus? Nach zehn weiteren Beschwichtigungen, mit dem Hinweis auf die Schandtaten der Anderen. Geht nicht mehr, Maschin kapput! Hinzu kommt, sollte mein Traum, von und mit Charlie in Erfüllung gehen, nach Hatta geht die nie. Wäre nicht ihre Welt, das Mädchen würde hier eingehen.
Nein Momo, ich bin für die Polizei von Hatta verloren. Jetzt muss ich für einige Zeit Geschäftsmann werden, meinen Besitz aus dem Achmed Ondurmans herauspräparieren, bin gespannt wer seine Erben sind. Hinter das Geheimnis der Wand in seinem Büro war niemand gekommen, werde das erst lüften, wenn ich mit einem Notar davor stehe. Von den aktiven Geschäften, trenne ich mich schnellstmöglichst. Geschäftlich erfahrene Ondurmans gibt es nicht mehr, da wird allerhand angeboten werden, das Interesse groß sein. Von den Immobilien trenne ich mich langsamer, finde ich einen guten Verwalter darf das Jahre dauern.
Das Handy meldete sich, vor Aufregung drückte er die falsche Taste, und die Verbindung war dahin. Beim nächsten Ton klappte es, Charlie war am anderen Ende. „Willst du mich noch?“ fragte er, sie prustete los, wollte wissen: „Warum sollt ich nicht, kommst du zurück?“ „Ja liebste Charlie, muss den Flug noch buchen. Habe meinen Job vor einer halben Stunde beendet, und direkt an den Nagel gehängt. Klappt alles, bin ich morgen früh in Orly oder Charles de Gaulle, weiß nicht wo der Flieger landet, miete mir ein Auto und bin...“
„Stopp Felix, du mietest dir kein Auto, weil ich dich am Flughafen erwarte. Bitte ein sms mit der Ankunftszeit, ich freu mich wie ne Auster. Muss jetzt aufhören, schippere eine Jungmeute die Küste entlang. Mail mir Ankunft und Airport, Kuss!“ Weg war sie.
Felix legte das Handy auf den Tisch und streckte sich. Für Charlie war er kaum fort gewesen, ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Es waren tatsächlich nur zwei Tage und Nächte. Die jedoch vollgepackt mit so unerwarteten, schwer zu verdauenden Tatsachen, dass sein Gefühl ihm Wochen vorgaukelte.
Er rief die freundlich Dame in Moms Vorzimmer an, und ließ sie einen Flug nach Paris buchen, der irgendwann am Vormittag des nächsten Tages dort eintreffen sollte. Danach schlief er ein.
Als sie sich meldete, ihm die Daten für den Flug durch gab, hatte er acht Stunden geschlafen, wie ein schneller Blick auf die Uhr zeigte. Er musste gegen vier Uhr einchecken, der Flieger gegen fünf starten, Charlie konnte ihn gegen elf am Gateway erwarten. Seine SMS lautete: „Wenn alles gut geht, küssen wir uns gegen elf am Gateway Nr.?? von Charles de Gaulle! Felix, der Glückliche, nomen est omen! Flug Nr. 477 Air France von Hatta nach Paris.“
Schnell kramte er die paar Sachen zusammen, die er mitnehmen wollte, der große Rest war bei Charlie, stellte den Wecker auf halbdrei, legte sich und war sofort wieder weg. Sein letzter Gedanke war, bis ich in Paris Charlie gegenübertrete ist alles Routine, könnte das im Schlaf bewältigen.
Charlie war unterdes mit der Jungmeute, wie sie die gestandenen Segler der Auswahl für das Segelturnier Coup des Marenne genannt hatte, nicht vor der Küste, sondern bei immer kabbeliger werdender See, in Richtung auf den offenen Ozean unterwegs. Sie fuhren mit vollem Zeug was die Kiste hergab, Richtung südost. Das Boot lag fast quer zum Wasser, ihre Crew hing backbord weit nach außen, um genügend Gegengewicht zu machen.
An der Kimm tauchte eine Flotte Trawler auf, in deren Gehege sie ohne Richtungsänderung, kommen würden. Charlie die mit großer Anstrengung die Pinne kontrollierte, spitzte die Lippen und produzierte einen Pfiff, gegen den brausenden Wind. Der ihr nächste Mann richtete sich vorsichtig auf, sie deutete mit den Kopf auf die kleine Trawlerflotte. Er kapierte sofort, reffte mit seinem Nebenmann das Großsegel, um Fahrt aus dem Boot zu nehmen. Langsam richtete das Schiff sich auf, die Crew kam zurück an Bord und sie drehten weg von den Sardinenfängern.
Aus der Richtung in die sie sich bewegt hatten, schossen tiefhängende Wolkenfetzen, mit dem immer wilder werdenden Wind über die See. Charlie verständigte sich mit dem Vormann ihrer Crew, der nach Land hin wies, was ab in den Hafen bedeutete. Den Schub des Sturms nutzend, lief sie in großem Bogen auf Land zu, als an Steuerbord ein rote Rakete hochstieg. Gleichzeitig ein Schrei hinter ihr: „Eine Wasserhose, nein, ein Kawenzmann und dann strudelndes, brüllendes, brausendes Wasser. Sie klammerte sich an die Pinne, hörte Schreie, wurde fortgerissen, um sämtliche Körperachsen gedreht, hochgeschleudert, in die Tiefe gestaucht, tausend Sterne explodierten ihr im Kopf. Lebe ich, dachte sie, ja doch, ein Schmerz, besonders im Kopf brummte wahnsinnig.
Als sie wieder Luft bekam, trieb sie in ihrer Schwimmweste hängend, auf dem Kamm einer Welle, von dem sie zu Tal rutschte, schneller und schneller, um unten angekommen, sogleich, wie mit dem Aufzug, auf den nächsten Kamm geschoben zu werden.
Dort angekommen, versuchte sie durch geschicktes Paddeln, lange genug oben zu bleiben um sich umzusehen. Nicht allzuweit seitab, machte sie die Trawler aus, die ihre liebe Not mit dem tobsüchtig um sich schlagenden Meer hatten. Schnell rutschte sie runter, das ging munter so weiter, rauf und runter, mal behäbig, mal quick und quirlig, das Wasser war warm, Unterkühlung nicht so schnell zu befürchten. Von den Männern und ihrem Boot keine Spur. Vielleicht war sie allein von der Riesenwelle weggespült worden, das Boot unterwegs zum Hafen. Irgendwann fiel ihr die Schwimmweste ein, ich scheine die aktiviert zu haben, sonst hätte das Ding sich nicht aufgeblasen, dann muss auch die rote Leuchte brennen. Sicher werde ich schon gesucht, träumte sie vor sich hin und sah sich auf dem Rasen hinter dem Elternhaus, in einer Wiege liegen. Die Mutter beugte sich über sie und fragte, wer sie da so böse am Kopf erwischt habe. Sieht schlimmer aus als es ist, tröstete die Mama, wird bald heilen, wieg dich weiter, rauf und runter, runter und rauf!
Stopp Charlie, so geht das nicht weiter! Herrschte sie sich an. Fürchte dich! Fürchte dich vor dem Hai, dem Sturm, egal wo vor, doch fürchte dich. Hinter dir lauert der Tod, die Wiege, die Mama, Elternhaus und Rasen, alles der Tod. Kämpfe! Tröste dich nicht! Auch 21° warmes Wasser tötet mit der Zeit! Deine Träume deuten auf Unterkühlung, strample mit den Beinen, rudere auf die Trawler zu, die sehen dich nicht, haben im Moment besseres zu tun. Los vorwärts! Die Trawler haben riesige Schleppnetze ausgelegt, finde eins, lass dich fangen!
Charlie tat, was sie sich befahl. Sie ruderte, strampelte, versuchte die Fischer im Auge zu behalten, machte sich klar, noch bei Tageslicht musste sie ein Netz finden, die Nacht war der Tod. Plötzlich stand Felix vor ihr. Ihr Felix den sie morgen in Paris treffen wollte. Merde, Felix Liebster, ich bin unterwegs zu den Fischen. Aber ich werde kämpfen, abholen werde ich dich nicht, aber an Bord eines der Trawler, werde ich es schaffen. Warum auch nicht, all die Fische die nicht hin wollen, landen auch dort. Und ich, die nichts sehnlicher wünscht, als ins Netz zu gehen, soll das nicht schaffen? Da lachen ja die Hühner, quatsch die Fische!
Sie paddelte mit den Armen, strampelte mit den Beinen, sprach mit Felix, flüsterte ihm von ihrer Liebe ins Ohr, ließ ihn aber nicht antworten. Felix! Sie schrie so laut, dass es trotz des Höllenlärms um sie herum, in ihren Ohren gellte: Felix antworte nicht! Sonst glaub ich, du bist der Tod. Etwas kroch herum in ihrem Brummschädel, klopfte von innen an die Schädelwand, schabte mit feinem Finger, bereitete irren Schmerz. Was geschieht mir, mir, mir? Lebe ich noch, ist der Mann da auf der Welle, Felix? Was tut der da, war doch in Afrika, war nicht im Boot, als die Welle kam.
Plötzlich zog etwas an ihr, zog durch die Wellen durch, einfach durch, nicht rauf, nicht runter, durch. Sie schluckte Wasser spuckte, hustete, das tat weh an den Fingern, was soll das? Da begriff sie, wurde wach, hellwach, tastete nach der Hand mit den schmerzenden Fingern, ein Netz, das Netz! Sie hackte die Finger der rechten Hand in die Maschen, das tat den Fingern der linken gut. Zu sehen war nichts, Luft musste sie kriegen, das Netz hing verdammt tief. Immer wieder ging’s durch ein Wellental, der Moment nach Luft zu schnappen, dann haushalten mit der Luft, nicht bewegen, nur auf die nächste Atemgelegenheit spannen. So ging das unendlich immer weiter, halbtot, kaum mehr lebendig, krallte sie sich in die Maschen, kotzte, spie und glaubte fast nicht mehr an Rettung, als etwas in ihrem Schädel zu pochen begann.
Tuck, tuck, tuck, tuck tuck. Sie ahmte das tuck nach, dachte tuck tuck tuck, aber das Geräusch überholte sie, wurde lauter, wollte nicht enden und sie begriff: Ein Trawlermotor, sie war dicht bei einem Fischerboot, und es ging aufwärts, hoch, heraus aus dem Wasser. Ein Licht stach ihr in die Augen, Sprache, es wurde gesprochen, sie horchte, verstand nichts. Arme hoben sie hoch, ist das jetzt der Tod? Das Wort Tod schwamm durch ihr Denken, anstrengen Charlie, murmelte sie, und zuckte mit Armen und Beinen. Was ist das, sie stand Kopf, ja ich stehe Kopf! Zirkus, der alte Akrobat hatte auf dem Kopf stehend, die Liedchen gesungen, die wir Kinder ihm zuriefen. Ha, das Wasser sprudelt, ich bin eine Quelle oder was bin ich, bin, bin, bin.
Sie wurde in einer engen Koje wach, als sie durch das schummrige Tageslicht blinzelte, das durch ein winziges Bullauge fiel, sah sie auf dem Tisch ihre Klamotten ausgebreitet. Sie tastete nach ihrem Körper, der in einem viel zu großen, gelbrosa gestreiften Flanellnachthemd steckte. Ihr Kopf, sie hatte ihn nur ein wenig bewegt, schmerzte höllisch. Vorsichtig befühlte sie ihren Schädel, da war nur dicker Verband, getränkt mit einem Desinfektionsmittel, nach dem die ganze, winzige Kajütte stank.
Sie ließ sich zurücksinken und stellte fest: Ich lebe! War verdammt haarscharf, das Netz hat mich gerettet, wie ich mich da eingehakt habe, keine Ahnung. Jetzt erst bemerkte sie ihre verbundenen Finger. O Charlie dachte sie, und gleichzeitig, o Felix, ich freu mich so auf das Leben, vielleicht ja mit dir. Das Meer hat mich ausgespuckt, könnte sein, es hatte ein Einsehn mit uns. Ist lebendig der Ozean, so lebendig wie wir Felix, für uns nicht auszuloten, hat nichts mit Glauben zu tun, ist so.
Felix wird erschrecken, er rechnet damit, dass ich ihn abhole. Er wird bei Onkel Sascha oder dem Bon Voyage anrufen. Werden die ihm sagen, Charlie ist auf dem Meer geblieben, im Meer ertrunken? Früher sagten die Leute so: Auf dem Meer geblieben. Quatsch die Leute, meine Groß und Ur, Ur, Urgroßmutter haben das gesagt, wie sie auch sagten, im Felde geblieben, wenn einer der Männer, im Krieg ermordet worden war. Die Gesichter in die Schürzen versteckt, haben sie ihre Söhne, Brüder, Männer und Liebsten, beweint.
Kann ich aufstehen? Sie versuchte sich aufzurichten, doch der Schmerz im Kopf, zwang sie zurück auf das Kissen. Jetzt half nur warten und schlafen, damit das Warten schneller verging. Die Fischer würden sich schon um sie kümmern, sobald sie Zeit dazu hatten. Die mussten Fische ernten, solange genug Treibstoff im Tank war.